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MANGA/209: Japanische Comics - Ein kurzer Abriß


Mangas




Japanisch inspirierte Comics haben in den westlichen Ländern einen regelrechten Eroberungsfeldzug angetreten und sind immer häufiger an Kiosken und in Comic-Läden zu finden - Grund genug, die Herkunft, Entstehungsgeschichte und spezifischen Merkmale der japanischen Comics, dort "Mangas" genannt, einmal näher zu betrachten.

Viele Jahre lang führte die japanische Comic-Kultur ein Eigenleben, nahezu unberührt von den Einflüssen der westlichen Welt. Im Zuge der besonders in den letzten drei Jahrzehnten stark angewachsenen gegenseitigen Beeinflussung westlicher und östlicher Kulturkreise wurden auch die japanischen Comics für den westlichen Markt entdeckt. Inzwischen hat der Leser eine beachtliche Auswahl an Material.

In Japan hat man ein völlig anderes Verhältnis zu Comics als im Westen; hier gelten sie als eigenständige Form der Unterhaltung und nicht als niedere Abkömmlinge von Literatur und Bildkunst. Comic-Lesen gilt in Japan - auch für Erwachsene - als angemessene Form, sich zu unterhalten und wird in gewaltigem Ausmaß praktiziert. Die wöchentliche Gesamtauflage der mehr als 300 Comic-Magazine überschreitet die Milliardengrenze, das größte Magazin, "Shonen Jump", erscheint zum Beispiel in fünf Millionen Exemplaren.

Der typische japanische Comic ist ein kurzlebiges, in Fließbandarbeit hergestelltes Massenprodukt, leicht verständlich und schnell lesbar, zumeist von hoher zeichnerischer Qualität. Vor allem fällt auf, daß japanische Comics sehr lang sind. Die zunächst als Fortsetzungsgeschichten in bis zu 400 Seiten starken Comic-Magazinen erscheinenden Storys umfassen in ihrer Gesamtausgabe manchmal mehrere tausend Seiten. Die Lesegeschwindigkeit der japanischen Comic-Fans ist entsprechend schnell: Eine Seite soll der Leser im Durchschnitt in drei Sekunden erfassen, so daß es möglich ist, ein 300-Seiten-Magazin in der Mittagspause zu bewältigen. In Japan besteht übrigens nicht das im Westen übliche Mißverhältnis von männlichen und weiblichen Comic-Konsumenten. Für Mädchen gibt es spezielle "Shojo-Mangas", die überwiegend Liebesgeschichten enthalten.

Die enorme Länge der japanischen Comics kommt zum großen Teil durch oft mehrere Dutzend Panels umfassende szenische Darstellungen zustande, die Stimmung und Atmosphäre eines Ortes vermitteln. In diesen eher filmischen Einstellungen setzt sich der Leser - im Unterschied zu den üblicherweise verwendeten Übergängen von einer Aktion zur anderen - einen Augenblick aus mehreren, jeweils einen Teilaspekt zeigenden, aufeinanderfolgenden Bildern zusammen. Für solche, eher ruhigen und platzintensiven Darstellungen ist in den höchstens auf 60 bis 80 Seiten angelegten Comic-Alben westlicher Machart kein Raum.

Die Gründe für diese unterschiedlichen Geschmäcker sind wohl in der jeweiligen Mentalität und Kultur zu finden. Die westliche, "zielstrebige" Mentalität erwartet eher schnelle Ergebnisse als jemand, der der östlichen Kultur verbunden ist.

Die japanischen Comics können, ebenso wie die westlichen, auf eine lange Herkunftsgeschichte zurückblicken. Auch darüber, was die ersten Vertreter ihrer Art waren, herrscht unter den jeweiligen Experten die gleiche Uneinigkeit. Genau wie bei den westlichen Comics fällt die Frage, was denn nun die "ersten" Mangas waren, unterschiedlich aus.

Die ersten Ursprünge der Mangas sehen manche Fachleute in frühen Drucken aus der Heian-Epoche (794 - 1185). Auf diesen Drucken sind populäre Themen, wie Gedenktage und Feste des Jahresablaufs oder Kämpfe zwischen Mensch und Tier dargestellt worden. Andere sehen diese Ursprünge bzw. frühen Formen der japanischen Comics in den "Ukio-e", die erotische Inhalte zum Thema haben. Das Wort "Manga" selbst, das übrigens eine Zusammensetzung aus den Lauten "man" - launisch - und "ga" - Zeichnung - ist, wurde erstmals von dem japanischen Künstler Katsuhika Hokusai (1760 - 1849) verwendet, der unter dem Titel "Hokusai Manga" eine Sammlung seiner Karikaturen herausgab.

Da Mangas, ebenso wie Comics, per Definition als Massenkommunikationsmittel gelten, setzt man auch für Japan mit dem Erscheinen der ersten Mangas in Zeitungen ihre offizielle Geburtsstunde an. Dem westlichen Einfluß schreibt man hierbei eine große Bedeutung zu: "The Japan Punch", ein unter der Leitung des Engländers Charles Wirgman publiziertes satirisches Blatt, das sich an in Japan lebende Menschen aus der westlichen Welt richtete, gilt als Vorläufer der späteren Flut von japanischen Zeitungsmangas. Die Anfänge dieser Zeitung, in der unter anderem Karikaturen und Bildergeschichten veröffentlicht wurden, lagen gegen Ende des 19. Jahrhunderts, eine Zeit in der Japan gerade begann, sich sowohl wirtschaftlich als auch kulturell dem Abendland zu öffnen. Auch die satirische Zeitschrift des Franzosen George Bigot, die in der Zeit von 1882 bis 1900 herausgebracht wurde, soll die japanischen Zeichner stark beeinflußt haben.

Die ersten rein japanischen Blätter, die Mangas publizierten und unter diesem westlichem Einfluß entstanden sind, waren "Tokyo Puck" des japanischen Zeichners Rakuten Kitazawa und das ab 1914 produzierte Magazin "Shonen Club" des Kodansha-Verlages. Hierbei handelte es sich um ein monatlich erscheinendes Heft für Kinder, das eine Mischung aus Comics und redaktionellen Beiträgen enthielt. Wie in Amerika fanden in dieser Zeit Mangas über Tageszeitungen und Wochenendbeilagen eine rasche und schnelle Verbreitung.

Nach dem 2. Weltkrieg entstand der "moderne" japanische Comic, der vor allem von den Zeichnern Machiko Hasegawa und Osamu Tezuka geprägt wurde. Hasegawa schuf einen täglich erscheinenden Strip, um ein ganz normales japanisches Ehepaar namens Fugata, der über viele Jahre hinweg großen Erfolg auf dem japanischen Markt hatte; Tezuka, dessen Figuren Jungle Tatei (Kimba, der weiße Löwe) und Tetsuwan Atom (Astroboy) auch im Westen größere Beachtung fanden, wirkte sowohl in technischer als auch in stilistischer Hinsicht als Vorbild für eine neue Zeichnergeneration.

Eines der Hauptmerkmale von Figuren aus modernen japanischen Comics - die riesigen, glänzenden Augen, die manchmal fast die Hälfte des Gesichtes einzunehmen scheinen - kommt übrigens daher, daß die Japaner keine Schlitzaugen leiden mögen. Deshalb haben in den Mangas auch nur Bösewichter diese Augenform. Diese geschmackliche Angleichung an westliche Schönheitsideale fand erst mit der zunehmenden Orientierung an den Westen statt, denn in älteren Bildergeschichten findet man sie noch nicht.

Während im Westen, ausgehend von Amerika, in den 50er Jahren eine Phase der Einschränkungen durch den Comics-Code (Zensur durch eine Art "freiwillige" Selbstkontrolle der Verleger) begann, von dem sich die Branche in der Folge nur allmählich wieder erholte, fand in Japan in dieser Zeit ein enormer Aufschwung statt. Die Kindermagazine erhöhten Umfang und Auflage, erfolgreiche Serien wurden als Taschenbücher nachgedruckt, die ersten wöchentlich erscheinenden Manga-Magazine kamen auf den Markt. Der wöchentliche Erscheinungsrhythmus führte zu einem weiteren Wachstum der Comic-Produktion, da er auch die Zeichner zu erhöhter Produktivität zwang. Schon bald war die Palette der angebotenen Genres von einer erstaunlichen Bandbreite: Von den beliebten Science-Fiction- und Horror-Geschichten reichte sie über Yakuza- (japanische Mafia) und erotische Geschichten bis zu Sport, Historie und Ausflüge in Umsetzungen von klassischer Literatur.


Heute sind 30 Prozent der japanischen Druckerzeugnisse Comics, eine Zahl, über deren Höhe man sich im Westen oft wundert. Wenn man allerdings bedenkt, daß sich in Japan die Schrift aus einer Bildsprache heraus entwickelt hat, während wir eine reine Lautschrift verwenden, kann man sich vielleicht vorstellen, daß man dort ein ganz anderes kulturelles Erbe vorfindet. Als Folge dieses Erbes hat man in Japan auch einen ganz anderen Zugang zu Bildern und zu Bildern mit Texten, deren Zusammenhänge westlichen Betrachtern zum Teil verschlossen bleiben, weshalb man sie oftmals auch als "fremd" empfindet. Vor diesem Hintergrund kann man auch verstehen, warum man in Japan nicht das Problem hat, Comics als "verarmte" Abart von Literatur und Kunst zu sehen - Comics sind in Japan eine eigenständige Ausdrucksform wie die Schrift.