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PORTRAIT/011: "Hergé" - Zeichner von "Tim und Struppi" (SB)


Hergé


Der 1983 verstorbene Hergé, mit bürgerlichem Namen Georges Remi, gilt als einer der bedeutendsten Comic-Zeichner Europas. Er gestaltete die wohl wichtigste und erfolgreichste europäische Comic-Serie, "Tintin", bei uns als "Tim und Struppi" bekannt, und prägte mit der "Ligne claire" (klare Linie) eine Stilrichtung, die von vielen Zeichnern aufgegriffen wurde und maßgeblichen Einfluß auf einen großen Zweig der Comic-Erzählkunst ausübte. Heute wäre er 100 Jahre alt geworden.

Am 22.5.1907 wurde Georges Remi in Etterbeck in der Nähe von Brüssel geboren. Wie viele, die das Zeichnen später zu ihrem Beruf machten, interessierte auch er sich schon seit seiner Kindheit dafür. "Illustrierte" Schulbücher und -hefte waren die frühen Zeugnisse seiner zeichnerischen Bemühungen. Doch schon ab 1923, im Alter von 16 Jahren, bekam er Aufträge von verschiedenen Zeitschriften, für die er Illustrationen anfertigte. Seinen ersten Comic, "Totor", zeichnete Georges Remi 1926.

Nachdem er die Schule beendet und seine Militärzeit abgeleistet hatte, arbeitete Remi als Illustrator und Foto-Assistent bei der katholisch-konservativen Tageszeitung "Le Vingtième Siècle". Von dieser Zeitung erhielt er 1928 auch seinen ersten großen Auftrag, die Gestaltung einer Bildergeschichte für die wöchentliche Jugendbeilage "Le Petit Vingtième". Während der ersten Wochen zeichnete er Kurzgeschichten, die einer der Redakteure sich ausgedacht hatte. Sie kamen bei den jugendlichen Lesern allerdings nicht gut an. Daraufhin entwickelte "Hergé", wie er sich damals schon nannte, eine eigene Figur - "Tintin" war geboren. Ihren ersten Auftritt hatten der junge, unternehmungslustige Reporter Tintin (Tim) und sein Hund Milou (Struppi) am 10.1.1929, genau drei Tage nach dem Erscheinen der ersten realistischen Abenteuer-Comics in Amerika, "Tarzan" und "Buck Rogers".

Abenteuerliche Reisen in aller Herren Länder sollten sie unternehmen, das war das Konzept der neuen Serie. Ihre erste Reise führte Tim und Struppi in die Sowjetunion ("Tim im Lande der Sowjets"). Die beiden fanden beim Publikum sofort so großen Anklang, daß man zu Tim und Struppis "Rückkehr" nach etlichen Wochenbeilagen einen Jungen und einen weißen Foxterrier engagierte, die am Brüsseler Bahnhof von einer großen Menschenmenge erwartet und stürmisch begrüßt wurden.

Die nächsten Episoden spielten unter anderem im Kongo, in Ägypten, Tibet oder der Wüste Sahara, Schauplätze, die zur damaligen Zeit noch wesentlich exotischer waren als heutzutage. Das erhöhte die Beliebtheit der Abenteuer natürlich, zumal Hergé als äußerst gewissenhafter Arbeiter seine Geschichten von Mal zu Mal gründlicher recherchierte und so dem Leser zusätzlich realistische Hintergrundinformationen vermittelte. So war auch Tims Mondlandung, die Anfang der 50er Jahre erschien, eine wissenschaftlich fundierte Utopie, die der echten Mondlandung 1969 einiges vorwegnahm.

Schon ab 1930 erschienen die schwarzweiß gehaltenen Einzelfolgen auch als Nachdrucke in Alben von etwa 120 Seiten Umfang. Während des 2. Weltkriegs bekam Hergé von einem belgischen Verlag das Angebot, seine Alben, wegen der Papierknappheit zwar auf 62 Seiten gekürzt, aber dafür in Farbe, anzulegen. Hergé zeichnete alle bisher erschienenen "Tim und Struppi"-Abenteuer noch einmal vollständig neu. Überhaupt ließ er stets eine ungewöhnlich hohe Sorgfalt walten, indem er beispielsweise seine Geschichten mit jeder Auflage aktualisierte. Er variierte Kleinigkeiten wie Farbtöne, korrigierte Autos nach ihrem jeweils gängigen Erscheinungsbild oder änderte den Ablauf kleinerer Szenen, je nachdem, für welchen Sprachraum die Neuauflage vorgesehen war. Von vielen seiner Alben existieren zahlreiche - von Sammlern heißbegehrte - unterschiedliche Auflagen, die sich in kleinen Details unterscheiden. Hergé erfand noch weitere Figuren, "Quick et Flupke", "Popol und Virginie" und "Jo & Zette", die er aber später wieder aufgab, da er sich ausschließlich seiner Serie "Tim und Struppi" widmen wollte.

1946 wurde Tintin zur Titelfigur eines wöchentlich erscheinenden Comic-Magazins für Jugendliche, das zu einem der wichtigsten Magazine im französischen Sprachraum wurde und viele neue Zeichner und Serien veröffentlichte.

1950 gründete Georges Remi die "Studios Hergé", in denen berühmte Comic-Zeichner und -Autoren wie Edgar-Pierre-Jacobs ("Blake und Mortimer") oder Bob de Moor arbeiteten. Von hier aus verbreitete sich auch die Stilrichtung, die Hergé geprägt hatte und die 1976 anläßlich einer "Tim und Struppi"-Ausstellung in Rotterdam mit dem Begriff "Ligne claire" beschrieben wurde, unter den Zeichnern der sogenannten "francobelgischen Schule". Die "Ligne claire" umfaßt nicht nur die visuelle Darstellung, sondern bedeutet auch eine bestimmte, geradlinige, dabei aber keineswegs "simple" Auffassung des Erzählstils, die mit der Klarheit und Übersichtlichkeit der Darstellung harmoniert. Da Lesbarkeit und Transparenz an erster Stelle stehen, bleiben auch komplexe Inhalte überschaubar.

Tim, der junge, weltoffene und vielseitig interessierte Reporter, der gerne seine Spürnase in verzwickte Angelegenheiten steckt und dabei oft genug in eine "große Sache" reinrutscht, weckt die Sympathien, obwohl - oder gerade weil - er recht vereinfacht dargestellt ist. Diese Methode, die Figur des Helden betont einfach und cartoonhaft darzustellen - im Kontrast zur realistischen Ausgestaltung des Hintergrundes - erhöht die Bereitschaft des Lesers zur Identifikation. Er sieht "durch die Figur hindurch", die möglichst wenig optische "Anhaltspunkte" bietet, und erlebt gewissermaßen selbst in der Rolle des Handelnden die Abenteuer - ein in der Schule der "Ligne claire" gerne verwendetes Stilmittel, das bei "Tim und Struppi" seine Wirkung nicht verfehlt.

Ab Mitte der 70er Jahre griff eine ganze Generation von Comic- Zeichnern den Stil Hergés erneut auf, die "Nouvelle Ligne claire" entstand. Hergé, der sich in späteren Jahren immer mehr für die Gegenwartskunst interessierte, kündigte gegen Ende der 70er Jahre an, daß er an einem neuen "Tim und Struppi-Album" arbeitete, welches im Bereich der Modernen Kunst spielte. Dieses Album blieb unvollendet. Georges Remi verstarb unerwartet in der Nacht vom 3. auf den 4. März 1983. Sein plötzlicher Tod bedeutete auch das Ende neuer Abenteuer von "Tim und Struppi" und ihren Freunden, dem fluchenden Rauhbein Kapitän Haddock, dem zerstreuten Professor Bienlein und vielen anderen Figuren. Sein letztes Album "Tim und die Alpha-Kunst" sollte zunächst von Bob de Moor fertiggestellt werden, erschien dann aber 1986 unvollendet.

22. Mai 2007