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SPRACHE/490: Italienisch - Die "Rettung" der zweiten Sprache (idw)


Universität Potsdam - 22.08.2007

Die "Rettung" der zweiten Sprache

Prof. Dr. Thomas Stehl von der Universität Potsdam untersucht italienische Dialekte


Bereits seit 1973 beschäftigt sich der Romanist Thomas Stehl mit dem Sprachkontakt und dem Verhältnis von Dialekt und Hochsprache. So führt der Professor für Romanische Philologie/Sprachwissenschaft an der Universität Potsdam seit 35 Jahren, dabei mehrfach mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Untersuchungen zu Sprachvariation und Sprachwandel durch. Dafür besucht er mindestens einmal im Jahr Canosa di Puglia und benachbarte Orte in Apulien. Die über 2.500 Jahre alte italienische Stadt Canosa di Puglia hat über 30.000 Einwohner, ist eine der ältesten Städte Apuliens und in aller Welt für ihre archäologischen Schätze bekannt. Die Stadt ist auch deshalb für Thomas Stehl von Interesse, weil sie an der Grenzlinie zwischen zwei größeren Dialektgebieten angesiedelt ist. Vor Ort führt der Wissenschaftler Sprachaufnahmen durch. Dem Linguisten kommt zugute, dass er diese Ortssprache aktiv beherrscht und so im Laufe der Jahre zum Mitglied der örtlichen Sprachgemeinschaft geworden ist. Um authentische Forschungsergebnisse zu erzielen, führt Thomas Stehl Interviews mit Familien möglichst mehrerer Generationen, mit Großeltern, Eltern und Kindern durch. Dabei will er Veränderungen der sprachlichen Bewertungsmuster und damit des Sprachgebrauchs von Dialekt und Standard herausfinden. Im Rahmen seiner jahrzehntelangen empirischen sprachwissenschaftlichen Untersuchungen erkundet er so nicht nur mundartliche Sprachgrenzen, sondern ebenso soziolinguistische Grenzen und Übergänge. In der Situation der Zweisprachigkeit von Ortssprache und Hochsprache lässt sich für ihn nicht nur die "Linguistik der Sprache", sondern vermehrt auch die "Linguistik des Sprechens" besonders gut untersuchen. Die Hochsprache, beispielsweise das Italienische, nimmt nach und nach sprachliche Elemente der ursprünglichen Dialekte auf, die sich im Laufe der Zeit so stabilisieren, dass in der Hochsprache selbst neue, regionale Dialekte entstehen.

Bei seinen Untersuchungen in Süditalien interessiert den Romanisten beispielsweise die sprachliche Ausstrahlung der Regionalhauptstadt Bari und die Dynamik zwischen Dialekt und Hochsprache, die sich im Laufe der Jahre entwickelt hat. In dieser sozialen Zweisprachigkeit hat der Dialekt das mindere und die Hochsprache das höhere Prestige inne. Andererseits beinhaltet der Dialekt ein hohes Identifikationspotenzial: Seine Verwendung drückt die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft aus. Daraus ergeben sich für den Sprachwissenschaftler wichtige Aspekte bezüglich der Sprachvariation, zeigen sich Phänomene des Sprachwandels. Einerseits wird der Dialekt durch die Zweisprachigkeit ausgehöhlt, und andererseits nimmt das regional gesprochene Italienisch Elemente des Dialektes auf. Wenn der Zeitpunkt auch offen ist, so wird doch der ursprüngliche Dialekt auf lange Sicht aufgegeben werden. Dennoch besteht ein kollektives Bedürfnis, den Dialekt zu erhalten. Das zeigt sich beispielsweise auch darin, dass Thomas Stehl quasi eine Katalysator-Funktion übertragen wurde. Er bringt den Dialekt der italienischen Stadt in Schriftform.

Der Wissenschaftler erstellt ein vollständiges System der Verschriftung, nach dem sich jeder richten kann. Der Dialekt kann auf diese Weise "konserviert" werden. So erhält die Ortssprache eine Überlebenschance, auch wenn der Zug der Zeit damit letztlich nicht aufgehalten werden kann. Durch eine Verschriftung erfährt die Ortssprache zwar keine Ausbreitung, kann jedoch am Ort selbst und in der städtischen Sprachgemeinschaft in ihrer ursprünglichen Form überleben.

Anfang des Jahres 2007 hat Thomas Stehl die Resultate seiner Forschungen in Süditalien einer größeren Öffentlichkeit vorgestellt und dabei vielfältiges Interesse gefunden. Für die urbane und die regionale Sprachgemeinschaft in Süditalien sind die Arbeiten Stehls von großer Bedeutung. Kürzlich erhielt der Romanist deshalb den Kulturpreis "Premio Diomede" der Stadt Canosa di Puglia. Mit der Auszeichnung würdigt die Stadt die Verdienste des Potsdamer Romanisten in der Erforschung und Dokumentation des örtlichen, italoromanischen Dialektes und seiner Veränderungen in der Zeit. Der Kulturpreis "Premio Diomede", in der Widmung bezeichnet als "hohe Anerkennung für die Apulier, die für ihre Heimat Ehre eingelegt haben", wurde ihm als erstem Ausländer verliehen.

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/pages/de/institution156


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Universität Potsdam, Andrea Benthien, 22.08.2007
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. August 2007