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UNIVERSITÄT/017: Wie "generale" muß ein Studium sein? (attempto! - Uni Tübingen)


attempto! 28 - Mai 2010 - Forum der Universität Tübingen

Wie "generale" muss ein Studium sein?

Von Michael Seifert


Kaum haben sich die neuen straff organisierten Studiengänge etabliert, kommt gleich gehäuft die Forderung nach einem breiter angelegten Studium, nach mehr Allgemein- und Persönlichkeitsbildung. Einige Universitäten haben dafür jetzt spezielle Modelle entwickelt.


Der Journalist Jan-Martin Wiarda warf kürzlich in der Wochenzeitung DIE ZEIT den Hochschulen vor, sie würden alle in gleicher Weise auf die Kritik an der Bachelor-Reform des Studiums reagieren und nun das Heil im vierjährigen Bachelor suchen, anstatt sich "echte Innovationen" zuzutrauen, wie "ein gemeinsames, zumindest teilweise fachübergreifendes Einführungsjahr etwa". Die Idee, Allgemeinbildung ins Studium zu integrieren, scheint derzeit in der Luft zu liegen. Schon im Herbst 2009 hatte der baden-württembergische Wissenschaftsminister Peter Frankenberg vorgeschlagen: "Ich glaube, man muss die Option haben, ein Semester oder sogar zwei ein Propädeutikum studieren zu können." Nur so könne für viele überhaupt erst die Studierfähigkeit hergestellt werden. Und auch aus der Wirtschaft kommen erstaunlicherweise ähnliche Töne, so etwa vom Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer (IHK Region Stuttgart) Andreas Richter: "Wichtig ist, dass der Absolvent neben der fachlichen Kompetenz auch soziale Fähigkeiten hat. Die Studenten brauchen Raum für ein Studium Generale."

Historisch betrachtet ist das alles andere als neu. Schon im hohen Mittelalter mussten die Studenten das Programm der "sieben freien Künste" aus Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie durchlaufen, bevor sie das "eigentliche" Studium der Theologie, der Jurisprudenz oder der Medizin angehen durften.


Paradiesische Insel Leibniz Kolleg

Hunderte von Jahren später wird diese Idee im 1948 gegründeten Leibniz Kolleg an der Universität Tübingen wieder aufgegriffen, wo jährlich 53 Studierende in einem Gebäude zusammenleben und gemeinsam ein Schnupperstudium absolvieren. Dieses muss ein Studium Generale der Bereiche Naturwissenschaften, Geisteswissenschaften sowie der Rechts- und Sozialwissenschaften umfassen, wobei die Studierenden ihren Studienplan ganz nach ihren Interessen zusammenstellen können. So gewinnen sie Orientierung, finden das für sie wirklich geeignete Studienfach heraus und lernen gleichzeitig auch, aus welchen Perspektiven in verschiedenen Fächern Fragen gestellt werden: Sie denken damit schon zu Beginn ihres Fachstudiums interdisziplinär. Das Leibniz Kolleg ist in Deutschland aber nach wie vor eine Ausnahme und für viele eine paradiesische Insel in der Hochschullandschaft.

An der Universität Freiburg wurde unter dem Titel "Freiheit für das Studium - Windows for Higher Education" ein interessantes Konzept entwickelt, das in die gleiche Richtung geht. Ein Bestandteil dieses Programms, mit dem die Universität Freiburg im Bundeswettbewerb "exzellente Lehre" erfolgreich war, ist der sogenannte Individual Track (IndiTrack). Er soll qualifizierten Studierenden ermöglichen, in einem Zusatzjahr ein Studienprogramm auch über Fächergrenzen hinweg individuell zu planen und zu durchlaufen. Dieses Modell des "forschenden Studierens" bedeute nicht zwangsläufig eine Verlängerung der Studienzeit, da das kreative Zusatzjahr zwischen dem zweiten und dritten Bachelor-Jahr beim Masterstudium angerechnet werden könne - so die Freiburger Planung. Der IndiTrack ist zunächst als Pilotprojekt für besonders begabte Studierende gedacht, die sich dafür einem Auswahlverfahren stellen müssen. Er soll langfristig aber auch auf eine breitere Basis gestellt werden. Der IndiTrack, für den jetzt die organisatorischen Vorbereitungen laufen, soll im Wintersemester 2011/12 starten.

Bereits umgesetzt ist an der Leuphana Universität Lüneburg die Idee des Komplementärstudiums im sogenannten College der Leuphana. Das "College" basiert auf dem amerikanischen Modell und beinhaltet ein überfachliches Studium neben Hauptfach und Nebenfach im zeitlichen Umfang eines Nebenfaches. Es werden sechs Perspektiven angeboten, von denen die Studierenden mindestens drei auswählen müssen.


Die sechs Perspektiven des Lüneburger Komplementärstudiums "College"

1. Projekte & Praxis
2. Verstehen & Verändern: geistes-, sozial- und kulturwissenschaftlich
3. Natur & Technik: natur- und ingenieurwissenschaftlich
4. Kunst & Ästhetik: kreativ, reflexiv, diskursiv
5. Sprache & Kultur: soziolinguistisch, interkulturell
6. Methoden & Modelle: fachübergreifend, anwendungsbezogen


Vollmundig lautet das Motto: "Echter Perspektivenwechsel im Komplementärstudium: Vielfältige Weltsichten eröffnen vielschichtige Wahrheiten." Kein geringerer als Peter Sloterdijk macht sich für das Lüneburger Modell stark: "Das neue College spricht Studierende an, die mehr wollen als ein reines Fachstudium. Wer hier studiert, will Verantwortung übernehmen, einen Beitrag für die Entwicklung der Zivilgesellschaft des 21. Jahrhunderts leisten und die Zukunft mitgestalten." Bei einer Studierendenzahl von 7500 und einem Angebot von acht Haupt- und 27 Nebenfächern mag das zu organisieren und zu realisieren sein, aber an einer Massenuniversität?

Was ist mit Tübingen außerhalb des exklusiven Leibniz Kollegs? Auf breiter Basis versucht die Universität mit ihrem weitreichenden Angebot von Ringvorlesungen im Studium Generale schon seit Jahrzehnten, den Studierenden ein studienbegleitendes, Fachgrenzen überschreitendes Angebot zu machen. Die studentische Zielgruppe wird dabei allerdings vielfach nicht erreicht. Erste Ansätze, durch Leistungsnachweise in den Ringvorlesungen auch "credit points" zu vergeben, etwa im Bereich der Politikwissenschaft, scheinen vielversprechend und sollten ausgeweitet werden.

Die durch einen Rektoratsbeschluss eingeführte Option des vierjährigen Bachelors mit eingebautem Mobilitätsfenster ermöglicht den Studierenden ebenfalls ein Überschreiten der Fächergrenzen, es soll dadurch ja nicht einfach ein Jahr mehr Stoff ins Bachelor-Studium gepackt werden. Die Studierenden können selbst entscheiden, ob sie dieses Fenster für einen Auslandsaufenthalt, ein betriebliches Praktikum, zur Spezialisierung im Fach oder zu einer breiteren Ausbildung durch selbst gewählte Inhalte aus anderen Fächern nutzen wollen. In Psychologie und Physik ist das seit dem letzten Wintersemester schon möglich, weitere Fächer werden folgen.

Ein Tübinger Projekt mit Alleinstellungsmerkmal ist das "Forum Scientiarum". Es koordiniert fächerübergreifende Angebote der Fakultäten und bietet eigene Lehrveranstaltungen, vor allem zu Fragestellungen aus Philosophie, Theologie und den Naturwissenschaften. Wissenschaftler und Studierende aller Disziplinen sollen im Forum über Fächergrenzen hinweg gemeinsam an Sachthemen arbeiten. Im Zentrum steht ein einjähriges Studienkolleg zu aktuellen Fragestellungen des Dialogs zwischen den Geistes- und den Lebenswissenschaften. Teilnehmen können 25 ausgewählte Studierende aller Fächer. Die Kollegiaten durchlaufen neben ihrem jeweiligen Fachstudium ein Vortrags- und Seminarprogramm am Forum. Im Mittelpunkt stehen kleinere Forschungsprojekte, an denen sie das Jahr über in interdisziplinär zusammengesetzten Teams arbeiten.

Es ist sicher nicht Aufgabe der Hochschulen, die durch das achtjährige Gymnasium verkürzte Schulzeit durch Studienzeitverlängerung im Propädeutikum oder eine Portion Allgemeinbildung extra zu kompensieren. Aber Jan-Martin Wiarda hat recht: Intelligente, interdisziplinäre Studium Generale-Angebote von Hochschulen - zu Beginn des Studiums, begleitend zum Studium oder mitten im Studium - sind geeignet, die Bachelor-/Master-Angebote zu differenzieren und attraktiver zu machen. Hochschulen sollten dafür ihre speziellen Profile und Stärken ins Spiel bringen und Fantasie in die Entwicklung kreativer Angebote investieren. Solche Angebote können zu einem Wettbewerbsfaktor in der Hochschullandschaft werden. Und: Je mehr Universitas dabei zum Zuge kommt, desto besser! Dann wäre auch wieder leichter zu vermitteln, was die Vorteile eines Studiums an der Universität ausmacht.


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Quelle:
attempto! 28 - Mai 2010, Seite 16-17
Zeitschrift der Eberhard Karls Universität Tübingen und der
Vereinigung der Freunde der Universität Tübingen e.V.
(Universitätsbund)
Wilhelmstr. 5, 72074 Tübingen
Redaktion: Michael Seifert (verantwortlich)
Telefon: 07071/29-76789,
Telefax: 07071/29-5566
E-Mail: michael.seifert@uni-tuebingen.de
Internet: www.uni-tuebingen.de
attempto: www.uni-
tuebingen.de/aktuell/veroeffentlichungen/attempto.html

attempto! erscheint zweimal jährlich zu Semesterbeginn


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Juni 2010