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FILMKRITIK/009: The Road to Guantanamo (SB)


THE ROAD TO GUANTANAMO




Der Film von Michael Winterbottom und Mat Whitecross ist im September 2006 im Kino angelaufen, zeitgleich auf DVD erschienen und für die Ausstrahlung im Fernsehen avisiert worden. Zweieinhalb Jahre später ist dieser Film immer noch keinem breiten Publikum bekannt. Derzeit steht er bundesweit auf keinem Kinospielplan. Von September 2006 bis zum Januar dieses Jahres wurde er gezeigt. Nach Angaben der Verleihfirma FALCOM haben in dieser Zeit genau 11 874 Menschen diesen Film in deutschen Kinos gesehen. Das sind mal grob überschlagen zirka 420 Kinobesucher pro Monat, in der gesamten Bundesrepublik. In welcher Auflagenstärke die DVD erschienen ist, gibt Universumfilm nicht bekannt und ohnehin ließe sich die private Nutzung der einzelnen DVD kaum quantifizieren. Sicher ist nach Recherchen des Schattenblick, dass "The road to Guantanamo" einem breiten Fernsehpublikum in Deutschland bisher versagt blieb. (SF 2 zeigte den Film am 08.09.2008 zwischen 23.50 und 1.30 Uhr und bei ORF 2 konnten Interessierte den Film am 10.12.2008 zwischen 0.45 und 2.15 Uhr sehen.) Anders als vor zweieinhalb Jahren auf der Berlinale angekündigt - wo der Film für die beste Regie mit dem "Silbernen Bären" ausgezeichnet wurde - ist er in den großen öffentlich rechtlichen deutschen Fernsehprogrammen (ARD, ZDF, 3sat, ARTE) bisher nicht gelaufen. Eine Ausstrahlung des Films ist auch nicht geplant. Der Film ist also rechenbar ein Geheim-Tipp.

Er erzählt die Geschichte von vier jungen Männern, die in Großbritannien leben und die nach Pakistan reisen - in das Land ihrer Eltern, ihrer Herkunft - weil einer von ihnen dort heiraten will. Der Film erzählt die wahre Geschichte von Ruhel Ahmed, Asif Iqbal und Shafiq Rasul. Die drei sind als die sogenannten "Tipton Drei" (Tipton ist ihr britischer Wohnort) nach ihrer Entlassung aus dem Gefangenenlager Guantanamo 2004 bekannt geworden. Das Schicksal des vierten jungen Briten - Monir - ist bis heute ungeklärt. Der Film bebildert direkt und schnörkellos, was Asif, Ruhel und Shafiq in Interviews berichten: Sie erzählen von einer Besuchsreise nach Pakistan, von einem spontanen Abstecher nach Afghanistan - und sie erzählen, wie sie sich im Granatenhagel, mitten im Krieg, wieder finden. Der Zuschauer erfährt von ihrer vergeblichen Mühe, das umkämpfte Afghanistan wieder zu verlassen, denn sie werden verhaftet und es folgen fast vier Jahre Gefangenschaft. Anders als geplant kann Asif z.B. erst am 2.Juli 2005 endlich heiraten. Und die Jahre dazwischen festgenommen unter Terrorverdacht und mit der Dauer der Gefangenschaft das Erleiden einer Zeit der Schläge, Demütigungen, Einzelhaft und Folter in den Lagern der Nordallianz und den längeren Teil im berüchtigten US-Lager Guantanamo.

Sachlich, unaufgeregt, mit Abstand zu sich und zu den Ereignissen - so wirken die meisten Beschreibungen, Erzählungen und Schilderungen von Ruhel, Asif und Shafiq vor laufender Kamera. Die Interviews sind der Ausgangspunkt und die Basis für einen authentischen Film. Sie sind zudem eines der drei filmischen Elemente, die die Regisseure Michael Winterbottom und Mat Whitecross nutzen, um die Geschichte der Männer zu erzählen. Hinzu kommen Original-Nachrichtensequenzen, die im Wesentlichen einordnend wirken, die für die Entwicklung der Geschichte und ihre Authentizität jedoch kaum eine Bedeutung haben. Das verhält sich mit den Spielszenen anders: Vier junge Schauspieler (in den Hauptrollen: Riz Ahmed als Shafiq, Farhad Harun als Ruhel und Arfan Usman als Asif) setzen die Berichte in Szene. Sie beziehen sich auf das jeweils vorab Gesagte der jungen Männer. Die Schauspieler sind dabei bemerkenswert und nahezu durchweg glaubhaft in ihrem Spiel, in der neugierigen Freude, mit der sie nach Pakistan aufbrechen, ebenso wie in der hilflosen Ohnmacht angesichts von Kampf, Verwundung und Tod in Afghanistan. Auch das Unverständnis und die Verwirrung nach ihrer Verhaftung durch die Nordallianz, die ständig präsente Angst vor dem Tod spielen sie absolut glaubhaft und füllen die Originalschilderungen von Ruhal, Shafiq und Asif mit Wirklichkeit. Selbst das scheinbar endlose Spannungsfeld zwischen Verzweiflung und Trotz, das sich vor allem in den vielen Verhören mit wechselnden Personen, aber wiederkehrenden Fragen und Bezichtigungen entfaltet, ist so überzeugend gespielt, dass der Zuschauer die Zerreißprobe der drei jungen Männer nahezu körperlich erfährt, welche das Schwanken auslöst, das entsteht zwischen dem endlich Ruhe versprechenden, wenn auch falschen Geständnis und dem auf Aufrichtigkeit gegründeten Beharren auf dem eigenen besseren Wissen mit der Konsequenz weiterer Schmerzen und Leiden. Der Konsument, falls er eben noch im Fernsehsessel mit wutgeballter Faust erstarrte und wenig später nur mühsam den Impuls unterdrücken kann, fluchtartig den Raum zu verlassen oder den Film zu stoppen - so als ließe sich damit das schon aus der Beobachterperspektive Unerträgliche ungeschehen machen - könnte aufgerüttelt werden.

In diesem Zusammenhang - möglicherweise von den Machern unbeabsichtigt - gewinnt "The Road to Guantanamo" durch ein viertes Element an Dichte, Intensität und Qualität. Die Rede ist von der aktuellen nachrichtlichen Wirklichkeit des Themas, von den Fakten zu Guantanamo. Das Wissen zum Beispiel: da sitzen 250 Menschen immer noch in Gitterkäfigen - wie vor Jahren Asif, Ruhel und Shafiq. Politische Erklärungen hallen nach, wie etwa die Absichtserklärung des amerikanischen Präsidenten Obama, das Lager zu schließen. Am ersten Tag seiner Amtszeit erließ er ein entsprechendes Dekret: von der Schließung innerhalb eines Jahres war zunächst die Rede, inzwischen dauert es erklärtermaßen länger. Die bemühte Begründung für die fortgesetzte Freiheitsberaubung (die durch die Häufigkeit, mit der sie vorgebracht wird, nicht an Glaubwürdigkeit gewinnt): Man wisse nicht, wohin die Gefangenen entlassen, weil sie in ihren Heimatländern mit Verfolgung rechnen müssten und sich kein Land finde, das zur Aufnahme der ehemaligen und nachweislich unschuldigen Guantanamo-Gefangenen bereit sei.

Der Film zeigt, wie einer der jungen Männer kniend, die Hände zwischen den Beinen an den Boden gekettet, über Stunden mit lärmender Musik und flackerndem Licht terrorisiert wird. Zu diesen Bildern echot die Nachricht vom Folterverbot in amerikanischen Gefängnissen im Kopf, taucht ebenso schnell die Aussage Obamas auf, dass die, die gefoltert haben, etwa das sogenannte Waterboarding anwandten, um Geständnisse zu erzwingen, keine Strafverfolgung durch die US-Justiz zu fürchten haben. All diese Nachrichten sind nicht Gegenstand des Films und doch spielen sie eine Rolle - denn die Nachrichtenschlagzeilen verbinden sich mit den Filmszenen, für sich betrachtet finden sowohl Nachrichten als auch Film zu einer neuen Bewertung und in der Verknüpfung ergeben sich derart viele Fragen, die von kaum einer in Anspruch genommenen journalistischen Enthüllung bisher gestreift sein dürften, so dass der Schluss: Gut, dass es diesen Film gibt - geradezu zwangsläufig ist. Auch und gerade weil es die Momente gibt, in denen die Geschichte verwirrender ist als das Verständnis des Betrachters groß, die Reise dieser jungen Männer Anfang 20 ist nicht logisch, läuft nicht nach Spielfilm-Plan, manches Detail ihrer Reise mag dem Zuschauer, so wie es erzählt und gezeigt wird, absurd erscheinen. Die Filmemacher unternehmen nicht den Versuch, zugunsten einer angenommenen Betrachter-Logik oder bestimmter Sehgewohnheiten zu glätten, das, was die jungen Männer erzählen über ihre Reisestationen und ihre Motive, in ein Drehbuch zu pressen, das besser zum Kinoplüsch passt. So bleibt dem distanzierten westlichen Publikum mit Sicherheit auch nach Ende des Films die Frage erhalten: Warum sind die Vier denn nach Afghanistan gefahren? Diese baut sich sogleich zur Abwehr und schließlich zur Bezichtigung aus: Die hätten doch wissen müssen, was in Afghanistan los ist, auch dass sie in Verdacht geraten könnten, Terroristen zu sein. (Genauso wie bekanntermaßen jeder Last-Minute-Mallorca-Tourist im Verdacht steht, Alkoholiker zu sein und auf der Ferieninsel erst nach vorherigem Atemalkoholtest einen Mietwagen-Vertrag unterschreiben darf? Oder wie jeder allein reisende Europäer in Thailand schon bei der Ankunft am Flughafen wegen des Verdachts des möglichen Kindesmissbrauchs verhaftet wird?)

Der gleichen Abwehrstrategie entspringt der Vorwurf an die Regisseure, sie hätten auf die Gegenrecherche verzichtet, doch der greift ins Leere. Es war - so sagt Regisseur Michael Winterbottom auch auf der Berlinale-Pressekonferenz (Ausschnitte daraus zählen zum bescheidenen Bonusmaterial der DVD) - die alleinige Absicht des Films, die Geschichte von Ruhel, Asif und Shafiq zu erzählen, aus ihrer Perspektive. Und diese Absicht verfolgt er konsequent, auch mit der entsprechenden Kameraführung. So sieht der Zuschauer die Soldaten der Nordallianz oder der US-Army kaum frontal und in Lebensgröße - eine Perspektive, die den Gefangenen durchweg versagt ist, sie müssen nach unten blicken, dürfen ihren Bewachern nicht in die Augen schauen. Die Auseinandersetzung mit dieser und anderen erniedrigenden Erfahrungen ersparen die Macher von "The Road to Guantanamo" dem Publikum ihres Films nicht, weder durch den Schein einer Objektivität, die sich auf Gegenrecherche stützt noch auf andere Weise. So weisen die vermeintlichen Schwächen des Film zweifelsfrei auch auf seine Stärke hin: Er bezieht Position und behält sie bei!

Der Film verdient uneingeschränkt das Prädikat sehenswert. Jedenfalls für all jene, die sich mit Nachrichten und ihrem reduzierten Wesen nicht zufrieden geben mögen und denen der Sinn nicht ausschließlich nach leicht verdaulichen popcornseeligen Stunden im bequemen Kinoplüsch steht.

27. April 2009


THE ROAD TO GUANTANAMO
Verlag: Universum Film GmbH, 81673 München;
Auflage: keine Angaben
Laufzeit: 92 Minuten
Altersfreigabe: 12 Jahre
Kinostart: 21.09.06
Verleih: FALCOM