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FILMKRITIK/012: Bittere Kirschen - ein surreal-reales Roadmovie (SB)


Bittere Kirschen - ein surreal-reales Roadmovie


Ein Film von Didi Danquart nach dem Roman "Lenas Liebe" von Judith Kuckart



Der Film "Bittere Kirschen" von Didi Danquart erzählt die Geschichte von drei Menschen, die sich auf der Suche nach Antworten und einem Sinn in ihrem Leben begegnen. Gemeinsam und doch jeder auch für sich allein und am anderen vorbei bemühen sie sich, ihrer und der Vergangenheit ihrer Eltern auf die Spur zu kommen. Es geht um Einsamkeit, Selbstfindung, Freundschaft, Schuld, Zweifel, Hoffnungen, Träume und Sehnsüchte und auch um die Frage, was Menschen angesichts des Todes bewegt und was bleibt, wenn man stirbt.

Foto: Filmplakat 'Bittere Kirschen'

Foto: Filmplakat "Bittere Kirschen"

Der Plot ist schnell erzählt, bereitet den Zuschauer dieses 107-minütigen Films jedoch nicht wirklich auf das, was ihn erwartet, vor. Denn der Film, der auf dem 2002 erschienenen Roman "Lenas Liebe" von Judith Kuckart beruht, lebt weniger von der Geschichte, sondern in erster Linie von der einfühlsamen und mit filmischen Mitteln gekonnt in Szene gesetzten Innenschau der Protagonisten.

Die Schauspielerin Lena ist in der Mitte des Lebens angekommen. Als sie während einer Standpauke ihres Regisseurs per Handy vom Tod ihrer Mutter erfährt, kehrt sie dem Theater den Rücken. Sie fährt zur Beerdigung zurück in ihr altes Heimatdorf. Dort mietet sie ein Zimmer bei Julius Dahlmann, einem kauzigen alten Freund der Mutter aus Kindertagen.

Bei einem Treffen mit ihrem Freund Ludwig lehnt sie dessen Heiratsantrag ab. In ihrer momentanen Verfassung kann und will sie nicht bei ihm in der Enge des kleinen Ortes bleiben.

Auf der Suche nach Antworten auf Fragen, die mit der gemeinsamen Vergangenheit Dahlmanns und ihrer Mutter zusammenhängen, begibt Lena sich auf eine Spurensuche, die sie zunächst nach Auschwitz führt. Zeitgleich macht sich auch Julius Dahlmann auf den Weg nach Polen, wo er in seiner Kindheit bis 1944 in Auschwitz gelebt hat, dort, "wo alles angefangen hat", und wo er jetzt seinen Freund, einen katholischen Priester, besucht.

Wie die Romanvorlage vorsieht, treffen die drei in Auschwitz aufeinander und beschließen, ihre Reise durch Polen gemeinsam fortzusetzen.

Im Auto auf der Fahrt durch Polen - Foto: Filmstill Bittere Kirschen - © Noir Filmproduktion 2010

v. lks: Martin Lüttge als Julius Dahlmann, Wolfram Koch als Priester, Anna Stieblich als Lena Behsler
Foto: Filmstill Bittere Kirschen, © Noir Filmproduktion 2010

Der Film zeichnet sich durch viele kleine, verschachtelte Episoden aus, in denen die persönlichen Geschichten der Hauptfiguren erzählt werden. Dabei tun sich schon gleich zu Beginn Fragen auf, die im weiteren Verlauf eher weiterentwickelt, denn beantwortet oder geklärt werden, vor dem Hintergrund der sich entfaltenden persönlichen Geschichten aber immer besser verstanden und nachvollzogen werden können. Der Zuschauer wird mehr und mehr in die Welten der drei Protagonisten mit hineingezogen. Ihre persönlichen Schicksale, Vergangenheit und Gegenwart werden zu einem Stoff verwoben, der bis zum Ende fesselt und an keiner Stelle aufgesetzt wirkt.

Durch filmische Kunstgriffe werden die gesellschaftliche Einbindung der Protagonisten, ihre Beziehung untereinander und ihre Einstellungen beiläufig, unaufdringlich und glaubwürdig vermittelt. Dabei vermischen sich die Ebenen von Zeit und Raum, Gegenwart und Vergangenheit, Begegnungen sowie Zwiesprache zwischen den Protagonisten mit Personen aus ihrem früheren Leben werden möglich und Erinnerungen real erlebt.

Liebevoll bis ins Detail werden auch kleine Nebenstränge in Szene gesetzt, die parallel zum Hauptgeschehen ihre eigene kleine Geschichte erzählen. Da gibt es einen Hund, dem der Zuschauer zunächst in der Erinnerung eines der Protagonisten begegnet. Dieser taucht dann wie selbstverständlich in der Gegenwart auf, um die drei Hauptfiguren ein Stück ihres Weges zu begleiten. So unvermittelt er als temporärer Reisegefährte auf der Bildfläche erscheint, verabschiedet er sich auch wieder. Bei einem Zwischenstopp ignoriert er die Aufforderung, zu den anderen ins Auto zu springen, und folgt seinem eigenen Weg quer durch Zeit und Raum.

Der erste Arbeitstitel des Drehbuchs "Reisende mit Hund" nimmt Bezug auf diese Episode. Erst später erhielt der Film seinen jetzigen Titel "Bittere Kirschen" in Anlehnung an Ingmar Bergmanns Film "Wilde Erdbeeren", der Didi Danquart nach eigener Aussage "mit seiner großartigen Arbeit, insbesondere seiner visuellen Umsetzung von Erinnerung, extrem inspirierte".[1]

Episch erzählt geben die Drehbuchschreiber der Geschichte Raum, sich zu entwickeln. Lange Einstellungen durchbrechen die an immer schnellere Bildwechsel angepaßten Sehgewohnheiten des Zuschauers. Es bleibt genügend Zeit, einzelne Szenen und Gesichter, sparsame Dialoge und kurze direkte Reaktionen auf sich wirken zu lassen. Und auch die Fahrt nach Auschwitz, zurück in eine deutsche Vergangenheit durch die weite Landschaft Polens, entfaltet ihre Wirkung.

Die Eindrücklichkeit, mit der sich das Filmgeschehen vermittelt, ist nicht zuletzt der erstklassigen Besetzung zu verdanken. Mit Anna Stieblich als Lena Behsler, Martin Lüttge als Julius Dahlmann, dem als verschroben geltenden Freund von Lenas Mutter, Wolfram Koch als Richard Franzen, einem innerlich zerrissenen katholischen Priester, und Ronald Kukulies in der Rolle des Ludwig Schultze, Lenas unerfüllter Liebe seit Schulzeiten, wurden für die Hauptrollen Schauspieler gewählt, die nicht nur im Film zu Hause sind, sondern auch über langjährige Bühnenerfahrung verfügen.

Es sind die alltäglichen und doch nicht banalen Fragen des Lebens, die unter die Lupe genommen werden, konkretisiert und bezogen auf einige wenige Tage im Leben der Protagonisten. Regisseur Didi Danquart äußerte sich hierzu im November 2011:

Geprägt durch eine sehr persönliche Erfahrung in meinem Leben und der (gesellschaftlichen) Stigmatisierung von Menschen, deren Provenienz wir (erstmal) nicht kennen, ist mein Film [...] auch ein Aufbegehren gegen das (kollektive) Verdrängen gesellschaftlicher Katastrophen und das Aufbrechen ihrer Normen: denn auch die Kinder von Nazitätern können Opfer des Faschismus sein, auch Priester können - trotz Zölibat - (erotische) Gefühle hegen und auch Frauen müssen nicht unbedingt den "gesellschaftlichen Erwartungen" entsprechen, um wirklich Frau zu sein.[2]
Flüchtlinge auf der Suche nach einer Bleibe im Jahr 1944 - Foto: Filmstill Bittere Kirschen - © Noir Filmproduktion 2010

Filmstill Bittere Kirschen:
Erinnerung an 1944
Foto: © Noir Filmproduktion 2010

Das haltlose Treiben, die zufälligen Begegnungen und das unverbindliche Zusammensein bekommen im Verlauf des Films eine Richtung, die die Protagonisten, so unterschiedlich sie auch sind, zusammenführt. Und so paßt dann auch das etwas skurrile Ende dieser behutsam erzählten Geschichte gut zur Gesamtdramaturgie. Trotz der Düsternis und der beklemmenden Erinnerungen an das Grauen begleitet er die Protagonisten in eine Zukunft, die nichts verspricht und doch durch das gemeinsame Voranschreiten in der letzten Szene eine entschiedene Positionierung gegen die Vereinzelung und das Alleinsein deutlich werden läßt. So wird der Zuschauer am Ende trotz der Schwere des Stoffes auch dank der Musik von Cornelius Schwehr gleichermaßen angeregt und beschwingt, aber auch nachdenklich aus dem Film entlassen.

Auf die Frage, was für Didi Danquart den besonderen Reiz ausgemacht hat, diesen Stoff der Autorin Judith Kuckart, diese 'komplexe Geschichte über Vergangenes, Gegenwärtiges, Verdrängung und Sehnsüchte' zu verfilmen, antwortet der Regisseur in einem Interview:

Wenn man so will, ist das mein künstlerisches "need" oder der rote Faden meines Schaffens! Der besondere Reiz allerdings war, eine visuelle Form für diese Begrifflichkeiten in Kuckarts Roman zu finden. Sie hatte die literarische Form der Verschachtelung oder der Exkurse zur Verfügung. Ich musste nach poetischen Bildtableaus suchen, Emotionen beim Zuschauer evozieren und gleichzeitig Verdrängtes sichtbar machen, dabei aber leicht und humorvoll erzählen, wie Judith in ihrem Roman.[3]

Das ist dem Regisseur mit dieser Produktion gelungen. Ein schwieriger Stoff wird eingängig und mit einer Leichtigkeit vermittelt, die Platz für eigene Gedanken und die Beschäftigung mit dem Thema läßt und durch die Direktheit der Szenen berührt.

Ein Roadmovie, das sich zu sehen lohnt.

Foto: Regisseur Didi Dankquart - © 2012 by Katja-Julia Fischer

Regisseur Didi Dankquart
Foto: © 2012 by Katja-Julia Fischer

Bittere Kirschen
nach dem Roman LENAS LIEBE von Judith Kuckart
Ein Film von Didi Danquart
Kinostart: 13. September 2012
Deutschland 2011
Länge: 107 Minuten

Regie: Didi Danquart
Drehbuch: Stephan Weiland und Didi Danquart
Musik und Komposition: Cornelius Schwehr

Besetzung
Lena Behsler: Anna Stieblich
Julius Dahlmann: Martin Lüttge
Richard Franzen: Wolfram Koch
Ludwig Schultze: Ronald Kukulies



Fußnoten:

[1] Interview mit Didi Danquart, Presseheft der Filmlichter GmbH, Köln, Seite 10
http://www.didi-danquart.de/download/Bittere_Kirschen_Presseheft.pdf

[2] Directors Note zu "Bittere Kirschen"
http://www.didi-danquart.de/bittere_kirschen.html

[3] Interview mit Didi Danquart, Presseheft der Filmlichter GmbH, Köln, Seite 11
http://www.didi-danquart.de/download/Bittere_Kirschen_Presseheft.pdf


3. September 2012