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FILMKRITIK/013: 12 Years a Slave - Empörung entschärft (SB)





"Ich wollte einen Helden, der ursprünglich ein freier Mann war, jemand, mit dem sich das Publikum leicht identifizieren konnte. Einen Familienmenschen, der gekidnappt und zum Sklaven wird"[1], berichtet der Regisseur Steve McQueen, der in seinem Film "12 Years a Slave" (2013) das fatale Raubverhältnis zwischen Tätern und Opfern der amerikanischen Südstaatensklaverei zum Anlass nimmt, die allgemeine Beschaffenheit von "Freiheit" und "Gefangenschaft" zu analysieren - und damit den Einfluss des Kapitalsystems Sklaverei auf die körperliche, psychische und soziale Verfasstheit des menschlichen Wesens. Nachdem die großen Sklavenschiffrouten von Afrika nach Amerika stillgelegt worden waren, gingen Menschenjäger und Sklavenhändler, nicht selten angesehene Bürger aus den mittleren und höheren Gesellschaftsschichten, im 19. Jahrhundert dazu über, eingebürgerte freie Schwarze aus den Nordstaaten für Plantagen in Texas und Louisiana zu entführen und mit ihnen zu handeln. In dem erbarmungslosen Kammerspiel unter freiem Himmel gilt der beinahe unvoreingenommene Blick der Kamera dem Alltag der versklavten Menschen wie der Profiteure der Sklaverei gleichermaßen.

Der Film stützt sich auf die Lebensgeschichte des 30jährigen Solomon Northup, der 1841 als freier Bürger des Staates New York nach Washington in einen Hinterhalt gelockt wurde, um von dort aus in die Plantagenwirtschaft nach Louisiana verkauft zu werden. Zwölf Jahre seines Lebens fristete der Familienvater, Holzarbeiter, Berufsgeiger und Sohn ehemaliger Sklaven aus Saratoga unter dem zersetzenden und blutigen Terror südstaatlicher Sklaventreiber sein Dasein. Nach seiner Befreiung und Rückkehr nach Saratoga 1853, die nur durch glückliche Zufälle und den sich langsam in den Süden ausbreitenden politischen Gedanken des Abolitionismus gelungen war, brachte Northup seine schicksalhafte Irrfahrt mit Hilfe eines Koautoren zu Papier und sicherte folgenden Generationen die Überlieferung seiner bis ins Mark erschütternden Erlebnisse.

Obwohl die detailreichen Memoiren Northups den von Harriet Beecher Stowe 1852 veröffentlichten sklavereikritischen Roman "Onkel Toms Hütte" mit Fakten aus der Perspektive eines schwarzen Sklaven gleichsam von innen heraus untermauerten, sorgte sein Buch, das den von Beecher Stowe nahegelegten christlichen Glauben an das Gute bis in den Märtyrertod bisweilen kritisch betrachtet und die Rolle der auf den Plantagen praktizierten Religiosität latent hinterfragt, in der größeren Öffentlichkeit nur zeitweise für Aufsehen. Es geriet weitestgehend in Vergessenheit bis es im Rahmen des US-amerikanischen Geschichtsunterrichts wiederentdeckt und zum wohl meistgelesenen Selbstzeugnis eines Sklaven aus den Südstaaten wurde. Beinahe 160 Jahre nach der Befreiung Solomon Northups ist Steve McQueen, der sich in seinen bisherigen Filmen "Hunger" (2008) und "Shame" (2011) bereits stark mit körperlichen Extremzuständen und ihren gesellschaftlichen Ursachen befasste, während der Recherche für seinen selbsterdachten Filmplot nun auf das Werk gestoßen.

Der Filmcharakter Solomon Northup (Chiwetel Elijofor) ist humanistisch gebildet und hat - so zumindest möchte McQueen wohl das klassische Geigenspiel Northups bei Festen der feinen Gesellschaft verstanden wissen - durchaus die Luft eines höheren Bürgertums geatmet. Ihm ist die gewohnte, freie Kommunikationsebene eines Gleichen unter Gleichen von einem Tag auf den anderen verwehrt, als er plötzlich in einem Verlies angekettet erwacht und sofort durch Peitschenhiebe mundtot gemacht wird, weil er sich vor seinen Häschern auf seine im Recht des Staates New York verankerte Freiheit beruft und mit Klage droht. Auch ein Mitgefangener legt ihm auf dem Schiff in den Süden nahe, so wenig wie möglich zu tun und zu sprechen und auf keinen Fall preiszugeben, dass er lesen und schreiben könne, denn nur so sei sein Überleben gesichert. Obwohl Northup, dessen Sklavenname ab sofort "Platt" lautet, ihm antwortet, er wolle nicht überleben, sondern leben, befolgt er den von Angst geprägten Rat und schweigt fortan über seine Herkunft.

Die Gleichzeitigkeit zweier Bewusstseinsebenen, zweier scheinbar hermetisch voneinander getrennter Welten, kann allein durch die von den Herren gewalttätig und skrupellos installierte Sprachlosigkeit und Ohnmacht der Opfer aufrechterhalten werden, dem Teile-und-Herrsche par excellence. Visuell inszeniert hat Steve McQueen dieses innere und äußere Zwangsgefüge als doppelbödige Gönnerhaftigkeit, Rohheit, Exzess und Psychoterror auf Seiten der Peiniger, und mit ängstlichen Blicken, Verunsicherung, körperlicher Starre und tiefster Trauer auf der der Gepeinigten. Eine Peitsche zerreißt den Rücken der zierlichen Sklavin Patsey (Lupita Nyong'o), bis sie bewusstlos wird, ihre perfide Folterung führt zu der stillen Einsicht Solomons, dass es im System der Sklaverei nichts Gutes geben kann, auch wenn der Mensch darin eine Art Leben führt und der Schmerz manchmal nicht so sehr im Vordergrund steht. In einer der minutenlangen Einstellungen scheint der Sklave Platt, scheint Solomon, nur von den Trost spendenden Geräuschen und dem grünen Licht eines saftigen Hains geschützt, schweigend sein Los zu reflektieren. Sein fragender Blick richtet sich einmal beinahe direkt ins Kinopublikum und macht die verzweifelte Hoffnung eines Mannes deutlich, der nicht weiß, ob seine Qual jemals ein Ende haben wird. Die schauspielerische Leistung der beteiligten Akteure, das hochqualitative Kostümbild und die in melancholischen Naturaufnahmen festgehaltene Umgebung der Sümpfe Louisianas vermitteln eine bedrückende Intensität, die für das heutige Kino außergewöhnlich ist und die so manchem actionverwöhnten Zuschauer große Geduld abverlangen dürfte.

Die Bildästhetik McQueens bedient sich klarer Kameraeinstellungen und einer ab und an beinahe zu offensichtlichen inneren Montage visueller Antithesen. Dort, wo der wohlwollende Master Ford (Benedict Cumberbatch) dem täglich an Flucht denkenden Northup eine Geige mit den Worten überreicht, sie möge ihnen beiden "über die Jahre" viel Freude bereiten; dort, wo über die Schulter des in der Galgenschlinge hängenden Solomon hinweg im Gras tollende schwarze Kinder zu sehen sind; wo sein mit Schlamm verschmutzter, geschundener und in Lumpen gekleideter Körper im Luxus der herrschaftlichen Villa auf einem weißen Spitzenkissen gebettet ist, weil er ein "wertvoller" Sklave ist und nicht sterben soll; dort, wo der sadistische Master Epps (Michael Fassbender) sich durch die hoch einträgliche Baumwollernte der von ihm auch sexuell missbrauchten Sklavin Patsey dazu bemüßigt fühlt, sie mit dem Titel "Königin der Felder" zu adeln; dort wächst die unmittelbare Empörung und die Frage, mit welchen Mitteln es gelungen ist und bis heute gelingt, den bis aufs Blut geschürten unterschwelligen Hass der Unterdrückten gegen die himmelschreiende Selbstgerechtigkeit der Unterdrücker so lange unter Kontrolle zu halten.

Steve McQueen spricht von dem Filmstoff wie von einem fiktionalen Entwurf: "Es war einfach eine unglaubliche Geschichte, ein Märchen wie aus der Welt der Gebrüder Grimm. Ein Mann verliert alles - seine Familie, seine Freiheit, seine Würde. Und am Ende findet er all das wieder."[2] Doch hier stimmt etwas nicht. Vielleicht ist diese Regung dem Zufall geschuldet und befällt nur die, die sowieso wissen, dass sie es mit einer wahrscheinlich kompromissreichen US-amerikanischen Produktion und einer scheinbar neuerlichen Nähe des Briten McQueen zu Hollywood zu tun haben, aber der Film lässt das seltsame Gefühl zurück, dass die persönliche Entwicklung, die die Figur Solomon Northup aufgrund ihrer Erfahrungen macht, zu statisch bleibt.

Die tägliche Rebellion der Sklaven, die Northup in seiner Niederschrift schildert, ist vielfältiger, die Höhen und Tiefen im grausamen Arbeitsalltag der Plantagengemeinschaft sind differenzierter, als dieser Film zeigen kann. Auch wenn das trivial mitreißend geschriebene Buch möglicherweise als massenwirksames Werkzeug für die Abolitionsbewegung eingesetzt werden sollte, zeichnet sich in der literarischen Rückschau des Ich-Erzählers Solomon Northup auf zwölf Jahre seines Lebens überzeugend ab, dass er ein tiefes Bewusstsein für die Not seiner Leidensgenossen entwickelte, die er bereits während seiner Gefangenschaft in ständiger Angst, entdeckt zu werden, zu lindern versuchte. Er politisierte sich später, weil er erkannt hat, dass seine vormalige und auch seine wiedererlangte Freiheit nur im Schatten des einen Rechts standen, das in den Nordstaaten Sklaverei verbot und im südlichen Teil Amerikas den Sklavenhandel duldete. Er wurde zum Wissenden, dem sich die beiden Sphären von bürgerlicher Freiheit und profitgeschuldeter Gefangenschaft zu einem einzigen Kosmos aus Leid und Raub verbanden. Diesen Standpunkt macht "12 Years a Slave" nicht deutlich genug, weil der Film die Rahmenperspektive der Rückschau nicht einnimmt und die politische Diskussion um die Abschaffung der Sklaverei in nur wenigen Momenten und einem zu kurzen Gespräch zwischen dem sklavereikritischen Arbeiter Bass (Brad Pitt) und dem Plantagenbesitzer Epps aufgreift.

Stattdessen folgen als nachgeschobene Reminiszenz an die Wirklichkeit flüchtige Schriftzüge am Ende des Films, die die Zuschauer darüber informieren, dass Solomon Northup sich nach seiner Befreiung in der Underground Railroad-Bewegung engagierte, einer Vereinigung aus Sklavereigegnern, die Menschen half zu fliehen, und dass der Aktivist irgendwann spurlos verschwand. - Sue Eakin, eine Wissenschaftlerin, die sich eingehend mit dem Leben Northups beschäftigt hat und 1968 eine kommentierte Ausgabe des Buches veröffentlichte, legt sogar nahe, dass er während seiner Arbeit für die Underground Railroad ermordet wurde.

Der Gewinn des Golden Globes 2014 und die Nominierungen für den Oscar zeigen, dass "12 Years a Slave" bereits jetzt eine Popularität genießt, die Filmen mit politischer Ausrichtung am ehesten bei unkomplizierter Gefälligkeit und beschönigender Verharmlosung realer Missstände zuteil wird. Im Interview mit der New York Times spricht Steve McQueen davon, dass es um die Idee gehe, die Geschichte ließe sich über ein Jahrhundert bis zum heutigen Tag weiterführen, sobald man das Kino verlässt, dass man die Zeugnisse der Sklaverei in der heutigen Gefängnispopulation, psychischer Krankheit, Armut, Bildungsmangel und dergleichen mehr zu Gesicht bekäme, wenn man die Straße hinunterliefe [3], und stellt abschließend fest: "Ich denke, die Leute sind bereit. Mit Trayvon Martin, dem Wahlrecht, dem 150. Jubiläum der Abschaffung der Sklaverei, dem 50. Jubiläum des Marsches auf Washington und einem schwarzen Präsidenten, denke ich, gibt es eine Art von perfektem Sturm der Ereignisse. Ich denke, die Menschen wünschen sich, über die entsetzliche jüngste Vergangenheit nachzudenken, um vorangehen zu können."[4]

Vielleicht tritt hier zu Tage, was der Regisseur im Kern mit seinem Werk ins Gedächtnis rufen möchte. Dass er, wenn er von einem Märchen spricht, um das tiefe Unbehagen weiß, das zurückbleibt, wenn man begreift, welchen Preis nicht nur böse Märchenfiguren zu zahlen bereit sind, um fortan in Harmonie auszublenden, dass sich das Leid und die Sprachlosigkeit unter der Oberfläche des immer zu kurz greifenden Rechts fortsetzen muss, auf dem sie einstmals bestanden haben.



12 Years a Slave
Originaltitel: 12 Years a Slave
Produktionsland: Vereinigte Staaten, Vereinigtes Königreich
Originalsprache: Englisch
Erscheinungsjahr: 2013
Regie: Steve McQueen
Drehbuch: John Ridley
Länge: 134 Minuten
Altersfreigabe: FSK 12


Fußnoten:

[1] Pressematerial zum Film "12 Years a Slave", www.tobis.de

[2] Pressematerial zum Film "12 Years a Slave", www.tobis.de

[3] Artikel: An Essentially American Narrative. A Discussion of Steve McQueen's Film '12 Years a Slave', 3 Seiten
http://www.nytimes.com/2013/10/13/movies/a-discussion-of-steve-mcqueens-film-12-years-a-slave.html?_r=0 (letzter Abruf: 22.01.2014):

Steve McQueen: Absolutely. History has a funny thing of repeating itself. Also, it's the whole idea of once you've left the cinema, the story continues. Over a century and a half to the present day. I mean, you see the evidence of slavery as you walk down the street.

New York Times: What do you mean?

McQueen: The prison population, mental illness, poverty, education. We could go on forever. (S. 1)

[4] Artikel: An Essentially American Narrative. A Discussion of Steve McQueen's Film '12 Years a Slave', 3 Seiten
http://www.nytimes.com/2013/10/13/movies/a-discussion-of-steve-mcqueens-film-12-years-a-slave.html?_r=0 (letzter Abruf: 22.01.2014):

Steve McQueen: I think people are ready. With Trayvon Martin, voting rights, the 150th anniversary of the abolition of slavery, 50th anniversary of the March on Washington and a black president, I think there's a sort of perfect storm of events. I think people actually want to reflect on that horrendous recent past in order to go forward. (S. 3)

von Simone Vrckovski


23. Januar 2014