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AKZENTE/125: Zur Wiederentdeckung des englischen Schriftstellers G. K. Chesterton (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2010

Eine Art von Genie
Zur Wiederentdeckung des englischen Schriftstellers G. K. Chesterton

Von Hanjo Kesting


Er war einer der produktivsten Schriftsteller seiner Zeit und seine Begabung von kaleidoskopischer Mannigfaltigkeit. Großzügig und freigebig hat der Autor in all diesen Büchern seine vielfältigen Talente ausgestreut, so leichthändig überdies, dass er zuweilen, wie Graham Greene gesagt hat, der Leichtfertigkeit verdächtigt werden konnte.


Gilbert Keith Chestertons Werkverzeichnis umfasst über 100 Titel, darunter Romane, Erzählungen und Essays, philosophische Abhandlungen und theologische Schriften (etwa über Franz von Assisi), nicht zuletzt zahlreiche Biografien, (etwa über Chaucer, Robert Browning und Robert Louis Stevenson). Seine Studie über die Literatur des viktorianischen Zeitalters erleuchtet mit ihren Geistesblitzen eine ganze Epoche, sein Buch über Dickens ist das beste, das je über den großen englischen Erzähler geschrieben worden ist, und seine Biografie des Thomas von Aquin gilt bis heute als unübertroffen.

Das lag gewiss auch an den journalistischen Arbeiten, mit denen er immer wieder in das Tagesgeschehen eingegriffen hat. Viele dieser Artikel sind, bei aller Zeitgebundenheit, bis heute lesenswert geblieben: durch die Frische des Denkens, den erstaunlichen Einfallsreichtum, die witzigen Wendungen, die überraschenden, oft paradox verkleideten Ideen. Dabei lag Chesterton nichts ferner als Originalität um ihrer selbst willen. Er war weit eher ein Anwalt der Tradition, der Überlieferung, des guten Alten, des Natürlichen und Lebendigen, all dessen also, was er im Titel seines wohl bedeutendsten Buches in den Begriff "Orthodoxie" zusammenfasste. Er bekämpfte die neuen, allzu modernen, um jeden Preis "fortschrittlichen" Anschauungen: "Es war immer meine Überzeugung", schrieb er, "daß das, was allen Menschen gemeinsam ist, wichtiger ist, als was einigen wenigen eigentümlich ist. Der Legende muss man mit größerer Ehrfurcht begegnen als einem Geschichtsbuch. Die Legende ist das Werk der Mehrheit. Die Überlieferung, das ist die Demokratie der Toten."


Ein wirklicher Demokrat

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war Chesterton eine überragende Erscheinung im englischen Geistesleben, eine seiner Hauptfiguren neben Kipling, Shaw, H.G. Wells und zu allen der Gegenpol. Kipling war der Prophet des britischen Imperialismus, der von Manneszucht, Mannestugend und vom Recht des Stärkeren schwärmte; Wells glaubte mit Inbrunst an den Fortschritt der Menschheit, an ihre Befreiung durch die Möglichkeiten der Technik; Shaw schließlich, der nüchterne Rationalist, harrte des Übermenschen, der alle ins Reich der Freiheit führen sollte - eine Figur, die er offensichtlich nach dem eigenen Bild geformt hatte. Chesterton dagegen war ein wirklicher Demokrat, ein freier Geist trotz christlicher Bindung, ohne ideologische Scheuklappen, skeptisch gegenüber dem Fortschritt, misstrauisch gegenüber den großen Utopien, ein demütiger Zweifler an den Möglichkeiten des menschlichen Verstandes. Er schrieb: "Ein Narr ist ein Mensch, der alles verloren hat, außer den Verstand. "

Geboren wurde er 1874 im Londoner Stadtteil Kensington. Seine frühe Bekanntheit verdankte er dem Burenkrieg, und zwar dem Umstand, dass er zu den wenigen Leuten in England gehörte, die für die Buren Partei ergriffen. Aber er tat es aus anderen Gründen als die Pazifisten, die den Krieg und jede Form von Nationalismus ablehnten. Chesterton stellte sich auf Seite der Buren, weil er Nationalist war. Den Imperialisten à la Kipling warf er nicht ihren Patriotismus vor, sondern dass sie zu wenig patriotisch seien. Wer an die Idee der Nation glaube, könne sich nicht mit der Existenz eines Empire abfinden, das darauf abziele, andere Nationen zu besiegen und fremde Völker zu unterwerfen. Diese Auffassung verkündete Chesterton mit ungewöhnlichem Geschick in einer bilderreichen und witzigen Sprache.

Seine äußere Erscheinung trug das ihre bei zu seiner Popularität. Er war ein Hüne von Gestalt, drei Zentner schwer und von so hohem Wuchs, dass Bernard Shaw sagte, wenn man mit ihm spräche, dann sei immer nur die Hälfte von ihm in Sicht. Dazu trug er einen großen Filzhut und einen romantischen Radmantel. Das machte ihn schon bald zu einer legendären Figur.

Für sein Bedürfnis nach Spiritualität fand der Autor von Orthodoxie im spätviktorianischen England wenig Raum, auch nicht in der anglikanischen Kirche. Deren Lehre erschien ihm flach, geistig dürftig, chauvinistisch denaturiert. Dagegen imponierte ihm die durch die Reformen des ersten Vatikanischen Konzils neu gewonnene Vitalität der katholischen Kirche. Es begann für Chesterton ein zunächst zögernder, dann stürmischer Prozess der Annäherung, der 1922 zur offiziellen - Konversion führte. Sie wirkte im damaligen England skandalös und sorgte, da Chesterton ein bekannter Mann war, für Schlagzeilen, genauso wie später (und sicher nicht völlig von ihm unbeeinflusst) die Konversionen anderer britischer Autoren: Evelyn Waugh, Graham Greene, Anthony Burgess oder Muriel Spark. Doch blieb Chesterton politisch ein Liberaler, seine religiösen Leitideen waren Vernunft und Freiheit. Als sein berühmter Father Brown in einer Kriminalgeschichte einmal einen falschen Priester entlarvt, nennt der Detektiv in der katholischen Amtstracht als Grund für seinen Verdacht: "Sie haben die Vernunft angegriffen - das ist schlechte Theologie."


Die Möglichkeit des Bösen als Erbteil der Gattung

Chestertons heutiger Ruhm beruht, zumal in Deutschland, auf seinen Detektivgeschichten, obwohl er selber sie zu seinen Nebenwerken zählte. Immerhin schrieb er zwischen der allerersten Geschichte aus dem Jahr 1909 - sie trug den Titel Das blaue Kreuz - und der letzten von 1929 nicht weniger als 54 solcher Geschichten, so als sei sein Ehrgeiz darauf gerichtet gewesen, es Arthur Conan Doyle gleichzutun, der seinen Meisterdetektiv Sherlock Holmes 60 Mal hatte auftreten lassen. Dazu hat es bei Chesterton nicht ganz gereicht. Doch schuf er mit Father Brown eine Figur, die Sherlock Holmes an Popularität kaum nachsteht. Fügen wir noch hinzu, dass der sanftmütige Priesterdetektiv beim deutschen Publikum nicht völlig korrekt, aber wahrscheinlich unwiderruflich (spätestens seit Heinz Rühmann die Rolle gespielt hat), als Pater Brown eingeführt ist - was einen Ordensgeistlichen vermuten lässt -, während er im englischen Original als Father Brown figuriert, also den Titel eines Weltgeistlichen trägt.

Jorge Luis Borges, der argentinische Schriftsteller, Chestertons bedeutendster Lobredner, hat über ihn gesagt, etwas in der Grundbeschaffenheit seines Ich habe zum Albtraum geneigt, zu einem Mysterium dämonischer oder magischer Art, das er durch die Vernunft zu domestizieren versucht habe; nur habe die Vernunft bei Chesterton die Form des katholischen Glaubens angenommen. Tatsächlich war es Chestertons Überzeugung, dass alle Menschen unter bestimmten Bedingungen zu jedem noch so entsetzlichen Verbrechen fähig sind. Man kann seine Geschichten als Versuche über die Verführbarkeit des Menschen lesen.

Ihr Autor war ein heiterer, optimistischer Geist, obwohl - oder besser weil - er die Abgründe des Menschen kannte, die Möglichkeit des Bösen als Erbteil der Gattung. Eben die "Erbsünde". Der Katholik Chesterton sah keinen Grund, dieses Wort für überholt zu halten. In seiner widersprüchlich-paradoxen Denkweise war die Erbsünde geradezu die Voraussetzung für eine optimistische Betrachtung der Welt. Sie befreite ihn von dem Zwang, die Welt für die beste aller möglichen Welten und Gott für den Inbegriff der Vollkommenheit zu halten. Chesterton fragte: Wie können wir uns in dieser Welt zu Hause fühlen, ohne das Staunen zu verlernen? Wie kommen wir mit all der Schönheit und Schlechtigkeit um uns herum zu Recht? Oder mit seinen eigenen Worten: Wie gelingt es uns, in dem Gefühl zu leben, "dass die Welt gleichzeitig die Burg eines Ungeheuers ist, die erstürmt zu werden verdient, und unsere eigene Heimstatt, in die wir allabendlich zurückkehren können"?

Chestertons Orthodoxie heißt im Untertitel "Eine Handreichung für die Ungläubigen" und behandelt die Grundfragen der Menschheit: nach der Existenz Gottes, dem Sinn des Lebens, der Möglichkeit des Guten, der Macht des Bösen. Chesterton gibt auf diese Fragen "orthodoxe" Antworten, das heißt solche, die in seiner Zeit, kurz nach der Wende zum 20. Jahrhundert, als überholt, also als unorthodox empfunden wurden.

Sein Buch ist inspiriert von einem kosmischen Optimismus, dem leidenschaftlichen Glauben, dass "es gut ist, da zu sein". Aber Orthodoxie erscheint hier nicht nur, und nicht einmal vor allem, als religiöses Phänomen, sondern als Orthodoxie des Lebens in einem umfassenden Sinn. "Der moderne Mensch", lesen wir, "ist seiner Gasse entfremdet. Zuerst erfand er die moderne Hygiene und fährt in die Kurorte. Dann erfand er die moderne Kultur und reist nach Florenz. Schließlich erfand er den Imperialismus und geht nach Timbuktu, aber von den Leuten, die mit ihm im gleichen Haus wohnen, weiß er nicht das mindeste. Unsere Freunde, unsere Feinde schaffen wir uns selbst, unseren Nachbar aber hat Gott geschaffen. Deshalb ist der Nachbar auch ein naturgewachsenes Wesen, ein naturgegebener Vorteil, den wir nicht missachten dürfen."


"Streit zwischen Licht und Finsternis"

Graham Greene zählte Orthodoxie zu den großen Büchern des Zeitalters. Sein italienischer Kollege Tomasi di Lampedusa schrieb: "Wenn Sie das Buch an einer beliebigen Stelle aufschlagen, werden Sie sofort gefesselt bis zum Ende weiterlesen. Sein Denken in Paradoxen erlaubt es dem Autor, die abgeschmacktesten Allerweltsweisheiten mit dem Kopf nach unten zu präsentieren, so dass sie plötzlich neu und unerhört erscheinen. Durch Paradoxien, Scherze und poetische Überhöhungen gewinnt seine Verteidigung der traditionellen Moral, der hergebrachten Lebensweise und der Bescheidenheit der Existenz überzeugende Klarheit."

Bis zum Ende seines Lebens blieb Chesterton ein streitbarer Poet und Essayist, wortgewaltig und von imponierender Ausstrahlung. Als er vor seinem Tod die letzte Ölung erhielt, soll er aus dem Koma erwacht sein und ausgerufen haben: "Der Fall ist nun ganz klar. Es handelt sich um den Streit zwischen Licht und Finsternis, und jeder muss sich für eine Seite entscheiden."

G. K. Chesterton: Die englische Weihnacht. Vova & Vetera, Bonn 2009, 168 S., 16,00 Euro


Hanjo Kesting (* 1943) ist Kulturredakteur dieser Zeitschrift. Zuletzt erschien bei Wallstein: Ein Blatt vom Machandelbaum. Deutsche Schriftsteller vor und nach 1945.


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2010, S. 98-101
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Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. September 2010