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BERICHT/068: Haiku - "klein" nur auf den ersten Blick (uni.kurier.magazin - Uni Erlangen)


uni.kurier.magazin - 109/September 2008
Wissenschaftsmagazin der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Haiku-Kurzgedichte -
"klein" nur auf den ersten Blick
Missverständnisse verfälschen die Rezeption im Westen

Von Martina Schönbein


Das Haiku kann als kultureller Exportschlager Japans bezeichnet werden, denn es geht nicht nur um die passive Rezeption anhand der Lektüre von Übersetzungen, die inzwischen in bemerkenswert zahlreichen Anthologien höchst unterschiedlicher Qualität vorliegen, sondern um das Phänomen des "internationalen Haiku", gedichtet in der jeweiligen Landessprache. Die explizite Bezeichnung der in englischer, deutscher Sprache usw. verfassten Gedichte als Haiku deutet dabei auf einen ganz bewussten Bezug zu Japan. Im Sinne einer solchermaßen aktiven internationalen Rezeption sind auch andere so genannte "Wege" zu nennen, etwa das Blumenstecken (kadô, auch ikebana genannt) oder verschiedene Kampfkünste (karatedô, jûdô etc.). Allen ist gemeinsam, dass es sich um praktische Künste handelt, die gut lehr- und erlernbar sind, in der Regel erst in der Frühmoderne (ab dem 17. Jahrhundert) ihre letzte Ausprägung und Vervollkommnung erfuhren und zumeist über einen gewissen, jedoch stark überbewerteten zen-buddhistischen Hintergrund verfügen. Wodurch wurde die Faszination für das japanische Haiku-Kurzgedicht im Westen ausgelöst, und wie gestalteten sich die Bedingungen der Rezeption konkret?

Am Anfang sollen einige (in diesem Rahmen notgedrungen stark verkürzte) Erläuterungen zur Entwicklung und den Charakteristika dieser Gedichtform stehen. Das Haiku geht auf die humoristisch-volkstümliche Variante des Kettengedichts, das von mehreren Dichtern gemeinsam gestaltet wurde, zurück und kam mit der kulturellen Emanzipation der Bürger in den Städten auf. Es stellt die isolierte - besonders wichtige - erste Strophe des Kettengedichts dar, die sich im 18. Jahrhundert verselbstständigte, aber bereits zuvor separat geübt wurde. Ein Haiku sollte aus 5/7/5-Silben bestehen (der Endreim spielt in der japanischen Lyrik keine Rolle) und ein Motiv der Jahreszeit aufweisen; hinzu kommt die Verwendung verschiedener poetischer Mittel - z. B. das Setzen einer Zäsur oder Pause, wodurch oft zwei Bilder nebeneinander gestellt werden und sich überlagern, Anspielungen auf Vorgängerwerke etc.

Wie funktioniert die Kommunikation zwischen Dichter und Rezipient konkret? Aus der Knappheit der Form resultiert, dass der Dichter kaum Raum für Reflexionen hat, die über die konkrete sinnliche Erfassung eines Augenblicks hinausgehen. Der unvollkommene und offene Charakter des Gedichts verweist zudem auf den Ursprung aus der Kettendichtung, bei der die erste Strophe mit 7/7-Silben weiterzuführen war, woran dann wieder eine Strophe mit 5/7/5-Silben angeschlossen wurde usw. Der Rezipient muss dabei das Gesagte nachvollziehen und das Ungesagte assoziativ ergänzen, und zwar nicht beliebig, sondern auf eine bestimmte Art und Weise und damit das Gedicht vollenden. Die "Entschlüsselung" des Gedichts setzt also in der Regel voraus, dass Dichter und Rezipient über ein gleiches Weltbild verfügen, sich auf dieselben Traditionen berufen können, den gleichen Erfahrungshintergrund und ähnliche Gefühlswerte besitzen.

Eine zentrale Rolle spielen dabei die Jahreszeitenmotive, die an tradierte - entsprechend den ästhetischen Vorstellungen der jeweiligen Trägerschicht der Dichtkunst im Laufe der Zeit behutsam modifizierte - Sinngehalte gekoppelt sind, und bis heute in Poetiken festgehalten werden. Es mag zwar einige universal verständliche Haiku geben, doch ohne die Bereitstellung der nötigen Hintergrundinformationen (Assoziationsgehalte der Jahreszeitenmotive, Zitate oder Kontext der Entstehung) sind die Gedichte oft missverständlich oder nur teilweise, lediglich in ihrer Oberflächenbedeutung, nachvollziehbar. Das gilt übrigens auch für den japanischen Rezipienten, denn Haiku, die vor der Mitte des 19. Jahrhunderts verfasst wurden, erscheinen in der Regel in kommentierten Ausgaben.


Assimilation und Imitation

Hinsichtlich der Rezeption japanischer Lyrik im Westen sind zwei Phasen deutlich zu unterscheiden: eine ältere Rezeptionsphase um 1900 (vor dem Hintergrund der Kunstströmung des Japonismus) und eine zweite Rezeptionsphase, die nach 1945 anzusetzen ist. Die erste Phase, die ich mit dem Begriff Assimilation kennzeichnen möchte, ist durch professionelle Autoren geprägt, die eine selektive Umsetzung des Vorbilds in die eigene Formensprache vornahmen. So forderten englische und amerikanische Lyriker des Imagismus um Ezra Pound (die Gruppe existierte von 1909-17) u. a. inspiriert durch das Haiku eine neue poetische Sprache: wortkarg, nüchtern und präzise. Klischees sollten durch klare, konkrete Bilder (image) abgelöst und Glaubwürdigkeit durch Verzicht auf Überflüssiges erreicht werden. Dabei bedienten sie sich etwa auch der bereits erwähnten Technik der Nebeneinanderstellung und Überlagerung von zwei Bildern.

Die zweite Rezeptionsphase nach 1945 hingegen wurde überwiegend von Amateurübersetzern und Nachdichtungen geprägt und ist mit dem Begriff der Imitation zu umschreiben. Hierdurch haben sich einige grundlegende Missverständnisse bzw. Erwartungen des westlichen Rezipienten an das Haiku herausgebildet, die im Folgenden mit den aufgezeigten Charakteristika des japanischen Vorbilds kontrastiert werden sollen.

Naturlyrik / Jahreszeitenlyrik
Zwar stammen viele Motive aus der Natur, aber beim japanischen Vorbild stehen eindeutig die Aktivitäten des Menschen im Wandel der Jahreszeiten im Mittelpunkt. Die Erwartung, das Haiku thematisiere hingegen vor allem Flora und Fauna, resultiert aus den Mängeln bei der Auswahl der übersetzten Gedichte: möglichst solche, die ohne Kommentar verständlich sind, sowie eine bunte Mischung von Genres und Autoren (teilweise aus über 1.000 Jahren, in denen sich die ästhetische Ausrichtung der Lyrik beträchtlich veränderte), die in den Übersetzungen ohne die Möglichkeit einer Einordnung dargeboten wird. Dies wird von einem nicht nur auf Japan, sondern auf ganz Asien zu beziehenden Klischee gestützt: Der Mensch in Europa wende sich gegen die Natur, wohingegen er in Asien im Einklang mit ihr lebe.

Haiku sind leicht verständlich bzw. als Gegenpol rätselhaft / sie sind artifiziell und reich an Anspielungen
Bei dieser Einschätzung kommt sicherlich ein lieb gewonnenes Japanbild zum Tragen: Die japanische Kultur erscheint deshalb reizvoll, weil sie rätselhaft ist (ein unverständliches Volk zu sein, gehört übrigens entscheidend zum Selbstverständnis der Japaner als Nation dazu).

Kontextfreiheit, intuitives Erfassen / Rezeptionslenkung
Haiku sind nicht auf eine freie Interpretation angelegt, sondern beziehen ihren Sinn durch Assoziationslenkung; in einem anderen Kulturkreis lassen sie sich kaum spontan und gefühlsmäßig nachvollziehen.

Spontane Eingebung / handwerklicher Charakter
Nicht der weltabgeschiedene Dichter, der in der Begegnung mit der Natur aus einer spontanen Eingebung heraus ein Meisterwerk schafft, steht im Mittelpunkt, das Haiku hat seinen Ursprung aus dem gemeinschaftlichen Dichten nicht abgelegt. Es ist eine gut lehr- und erlernbare Form des Dichtens mit handwerklichem Charakter, an ihm wird gefeilt, Vorgängergedichte werden einbezogen.

Das plötzliche intuitive Erfassen des Gedichts auf Rezipientenseite und die spontane Eingebung des Dichtergenies: Diese Vorstellungen resultieren offensichtlich aus der Gleichsetzung der Prozesse mit einem Erleuchtungserlebnis (die Formel Haiku = Zen findet sich leider auch in Beiträgen von Japanologen). Insofern kann also ein Zusammenhang zwischen der internationalen Popularisierung des Haiku-Dichtens und dem Esoterik-Boom hergestellt werden. Haiku-Zirkel, die es bei jeder Deutsch-Japanischen Gesellschaft geben dürfte, könnten somit auch als Ausdruck des Bedürfnisses nach Miteinander und Kommunikation, also unter dem Aspekt der Lebenshilfe gesehen werden und als Ausdruck der Sehnsucht nach einer Welt gelten, die so nicht mehr existiert und vermeintlich besser war als die heutige.


Neue Motive nach altem Vorbild

Zum Entstehen des Phänomens "internationales Haiku" dürften also neben dem Reiz als vermutlich kürzeste Lyrikgattung der Weltliteratur, der weitgehend nicht reglementierten Sprache und der vermeintlichen Kontextfreiheit vor allem die überbewertete Verbindung zum Zen-Buddhismus beigetragen haben. Das Japanbild gilt dabei als Projektionsfläche für eigene Defizite, in der Beschäftigung mit fremdem Kulturgut sucht man verloren gegangene Traditionen und Werte wiederzuentdecken. Das "internationale Haiku" kann aber durchaus als Chance zu gegenseitigem Verstehen zwischen den Kulturen begriffen werden, als Möglichkeit, dass weltweit eine neue Form der Lyrik entstehen könnte. Das Haiku ist von seinem Selbstverständnis her eine populäre und demokratische Form des Dichtens, an der alle teilnehmen und mitbestimmen können. Es erscheint jedoch erforderlich, sich stärker vom japanischen Vorbild zu lösen. So hat sich, insbesondere im englischen Sprachraum, anstelle des sklavischen Festhaltens an der Zahl von 5/7/5-Silben inzwischen eine freiere Handhabung, bei dem nur der Wechsel zwischen kurzer, langer und kurzer Zeile beibehalten wird, durchgesetzt.

Als essentiell für das Funktionieren dieser kurzen Gedichtform ist ein gemeinsamer poetischer Index zu erachten, der durch die Steuerung von mit Motiven verbundenen Sinngehalten die Bilderflut eingrenzt und präzise Bilder beim Rezipienten hervorruft. Japanische Jahreszeitenmotive können, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht auf einen anderen Kulturkreis übertragen werden, sondern sind vor Ort neu zu erarbeiten - entsprechende Kalendarien wurden etwa in den USA oder Deutschland bereits zusammengestellt. Doch erscheint es fraglich, ob solche Motive wirklich internationalisiert werden können, da es je nach Land unterschiedliches Brauchtum oder klimatische Verhältnisse, eine andere Tier- und Pflanzenwelt usw. gibt.

Warum sollte man die Einfügung eines Jahreszeitenmotivs also nicht generell in Frage stellen, zumal sich eine solche Tradition hier nicht herausgebildet hat. Im japanischen humoristisch-volkstümlichen Kettengedicht, aus dem das Haiku-Kurzgedicht hervorgegangen ist, waren weitaus mehr Themenbereiche zugelassen, an die ebenfalls fest umrissene Assoziationsgehalte geknüpft waren. Warum sollten beispielsweise nicht auch Ortsnamen diese Stelle einnehmen, die etwa beim klassischen japanischen Kurzgedicht (Waka mit 5/7/5/7/7-Silben) eine ähnliche Funktion inne hatten, und an denen sich eine Rezeptionslenkung über Landesgrenzen hinweg festmachen ließe?


Prof. Dr. Martina Schönbein ist seit 2007 Inhaberin des Lehrstuhls für Japanologie II am Institut für Außereuropäische Sprachen und Kulturen der Universität Erlangen-Nürnberg.


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Quelle:
uni.kurier.magazin Nr. 109/September 2008, S. 24-26
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. November 2008