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FRAGEN/020: Frei geboren? - Gespräch mit Sonwabiso Ngcowa (afrika süd)


afrika süd - zeitschrift zum südlichen afrika
Nr. 4, Juli/August 2017

"SÜDAFRIKA MIT 21"
Frei geboren?

Gespräch mit Sonwabiso Ngcowa von Lutz von Dijk


Südafrikas Jugend - eine Generation, die nach 1994 am Kap der guten Hoffnung das Licht der Welt erblickte. Viel wurde über sie geschrieben, selten kommen sie selbst zu Wort. Das ändern die Lebensgeschichten "Südafrika mit 21". Sonwabiso Ngcowa hat sie aufgezeichnet. Auf einer Lesereise zusammen mit Lutz van Dijk stellte er sein Buch vor.


Lutz van Dijk: Sonwabiso, Du wurdest 1984 in dem kleinen Dorf Mpozisa im Eastern Cape geboren - mitten in einem der ärmsten Homelands des Apartheidregimes und während des Ausnahmezustands. Es war eine politisch sehr unsichere Zeit. Während Deiner Kindheit war unklar, ob die Verhandlungen für eine friedliche Machtübergabe erfolgreich sein würden. Zusätzlich zur Repression und willkürlichen Gewalt der staatlichen Sicherheitskräfte herrschte vielerorts Hunger. Du hast mal ganz drastisch geschildert, wie Du als Grundschüler oft Wasser getrunken hast, um nicht ohnmächtig zu werden. Denn häufig musstest Du den Schultag ohne Frühstück oder irgend etwas zu essen durchhalten.

Sonwabiso Ngcowa: Ja, ich wuchs in einer Großfamilie auf. Zwar war ich der einzige Sohn meiner Mutter, aber es gab viele Onkel und Tanten. Meine ersten Schuljahre verbrachte ich im Eastern Cape. Das Leben war schwer. Deshalb zogen wir schließlich nach Kapstadt. Als ich zum ersten Mal durch die Stadt fuhr, dachte ich: Gleich hält der Bus vor einem dieser schönen Häuser und dort werden wir wohnen. Aber weit gefehlt. Wir sind an allen hübschen Wohnvierteln vorbeigerauscht und landeten schließlich in Masiphumelele, einer Wellblechsiedlung weit von der Stadt entfernt - ohne fließendes Wasser und öffentliche Infrastruktur. Das war 1996. In der kleinen Township-Schule wurden die Kinder im Schichtsystem unterrichtet: Morgens achtzig jüngere und nachmittags achtzig etwas ältere.

Dann drängte meine Mutter darauf, ich sollte im Nachbarort Fish Hoek meine Schulausbildung fortsetzen. Doch dort waren wir gerade mal sechs schwarze unter 900 weißen Schülern, was nicht einfach war. 2002 schloss ich mit meinem Matric (vergleichbar mit dem Abitur; d.R.) die High School in Fish Hoek ab.

Lutz van Dijk: Wir sind uns zuerst in einer Bankfiliale in Fish Hoek begegnet. Du sagtest, dass Du aus Masiphumelele kämest. Eine große Freude! Denn damals waren die allermeisten Bankangestellten Weiße. Die Menschen aus dem Township fanden oft nur als Putzfrauen oder Gärtner einen Job.

Sonwabiso Ngcowa: Ja, ich habe fünf Jahre in der Bank gearbeitet. Der Manager hat mir angeboten, in der Hierarchie aufzusteigen. Doch ich hatte andere Pläne. Ich wollte mit dem Schreiben beginnen. Allerdings hielten mich meine Verwandten für verrückt. Meine Großmutter gab zu bedenken, dass wir aus größter Armut kamen und sie oft nicht wusste, wovon sie am nächsten Tag Essen auf den Tisch bringen sollte. Ich hätte durch meine Arbeit in der Bank die Möglichkeit, sie und andere Familienmitglieder zu unterstützen. Das sei vor allem der Fall, wenn ich dort aufsteigen würde. Doch ich wollte Sozialanthropologie studieren. Das stieß auf viel Unverständnis.

Lutz van Dijk: 2011 hast Du mit Deinem Studium an der Universität Kapstadt begonnen und erfolgreich Deinen BA- und Honours-Abschluss erworben. Nun arbeitest Du an Deinem Master in Sozialanthropologie. Zwischenzeitlich hast Du Kurzgeschichten auf "FunDza" veröffentlicht, einem Online-Portal mit Jugendliteratur. Deine Geschichte über eine Zwangsverheiratung wurde 8000 Mal am Tag aufgerufen. Du schreibst auf Xhosa und Englisch, bist Mentor in Schreibwerkstätten für Jugendliche und rezensierst Bücher für die Tageszeitung Cape Times. Dein Roman "In search of happiness" erschien 2014 in Kapstadt und im gleichen Jahr unter dem Titel "Nanas Liebe" auf Deutsch.

Sonwabiso Ngcowa: Ja, bei meinem ersten Buch war meine Familie ganz begeistert. Etliche südafrikanische Medien berichteten darüber. Plötzlich wurde ich bekannt. Aber ich war auch mit vielen Anfeindungen konfrontiert, da ich ganz klar Homophobie thematisierte und kritisierte. Sogar eine Freundin eiferte gegen mich. Sie warf mir vor, ich sei selbst homosexuell, und sie verlangte, ihr Partner sollte jeglichen Kontakt mit mir unterbinden. Dabei hatte mich die tragische Ermordung von Phumeza, einem lesbischen Mädchen im Nyanga Township, veranlasst, den Roman zu schreiben. Gegen diesen Hass und die Gewalt wollte ich das Wort ergreifen.

Als ich "In search of happiness" in einer Lesung in Kapstadt vorstellte, war Melanie Verwoerd unter den Gästen. Kurz darauf bot sie mir an, gemeinsam ein Buchprojekt über Jugendliche in Südafrika zu konzipieren. Damit war der Grundstein für "Südafrika mit 21" gelegt.

Lutz van Dijk: Lass mich kurz noch etwas über Melanie ergänzen: Auch ihre Biographie ist außergewöhnlich. Sie wurde in einer burischen Familie geboren und heiratete Wilhelm Verwoerd, den Enkel der Apartheidarchitekten Hendrick Verwoerd. Ihr Mann und sie traten dem African National Congress (ANC) bei, den das Apartheidregime als Terrororganisation bekämpft hatten. Unter der Regierung von Nelson Mandela war sie die erste weiße und die jüngste ANC-Parlamentarierin. Sie wurde später Botschafterin in Irland, Jugendprojekte sind ihr besonderes wichtig.

Sonwabiso Ngcowa: Wir wollten jungen Leuten aus allen gesellschaftlichen Gruppen und unterschiedlichen Landesteilen ermöglichen, ihre Geschichten zu erzählen. Es sollte keine wissenschaftliche Studie werden, sondern eine Dokumentation diverser Lebensrealitäten und individueller Biographien. Zu Wort kommen ein Coloured-Moslem, eine junge Mörderin im Gefängnis, ein verzweifelter Jugendlicher, der sich selbst umbringen wollte, alleinerziehende Teenager-Mütter, ein junger Mann mit einer Xhosa-Mutter und einem Zulu-Vater, ein umfassend gefördertes weißes Mädchen, das sich ihrer Privilegien bewusst ist, sowie ein Junge aus Orania - Sohn erzkonservativer burischer Kulturnationalisten. Die jungen Erwachsenen betonten, erstmals hätten sie die Möglichkeit, ihre Geschichte mitzuteilen. Drogenkonsumenten, Sexworker, Schulabbrecher, Studenten, talentierte Künstler und junge Arbeiter schenkten uns ihr Vertrauen. Die meisten Jugendlichen haben wir zusammen besucht, nur selten - etwa bei einem schwerstkranken Mädchen - führte Melanie allein ein Gespräch. Und einzelne sensible Themen wie die Xhosa-Jungeninitiation habe nur ich mit den jeweiligen jungen Männern besprochen.

Lutz van Dijk: Die jungen Leute haben Euch sehr persönlich ihre erdrückenden Sorgen, oft bitteren Erfahrungen und leisen Hoffnungen mitgeteilt. Viele beweisen große innere Stärke und setzen sich auf beeindruckende Weise für ihre Familien ein.

Sonwabiso Ngcowa: So erzählte Yonela, eine junge Lesbe, aus ihrem Leben. Ihre Schwester Nontsikelelo, die ebenfalls lesbisch war, wurde 2010 brutal von einem Nachbarn ermordet. Doch das erfuhr die Familie erst ein Jahr später. In der Zwischenzeit schrieb Yonela Rap-Gedichte und suchte sie verzweifelt. Das Lied wurde rasch verbreitet und Tipps von Hörern führten schließlich auf die Spur des Täters. Die lokale Polizei tat nichts, nur ein Onkel aus einer weiter entfernten Polizeistation ermittelte und überführte schließlich den Mörder. Doch nach einer kurzen Haftstrafe kam er wieder frei. Yonela prangert solches Unrecht an. Denn vielen heterosexuellen Tätern wird vergeben, als wäre die Gewalt kein Verbrechen, sondern Gottes Werk. Demgegenüber will sie Homosexuellen mehr Gehör verschaffen, als Rapperin wehrt sie sich gegen homophobe Gewalt. Yonela hofft, dass die kommende Generation junger Leute sagen wird: "Früher gab es eine Zeit, da wurden Homosexuelle in Townships wie satanische Höllenwesen behandelt, aber heute können wir miteinander leben."

Lutz van Dijk: Gewalt in Gesellschaft und Familien, zerstörerische oder fehlende Väter, die ihren Söhnen keine Vorbilder sind, diese Probleme prägen das Leben vieler Heranwachsender. Oft sorgen Mütter und Großmütter mit größtem Einsatz für die familiäre Existenz und fördern die Schulbildung der Jugendlichen. Dennoch sind die Statistiken und offiziellen Schätzungen ernüchternd: 40 bis 50 Prozent eines Jahrgangs verlassen die Schule ohne Abschluss. 2,8 Millionen haben keinen Zugang zu weiterführenden Bildungseinrichtungen. Gleichzeitig zählt die Verbesserung der eigenen Bildung zu den größten Wünschen der Jugendlichen.

Sonwabiso Ngcowa: Ja, nach 1994 hat sich viel verändert: Die Apartheid ist abgeschafft. Wir haben eine der besten Verfassungen der Welt, darin ist das Recht auf Bildung verankert. Diskriminierung auf der Basis von Hautfarbe oder Geschlecht ist verboten. Aber das Leben ist nicht einfacher geworden. Die alten Wirtschaftsstrukturen und ökonomischen Ungleichheiten sind weiterhin prägend. Korruption lähmt den Bildungssektor, denn eigentlich umfasst der Staatshaushalt einen hohen Bildungsetat. Doch das Geld kommt nicht da an, wo es gebraucht wird. Der Grund dafür ist nicht mehr die Apartheid, sondern die stagnierende Umsetzung der Politik. Zudem gibt es zu viel Nepotismus, für viele Jobs werden unqualifizierte Leute eingestellt. Schuldirektoren erhalten ihre Posten, obwohl sie keine Ahnung von der Schulverwaltung haben. Die Studierendenproteste der letzten Jahre prangerten die Missstände im Bildungssektor an. Ähnlich wie die jungen Leute, die in "Südafrika mit 21" zu Wort kommen, ging es den Protestierenden nicht um Parteipolitik, sondern um bessere Zukunftsperspektiven, die Chance auf würdevolle Arbeit und ein glückliches Leben.


Das Gespräch dokumentierte Rita Schäfer.


SonWabiso Ngcowa und Melanie Verwoerd: Südafrika mit 21, Die erste freie Generation erzählt. Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2017. 208 Seiten, 19,90 Euro.

Lutz van Dijk ist promovierter Lehrer und Buchautor. Er schreibt vor allem Jugendbücher über Südafrika, wo er lebt und das Aids-Waisenprojekt Hokisa aufbaute.

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Quelle:
afrika süd - zeitschrift zum südlichen afrika
46. Jahrgang, Nr. 4, Juli/August 2017, S. 17-18
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. April 2018

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