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PROFIL/071: Spiegelungen zwischen den Kulturen - Orhan Pamuk (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2008

Spiegelungen zwischen den Kulturen

Orhan Pamuk

Von Hanjo Kesting


Orhan Pamuk, Literatur-Nobelpreisträger 2006, ist der bekannteste Schriftsteller der Türkei. Doch ist er zugleich ein Schriftsteller zwischen den Welten, zwischen den Kulturen. Mit seinem ganzen Werk ist er auf die Türkei bezogen, nirgends stärker als in dem großen Stadtporträt von Istanbul, das 2006 erschien und indirekt als Selbstporträt gelesen werden kann. Doch hat er sich nach eigenem Bekenntnis an westlichen Mustern gebildet, an Thomas Mann, Kafka und Proust.


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Orhan Pamuk ist ein "Westler", um einen Begriff zu verwenden, der vor hundertfünfzig Jahren in Russland kritisch umstritten war. Man bezeichnete damit Schriftsteller und Intellektuelle, die sich nach Westeuropa orientierten. Pamuk ist ein türkischer Westler, er hat sich selbst als solchen bezeichnet, paradoxerweise mit Blick auf ein Land, dessen offizielle Politik seit achtzig Jahren die europäische Bindung anstrebt, obwohl die kulturellen Differenzen nicht zu übersehen sind.

Dadurch wird Pamuk in der Türkei in eine schwierige Außenseiterrolle gedrängt. Er war der erste Autor der muslimischen Welt, der die Fatwa gegen Salman Rushdie öffentlich verurteilte. Er nahm für seinen türkischen Kollegen Yasar Kemal Stellung, als dieser 1995 vor Gericht gestellt wurde. Er selbst wurde wegen der Feststellung angeklagt, eine Million Armenier seien in der Türkei während des Ersten Weltkriegs ermordet worden. Nach der Ermordung seines Freundes und Kollegen Hrant Dink sagte Pamuk eine Lesetournee ab und reiste nach New York, wo er schon früher einige Jahre seines Lebens verbracht hatte. Das bringt seine Stellung zwischen den Kulturen auch äußerlich zum Ausdruck.

Orhan Pamuk wurde 1952 in Istanbul geboren. Er war vierundfünfzig Jahre alt, als er den Nobelpreis für Literatur erhielt. Er hat überhaupt viele Preise bekommen: türkische Preise, deren Rang und Bedeutung nicht leicht einzuschätzen sind, und internationale Preise, darunter den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Der literarische Rang des bei seinem Debüt 1982 noch jungen Autors ist früh anerkannt worden, obwohl Pamuk eine kulturelle Barriere zu überwinden hatte. Er schreibt in türkischer Sprache, und da gibt es keine traditionell gefestigte Übersetzungskultur.

Seinen ersten Roman Die weiße Festung publizierte er mit dreiunddreißig Jahren. Die Stellung zwischen den Kulturen ist geradezu das Thema des Buches. Das Manuskript, das ihm zugrunde liegt, wird als Übersetzung aus dem 17. Jahrhundert ausgegeben, aus der Zeit des Osmanischen Reiches, das damals auf der Höhe seiner Macht stand und unter dem Sultan Mehmed IV., der in Pamuks Buch eine Rolle spielt, seine größte Ausdehnung erreichte. Die Anlage des Buches erinnert an den Don Quijote von Cervantes, der auch als Zufallsfund und Übersetzung aus dem Arabischen ausgegeben wird, während Pamuks Buch im Original italienisch ist.

Hier wie dort hat man es mit einem literarischen Spiel zwischen den Sprachen und Kulturen zu tun. Das war bereits zu Cervantes' Zeit ein Thema, als einige hunderttausend Araber im katholischen Spanien Philipps II. lebten - Nachkommen des Kalifenstaats von Cordoba, der einige Jahrhunderte der Vorposten der islamischen Welt im westlichen Europa war. Heute kehrt das Thema wieder, nicht nur in Europa, sondern auch in der Türkei und überall dort, wo die Ränder der alten, halbwegs homogenen Kulturen zu oszillieren beginnen.

Um was geht es in Die weiße Festung? Der Ich-Erzähler ist ein junger Venezianer, der als Sklave nach Istanbul verschleppt wird. Er gibt vor, Arzt zu sein, lernt Türkisch und gewinnt mit der Zeit die Gunst eines Paschas. Der Pascha vermittelt den gefangenen Venezianer an einen ,türkischen Hodscha (einen Geistlichen oder Gelehrten), der jemanden braucht, der von Feuerwerkstechnik etwas versteht. So beginnt zwischen dem gebildeten Sklaven und dem an den Wissenschaften interessierten Hodscha - beide sehen sich fast zwillingshaft ähnlich - ein geistiger Austausch. Der Hodscha spürt die Andersartigkeit der europäischen Kultur und versucht, sich ihr anzunähern. Er liest die Niederschriften des Venezianers, stellt sich auf seine Denkweise ein, um schließlich die Frage zu stellen: "Wer bin ich?" Oder die kompliziertere Frage: "Warum bin ich ich selbst?" Die Selbsterforschung gelingt dem Hodscha nicht so leicht, da er sie insgeheim abwehrt. Doch während eines Feldzugs verlässt er das Heer in der Kleidung des Venezianers, um sein Leben in Venedig weiterzuführen. Der Venezianer wiederum zieht sich in der Rolle des Hodscha auf dessen Landgut zurück. Die beiden haben ihre Rollen getauscht. Eines Tages trifft ein Besucher aus Venedig ein, der dem falschen Hodscha die Grüße seines Doppelgängers übermittelt. Am Ende weiß der Leser nicht mehr, mit wem er es zu tun hat, ob mit einem türkischen Hodscha oder einem venezianischen Sklaven; jeder scheint das Leben des anderen zu führen.

Wieder also Pamuks Grundthemen: die Frage nach der eigenen Identität, das Motiv des Doppelgängers, durch die Spiegelung zweier Kulturen gleichsam potenziert.

Damit ist das Stichwort für den nächsten Roman Pamuks gegeben: Das schwarze Buch. Er ist viel umfangreicher, umfasst fünfhundert eng bedruckte Seiten und besteht aus zwei Teilen mit neunzehn bzw. siebzehn Kapiteln. Die "geraden" Kapitel erzählen eine durchlaufende Romanhandlung, die in den "ungeraden" Kapiteln durch immer neue Einschübe unterbrochen wird.

Der Rechtsanwalt Galip ist von seiner Frau (und Cousine) Rüya plötzlich verlassen worden. Galip beginnt Rüya zu suchen, und gleichzeitig sucht er nach dem Journalisten und Kolumnisten Celâl, Rüyas Halbbruder, der am selben Tag wie Rüya verschwunden ist. Auf seiner Suche nach den Verschwundenen in den Bars, Gassen, Bordellen, Moscheen und Katakomben Istanbuls wird er unaufhörlich mit der eigenen Lebensgeschichte konfrontiert. Erneut ist die Frage nach der eigenen Identität aufgeworfen. Galip kommt auf den Gedanken, dass er in den täglichen Kolumnen Celâls die Spuren der Verschwundenen finden wird, und beginnt, sie aufmerksamer zu lesen. Es sind diese Kolumnen, die die Romanhandlung in jedem zweiten Kapitel unterbrechen. Aber "unterbrechen" ist nicht das richtige Wort, denn es beginnt wieder ein Vexierspiel, viel verwirrender und komplexer als in Die weiße Festung.

Im zweiten Teil des Buches hören die Kolumnen von Celâl plötzlich auf. Mit dem Ergebnis, dass nun Galip anfängt, selber Celâls Kolumnen zu schreiben und weiterzuführen. Wieder ein Rollentausch: Galip muss Celâl werden, um die Wahrheit über sich selbst herauszubekommen. Der Höhepunkt ist im 14. Kapitel des zweiten Teils erreicht, das "Das Geheimnis der Bilder" überschrieben ist. Es erzählt von einem Malerwettbewerb, der ausgeschrieben wird, um die Eingangshalle eines Bordells mit Bildern der Stadt am Bosporus auszuschmücken. Zwei Maler wetteifern miteinander, ohne die Arbeit des anderen zu kennen, aber als ihre Werke enthüllt werden, zeigt das eine ein herrliches Bild von Istanbul, das andere besteht aus einem Spiegel, das das Bild des Konkurrenten wiedergibt, glänzender, schöner und reizvoller, als es in Wirklichkeit ist. So wird aus einem versiegten Brunnen des gemalten Bildes ein sprudelnder Brunnen im Spiegelbild. Doch vollziehen sich die Veränderungen nach dem Prinzip der Wechselwirkung.

Auch der Roman selber ist ein gespiegeltes, zweigeteiltes, zweideutiges Geschichtenbuch, bei dem der Leser nie so recht weiß, wo er sich gerade befindet. Ein Kapitel heißt "Die Geschichte dringt in den Spiegel ein" und ist gleichsam der Fokus des Pamuk'schen Erzählens, das sich aber niemals völlig in ein "postmodernes" Spiel à la Italo Calvino verliert. Eher denkt man an die labyrinthische Erzählweise von Tausendundeine Nacht, durch die Jorge Luis Borges sich an die Theorie erinnert fühlte, der zufolge jede Monade, der kleinste Baustein des Kosmos, den ganzen Kosmos in sich enthält.

Man kann Das schwarze Buch auf unterschiedliche Art lesen: als spannenden Kriminalroman, als Mystery-Thriller, der in die Geheimnisse Istanbuls und der orientalischen Kultur einführt, als visionäre Darstellung der Stadt in einer Zeit des Umbruchs; als Studie über die verborgenen Beziehungen zwischen Orient und Okzident; oder auch als Reflexion über Identität, über die Rolle innerhalb der eigenen, in sich gespaltenen Kultur. Pamuks Buch ist ein Dokument der Zerrissenheit, des Schwankens zwischen sinnentleerten Traditionen, Aberglauben und westlichen Vorbildern.

Die Stadt am Bosporus, heute eine Metropole von zwölf Millionen Menschen, spielt in Pamuks Werk eine überragende Rolle. So wie Joyce der Autor von Dublin, Kafka der Autor von Prag, Dostojewski der Autor von St. Petersburg ist, so ist Pamuk der Autor von Istanbul. Die Faszination der Stadt hat mit ihrer vergangenen Größe zu tun, die im Umbruch der Gegenwart immer noch erkennbar ist. Diese "Mehrzeitigkeit" tritt unter dem melancholischen Blick hervor, mit dem Pamok die einstige Metropole des Osmanischen Reiches betrachtet, um noch in ihrem Verfall oder im rasenden Tempo der Veränderung ihren früheren Glanz wiederzufinden. Diese Melancholie ("Hüzün" lautet das türkische Wort dafür) zieht sich wie ein schwermütiges Band durch sein ganzes Werk. Man denkt an das ägyptische Alexandria von Lawrence Durrell, an das Triest Italo Svevos, an das Lissabon von Fernando Pessoa. So auch bei Orhan Pamuk. Man muss ihn zu den Autoren zählen, die die alten Metropolen rund um das Mittelmeer zu neuem literarischen Leben erweckt haben.

In Istanbul ist die Stadt nicht das labyrinthische Ambiente einer erfundenen Romanhandlung, hier erzählt Pamok in direkter Form von ihr, verbunden mit der Geschichte seiner Familie und seines eigenen Lebens. An einer Stelle des Buches sagt Pamuk, es sei seine Absicht, "durch mich über Istanbul und durch Istanbul über mich zu berichten". Eine Art Doppelgängerei, und die Stadt am Bosporus verkörpert das andere Ich des Autors. Ein Hauch von Buddenbrooks ist spürbar: der Verfall der privilegierten und reichen Pamuk'schen Industriellenfamilie, synchronisiert mit dem Verfall oder Umbruch der Stadt. Nicht zuletzt wird von der Selbstfindung eines Schriftstellers erzählt, der zunächst Maler werden wollte, obwohl dieser Beruf in einer Kultur des Bilderverbots wenig aussichtsreich ist. (Das ist das große Thema des Romans Rot ist mein Name von 2001.)

Das letzte Kapitel von Istanbul enthält ein Streitgespräch mit der Mutter, die den Sohn mit allen Mitteln vom Beruf des Künstlers abzuhalten sucht. An diesem Abend stehen ihm die Straßen von Istanbul vor Augen, die schmutzigen, dunklen und traurigen Straßen der Stadt, die er liebt und immer wieder glücklich durchstreift - sie haben ihn zum Schriftsteller reifen lassen. Am Ende heißt es: "Ich wusste ..., dass ich bald auf die tröstenden Straßen hinaustreten und nach einem langen Gang um Mitternacht nach Hause kommen und mich an meinen Tisch setzen würde, um aus der Atmosphäre dieser Straßen heraus etwas zu produzieren. 'Ich werde nicht Maler', sagte ich. 'Ich werde Schriftsteller.'"


Orhan Pamuks neuer Roman ("Das Museum der Unschuld", 576 S., 24,90 Euro) ist soeben im Hanser Verlag, München, erschienen.

Hanjo Kesting (* 1943). Seit 2006 ist er Kulturredakteur dieser Zeitschrift. Im Mai ist von ihm bei Wallstein erschienen: Ein Blatt vom Machandelbaum. Deutsche Schriftsteller vor und nach 1945.


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2008, S. 63-66
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Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Dezember 2008