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PROFIL/101: Zum 200. Geburtstag von Emily Brontë (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2018

Ein Wesen ganz eigener Art
Zum 200. Geburtstag von Emily Brontë

von Hanjo Kesting


Die Schwestern Charlotte, Emily und Anne Brontë stammten aus einem abgelegenen Pfarrhaus in Yorkshire, alle drei schrieben Romane, und obwohl sie die ländliche Abgeschiedenheit ihres Dorfes Haworth kaum einmal verließen, gehören sie alle heute der Weltliteratur an: Anne mit den Romanen Agnes Grey und The Tenant of Wildfell Hall, Emily mit Wuthering Heights, Charlotte mit Jane Eyre und noch einigen anderen Büchern. Ihre Lebensläufe und Werke geben Rätsel auf, die sich nicht lösen lassen.

Ihre Debütwerke erschienen 1847 - es war das annus mirabilis, das wunderbare Jahr der Brontë-Schwestern. Doch ereignete sich das Wunder nicht völlig voraussetzungslos, denn ein ganzes Jahrzehnt literarischer Aktivitäten war vorausgegangen. Schon früh errichteten die "unheimlich begabten, spitzfindigen, spinnfitzigen, merkwürdigsten Kinder", wie Arno Schmidt sie genannt hat, Fantasiereiche aus Papier, die sie "Angria" und "Gondal" nannten, unter der glühenden Sonne Afrikas und im nördlichen Pazifik gelegen. Sie spielten mit dieser Fantasiewelt, erfindungsreich, launisch und herrisch. In ihren Erzählungen verbanden sie Weltgeschichte mit Märchen, das Reich der Feen und Zauberer mit "vaterländischen" Heldentaten, Geschichten von Liebe und Hass mit Völkerschlachten und politischen Intrigen. Mithilfe von Landkarten, Porträts, Zeitungen, Dramen und Geschichten schufen sie eine Fabelwelt, die mit rund 2.000 Druckseiten umfangreicher ist als alles, was die Brontës später zu Papier brachten. Die Grenzen zwischen dem kindlichen und dem erwachsenen Schreiben sind fließend, denn die literarischen Spielereien sind ein gefährlicher Besitz, der seine Eigentümer/innen nicht loslässt und die Wirklichkeit in einen Tagtraum verwandelt. Gerade Emily Brontë hat zentrale Elemente ihrer Gondal-Welt in den Roman Wuthering Heights übernommen.

Dieser Roman, ihr einziger, löste bei seinem Erscheinen einen Sturm der Entrüstung aus, denn er fiel aus den moralischen und literarischen Konventionen der Zeit völlig heraus. Der Charakter des Buches ist nicht eindeutig zu bestimmen. Es ist eine Familiengeschichte, die gut drei Jahrzehnte und drei Generationen umfasst, eine Liebesgeschichte, die sich in zwei spiegelbildlich angelegten Dreiecksverhältnissen entfaltet, nicht zuletzt ein Melodram, das auf Elemente der "Gothic Novel", des Schauerromans und der Gespenstergeschichte zurückgreift. Doch all diese Charakterisierungen beschreiben nicht das Wesentliche. Das Buch ist wie ein Naturereignis, handelt von elementaren Leidenschaften und getriebenen Menschen. So verwundert es nicht, dass das viktorianische England mit Empörung auf das Buch der Pfarrerstochter reagierte, die es vorsichtshalber unter dem männlichen Pseudonym Ellis Bell hatte erscheinen lassen.

Über die mittlere der Brontë-Schwestern hat Somerset Maugham gesagt: "Sie ist eine seltsame, rätselhafte und undeutliche Gestalt. Man sieht sie nie direkt, sondern gleichsam als Spiegelbild in einem Moorteich. Was für eine Frau sie war, muss man erraten - anhand ihres einzigen Romans." Wir wissen wenig über sie, obwohl sie Gegenstand einiger dickleibiger Biografien geworden ist. Meist erscheint sie darin im schwesterlichen Gruppenbild als die unzugänglichste, verschlossenste, unnahbarste der Schwestern - nach dem Zeugnis Charlottes hatte sie "für menschliche Wesen nie etwas übrig; die Summe ihrer Liebe galt, von A bis Z: Tieren." Charlotte fuhr fort: "Sie war kein Mensch, der das Herz auf der Zunge trug, und selbst die, die ihr am nächsten standen und am liebsten waren, hätten nicht unerlaubt und ungestraft in sie dringen dürfen, um ihre geheimsten Gedanken und Gefühle zu erfahren." Diese Erfahrung macht Charlotte in schmerzhafter Weise selbst, nachdem sie zufällig auf Emilys Manuskripte gestoßen war: "Ich überflog das Bändchen und war sofort überzeugt, dass es sich nicht um gewöhnliche dichterische Ergüsse handelte und auch nicht um die Sorte von Poesie, wie sie Frauen im Allgemeinen schreiben. Ich hielt die Verse für dicht und knapp, leidenschaftlich und aufrichtig. Für mein Ohr besaßen sie eine besondere Musik - wild, melancholisch und erhaben. Aber nachdem ich diese Entdeckung gemacht hatte, dauerte es Stunden, Emily zu versöhnen, und Tage, sie davon zu überzeugen, dass solche Gedichte es verdienten, veröffentlicht zu werden."

Es gibt Hinweise darauf, dass Emily Brontë, während der Roman in ihr Gestalt annahm, Erzählungen der deutschen Romantiker, speziell E.T.A. Hoffmanns, las und zu diesem Zweck sogar Deutsch lernte, weil diese so geheimnisvollen und nachtdunklen Geschichten ihrem Naturell besonders entgegenkamen. Die Brontë-Forscherin Winifred Gérin hat einen Großteil ihres Lebens mit dem Studium dieser Familie verbracht und vier Bände darüber verfasst, aber im vierten und letzten Band über Emily entwirft sie ein geheimnisvolles Genie, ohne dass es dem/der Leser/in gelingt, das Geheimnis zu lüften und dem Genie nahezukommen. Zuweilen erscheint Emily als ehrfurchtsvolle, pantheistische Schwärmerin, dann wieder als eher "männliches" Wesen, von dem die Dorfbewohner sagten, dass sie etwas "Nachlässiges und Jungenhaftes hatte, wenn sie, weit ausschreitend, über die Moore stiefelte und dabei nach ihren Hunden pfiff". All das fügt sich nicht zu einem geschlossenen Bild zusammen, und so muss man sich wohl oder übel dem Befund der Literaturwissenschaftlerin Elizabeth Hardwick anschließen: "Niemand und keine Menge an Tatsachen kann Emily Brontës Charakter Fleisch geben."

In ihrem Roman Wuthering Heights erzählt sie eine komplizierte, verästelte, schicksalhaft aufgeladene Familiengeschichte voller Wirrnisse, mit Menschen, die von elementaren Leidenschaften getrieben werden, voran das große Liebespaar, der dämonische Heathcliff und Catherine, die in frühen Jahren in ihn verliebt war, ihm später aber nur eine Freundschaft anbietet. Nachdem sie einen anderen Mann geheiratet hat und bei der Geburt einer Tochter gestorben ist, versucht Heathcliff - damit wird die Tiefenschicht des Buches berührt - die Tote wiederzubeleben. Elisabeth Bronfen, die Zürcher Literaturwissenschaftlerin, die so scharfsinnig das Thema Tod und Weiblichkeit in der angelsächsischen Literatur untersucht hat, schrieb: "In Wuthering Heights geht es um ein unvollkommen verschlossenes Grab, durch das eine beigesetzte Tote unter den Lebenden verbleibt." Für Heathcliff ist Catherine nicht tot, sie spukt und geht um, sucht ihn heim, ganz in dem Sinne seines Wortes: "Ich glaube fest an Gespenster." Heathcliff ist eine der fesselndsten Gestalten der englischen Literatur, in manchen Zügen den düsteren Helden Lord Byrons ähnlich: wenig anziehend, finster, bedrohlich, aber auf seine Weise großartig. Bei aller Aufgeregtheit wirken Emily Brontës Figuren niemals komisch oder lächerlich, sie wirken eher überlebensgroß, die "normale" Wirklichkeit übersteigend.

Jenseits ihrer Epoche

Meistens verraten Romane, in welcher Zeit sie entstanden sind, es lässt sich ablesen an ihrer Sprache, ihren gesellschaftlichen Milieus, ihren Moralvorstellungen. Wuthering Heights stellt eine Ausnahme dar. Das Buch hat keinen Bezug zur Romanliteratur seiner Zeit. Vergleicht man es mit den Romanen von Charles Dickens und William Makepeace Thackeray (dessen berühmtes Vanity Fair kam im selben Jahr 1847 heraus) oder auch mit Jane Eyre ihrer Schwester Charlotte, dann findet man keine Anhaltspunkte dafür, dass diese Bücher gleichzeitig geschrieben wurden. So kann es nicht verwundern, dass Wuthering Heights bei den Zeitgenossen auf Unverständnis stieß. Ein Rezensent sprach von einer "unerfreulichen Geschichte", ein anderer schrieb: "Wir kennen nichts in der ganzen Spannweite unserer Romanliteratur, das solche schockierenden Bilder der schlimmsten Ausformungen der Menschheit darbietet." Selbst Charlotte Brontë konnte ein Unbehagen nicht unterdrücken; anlässlich einer Neuauflage schrieb sie: "Ich zwinge mich, dieses Buch, das ich seit dem Tod meiner Schwester nicht angerührt habe, wieder zu lesen. Seine Kraft erfüllt mich mit neuer Bewunderung, und doch bedrückt es mich: Der Leser darf sich kaum einen Augenblick unbeeinträchtigten Vergnügens hingehen, jeder Sonnenstrahl fällt durch dunkle, bedrohliche Wolkenstreifen; jede Seite ist wie mit einer Art von moralischer Elektrizität aufgeladen (...)" Sie hat noch hinzugesetzt: "Ob es richtig oder ratsam ist, Wesen wie Heathcliff zu erschaffen, weiß ich nicht: ich kann es schwerlich glauben."

Trotz aller romantischen Züge besitzt Emily Brontës Roman eine enorme realistische Kraft und psychologische Modernität. Die erzählerische Energie des Vortrags erweckt den Eindruck, als sei ein Damm gebrochen und die Fluten stürzten wasserfallartig zu Tal. Die düstere Moorlandschaft von Yorkshire, die Emily Brontë so gut vertraut war, bildet den Schauplatz, ein "Paradies für Menschenfeinde", wie es anfangs genannt wird. Mitten darin steht das sturmumtoste Anwesen Wuthering Heights, eben die "Sturmhöhe", die dem Buch seinen Titel gab. Und die Figuren, auch wo sie erschreckend und furchtbar sind, sind voll von brausendem Leben und verankern sich unvergesslich im Gedächtnis der Leserschaft.

Zweifellos war Emily Brontë, nach einem Ausdruck Arno Schmidts, der "Groß-Genius der Familie". Erfolg und Ruhm ihres anfangs umstrittenen, seiner Leidenschaftlichkeit wegen zeitweise verpönten Buches hat sie nicht mehr erlebt. Als sie mit nur 30 Jahren starb, schrieb die ältere Schwester Charlotte zu ihrem Gedenken: "Stärker als ein Mann, einfacher als ein Kind, ein Wesen ganz eigener Art."

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 7-8/2018, S. 98 - 100
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung
Redaktion: c/o Friedrich-Ebert-Stiftung
Hiroshimastraße 17, 10785 Berlin
Telefon: 030/26 935-7151, -52, -53, Telefax: 030/26935 9238
Internet: www.ng-fh.de, E-Mail: ng-fh@fes.de
 
Die NG/FH erscheint zehnmal im Jahr (Hefte 1+2 und 7+8 als Doppelheft)
Einzelheft: 5,50 Euro zzgl. Versand
Doppelheft: 10,80 Euro zzgl. Versand
Jahresabonnement: 50,60 Euro frei Haus


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. August 2018

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