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BUCHTIP/1013: Neandertaler leben auf (MaxPlanckForschung)


MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft 3/2006

Neandertaler leben auf

Thorsten Naeser


Bärbel Auffermann, Jörg Orschiedt
Die Neandertaler - auf dem Weg zum Modernen Menschen,
160 Seiten mit 140 farbigen Abbildungen und Karten,
Theiss-Verlag, Stuttgart 2006, 29,90 Euro.


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Das Vorhaben ist ehrgeizig: In zwei Jahren wollen die Wissenschaftler um Svante Pääbo, Direktor der Abteilung für Evolutionäre Genetik des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie, einen ersten Entwurf des Neandertalergenoms vorlegen. Das kündigten die Leipziger Forscher zum 150- jährigen Jubiläum der Entdeckung des ersten Neandertalerskeletts an.

Über die genauen Fundumstände damals, Ende August des Jahres 1856 im Neandertal nahe Düsseldorf, ist wenig bekannt. Eingebettet war das Skelett, das auf dem Rücken mit dem Kopf zu einem Höhleneingang gefunden wurde, in eine dicke Lehmschicht. Johann Carl Fuhlrott, Lehrer und Naturforscher, den man zur Begutachtung der Knochen herbeigerufen hatte, sah sofort, was für ein bedeutender Schatz hier vor ihm lag. Es musste sich um die Überreste eines Menschen aus der Eiszeit handeln.

Die Knochenfunde im Neandertal waren die ersten Teile in einem riesigen Puzzelspiel, das sich über Europa erstreckt, denn im Laufe der Zeit fanden Forscher Knochenfossilien der Neandertaler über den ganzen Kontinent verteilt. Diese Überreste zeichnen heute ein umfassendes Bild unserer Vorfahren, das Bärbel Aufferman und Jörg Orschiedt in ihrem Buch zum 150. Jahrestag der Entdeckung des ersten Skeletts vorstellen.

Heute weiß man, dass der Neandertaler keineswegs dumm oder primitiv war, wie man lange Zeit annahm. Ganz im Gegenteil: Archäologische Befunde lassen das Bild eines voll entwickelten Menschen entstehen - zwar mit archaischer Gestalt, aber modernem Verhalten, schreiben die beiden Archäologen. Sie zeichnen in ihrem Werk ein abgerundetes und facettenreiches Bild der Frühmenschen, die vor rund 30000 Jahren ausstarben und damit den modernen Menschen das Feld überlassen mussten. Besonders angenehm wird die Lektüre durch die zahlreichen künstlerischen Illustrationen, die einprägsame Rekonstruktionen darstellen und somit eine gute Vorstellung vermitteln, wie die Neandertaler ausgesehen haben müssen und unter welchen Umständen sie gelebt haben. Zudem führt umfangreiches Kartenmaterial die Wanderwege der Neandertaler über die Jahrtausende plastisch vor Augen. Neben dem leicht verständlichen Textteil mit den ausgiebigen Bebilderungen werden am Ende des Buchs zudem die wichtigsten wissenschaftlichen Methoden beschrieben, die den Anthropologen heute zum Studium der Knochenfragmente dienen. So bekommt man einen umfassenden Überblick über den aktuellen Stand der Erforschung unserer Vorfahren.

Doch Auffermann und Orschiedt machen auch deutlich, dass noch lange nicht alle Fragen um die Neandertaler und ihr plötzliches Aussterben geklärt sind. Genau bei diesen Fragen, die am Ende des Buchs noch offen sind, setzen nun die Max- Planck-Wissenschaftler um Svante Pääbo mit der Entschlüsselung des gesamten Genoms an. Dazu verwenden sie eine neue Technologie, die es ermöglicht, Zellkern-DNA aus Neandertalerfossilien zu entnehmen und zu entschlüsseln - was mit bisherigen Methoden nicht möglich war. Als ersten Test haben die Forscher bereits etwa eine Million Basenpaare der Zellkern-DNA eines 38000 Jahre alten Neandertalerfossils aus Kroatien entziffert.

Nach der Entschlüsselung wollen die Leipziger Anthropologen das Neandertaler-Erbgut dann vergleichen mit dem des Menschen und dem des Schimpansen. Das soll helfen, die evolutionäre Verwandtschaft von Mensch und Neandertaler aufzuklären und die genetischen Veränderungen zu identifizieren.


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Quelle:
MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftmagazin der Max-Planck-Gesellschaft
Ausgabe 3/2006, S. 77
Herausgeber: Referat für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der
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