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BUCHTIP/1117: Andreas von Klewitz - Das Lied des Polyphem (DER RABE RALF)


DER RABE RALF
Nr. 143 - April/Mai 08
Die Berliner Umweltzeitung / REZENSIONEN

Vom Gesangsschüler zur SS
Psychogramm eines Massenmörders

Von Oliver Nowak


Wie wird ein Mensch zum Mörder? Was bringt einen schüchternen, verklemmten Gesangsschüler dazu, sich der SS anzuschließen und in Weißrussland grausame Verbrechen an Unschuldigen zu begehen? Diese Frage zieht sich durch den Roman "Das Lied des Polyphem" von Andreas von Klewitz. Der Berliner Historiker, Autor und Musiker ist mit dem Buch gegenwärtig in Weißrussland auf Lesungsreise.

Der fiktive Roman erzählt die Geschichte des Harald Gerneweg. Eingebettet ist die Handlung in die Darstellung des Prozesses eines sowjetischen Militärtribunals gegen Gerneweg. Aufgewachsen in "gutbürgerlichen" Verhältnissen in Berlin-Dahlem, besteht sein Leben zunächst aus Misserfolgen. Harald ist ein frustrierter, einsamer Duckmäuser, der am liebsten die Ohren vor der lauten, als feindlich empfundenen Außenwelt verschließen möchte. Seine einzige Passion, das Singen, gibt er nach zwei verpatzten Aufnahmeprüfungen an der Kunsthochschule auf. Ziellos lebt er vor sich hin. Bis ihn sein einziger Kumpel Zarewski, ein rauer trinkfester Arbeiterjunge, überredet sich der SS anzuschließen. Für den unsicheren Gerneweg, den Politik und Propagandarhetorik eigentlich zutiefst abstoßen, ist dies die Chance, endlich die lang ersehnte Anerkennung zu bekommen, ohne sich zu exponieren - in seinem Schreibtischjob muss er zunächst nur mit Aktenbergen kämpfen. Im "Dienst der Sache" an die Ostfront abberufen, werden diese Unsicherheit und das mangelnde Selbstwertgefühl dann zur Triebfeder seines Handelns. Im Rausch aus Alkohol und Blut versucht er sich den Respekt der Kameraden zu sichern und metzelt im "Partisanenkampf" nicht nur unschuldige Zivilisten nieder - sondern letztlich auch sein eigenes Gewissen.

Parallel dazu erzählt der Roman die Geschichte der Jüdin Anna Meyer. Sie, einst Haralds heimliche erste unerfüllte Liebe, überlebt die Deportation und das Minsker Ghetto, um sich den Partisanen anzuschließen. Eine Erschießungsaktion von Gernewegs SS-Einheit führt die Wege der beiden zusammen. Schließlich steht sie ihm als Hauptzeugin im Prozess gegen die Täter wieder gegenüber.

Was die Qualität des Buches ausmacht, ist nicht so sehr die fiktive Handlung. Vielmehr ist es der gelungene Versuch, Schlagworte wie "Verrohung", "willige Vollstrecker" und "Banalität des Bösen" greifbar und im weitesten Sinne verstehbar zu machen.

Andreas von Klewitz wagt mit diesem Buch eine Gratwanderung. Denn der Leser wird darin nicht nur mit den blutigen Verbrechen der SS-Totenkopf-Verbände in Osteuropa konfrontiert - diese sind aus historischen Dokumentationen dem Interessierten wohl bekannt

Was den Roman aber auszeichnet, ist die beklemmende Art, in der er sich dem Täter und seinem Denken nähert. Uns näher bringt den Rechtfertigungen und Beweggründen eines Menschen, den wir zunächst am Liebsten verurteilen und aus unserem Kreis der "Zivilisierten" ausstoßen wollen. Bis zu dem Punkt, an dem es dem Leser weh tut. Hin zu der Frage: Ist unsere eigene moralische Integrität, unsere Vorstellung das Gute und Rechte zumindest tun zu wollen, wirklich soweit erhaben über die Abgründe menschlicher Bestialität? Die Motive für die unmenschlich grausamen Taten sind oft nur allzu menschlich, wie es von Klewitz im Vorwort formuliert.

Darum wird "Das Lied des Polyphem" auch ausdrücklich empfohlen. Nicht nur Lesern, die sich für das Thema Nationalsozialismus interessieren. Sondern auch allen, die sich Gedanken darüber machen, was Menschen dazu bringen kann, Hemmungen und moralische Vorbehalte unserer "zivilisierten Gesellschaft" abzuwerfen und zum bestialischen Massenmörder zu werden.


Andreas von Klewitz
Das Lied des Polyphem
Parthas Verlag, Berlin 2004
326 Seiten, 24 Euro
ISBN 3-936324-17-4


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Quelle:
DER RABE RALF - 19. Jahrgang, Nr. 143, April/Mai 08, S. 23
Herausgeber:
GRÜNE LIGA Berlin e.V. - Netzwerk ökologischer Bewegungen
Prenzlauer Allee 230, 10405 Berlin-Prenzlauer Berg
Tel.: 030/44 33 91-47/-0, Fax: 030/44 33 91-33
E-mail: raberalf@grueneliga.de
Internet: www.grueneliga-berlin.de/raberalf

Erscheinen: zu Beginn gerader Monate
Abonnement: 10 Euro/halbes Jahr


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Mai 2008