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SF-JOURNAL/045: Autoren... Mary Shelley, der menschliche Größenwahn (SB)


Mary W(ollstonecraft) Shelley, (1797-1851)


Anfang des 19. Jahrhunderts schrieb die junge Mary W. Shelley einen utopischen Roman, der ein über die Jahrhunderte hinweg aktuelles Werk bleiben sollte, denn sein Thema berührt das Grundproblem der Alchimisten, ist Antrieb für unzählige Forschungsansätze in den Naturwissenschaften, für Spekulationen von Theologen, Philosophen, Medizinern und für endlose Versuchsreihen von Technikern. Gemeint ist der heute durch gentechnische Ambitionen wieder in die öffentliche Diskussion geratene Traum vom künstlich erzeugten Menschen - "Frankenstein".

Und wenn es nur der Gruseleffekt ist, der durch die Tragik des Versuchs entsteht, nutzloses, scheinbares Wissen über die Entstehung des Lebens praktisch umsetzen zu wollen, so reicht er schon aus, um viele Filmversionen damit zu füllen, Frankenstein-Spielzeugmonster zu vermarkten und mit den Schauergefühlen der Zuschauer in künstlerischen Darbietungen zu kalkulieren. Denn neuerdings lebt "Frankenstein" - nach fast zweihundert Jahren -wieder auf, diesmal im Theater in Luzern unter der Regisseurin Meret Matter, die den Versuch unternommen hat, die Atmosphäre einzufangen, in der "Frankenstein" entstanden sein soll:

Im Luzerner Theater war's so finster, als ob das Licht noch nicht erschaffen worden wäre, und es brummelte und ächzte bedrohlich. Das Weltall schien aus den Fugen, das Leben in Unordnung geraten. [...] Blitze zuckten in der Ferne. Ein Mensch in Kutte bahnte sich an der Rampe entlang seinen Weg und machte mit dem Ort und den handelnden Personen der folgenden Geschichte bekannt: Die Villa Diodati bei Chappuis am Genfer See im Jahre 1816. Dort hatte Lord Byron Quartier bezogen, der berüchtigste Poet seiner Zeit. Mit ihm sein Leibarzt John Polidori, der Dichter Percy Bysshe Shelley und Mary Wollstonecraft Shelley, Tochter einer der ersten Kämpferinnen für die Gleichberechtigung der Frau.

Scheinwerfer greifen ins Dunkel, leuchten die vier Gestalten aus, die wie für ein Bild Gainsboroughs posierend in der Originalsprache wetteifern, wer der bedeutendste Dichter hier sei.
(aus dem Feuilleton der Süddeutschen Zeitung vom 21.11.2000)

Hinter dieser bedrängenden Situation wird (auf einer Hinterbühne) von Dr. Frankenstein das Monster erweckt.


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Persönliche Daten

Mary wurde 1797 als einziges Kind der Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft (die bei ihrer Geburt verstarb) und des atheistischen und anarchistischen Philosophen William Godwin geboren.

Schon früh lernte sie den großen englischen Dichter der Romantik, Percy Bysshe Shelley, kennen. Das revolutionäre Gedankengut ihres Vaters William Godwins übte starken Einfluß auf Shelley aus, so daß dieser Godwin auch materiell unterstützte, obwohl der junge Dichter selbst nicht gerade über umfangreiche Mittel verfügte, zudem er zu dieser Zeit noch verheiratet war. Trotzdem verliebte er sich in die junge Mary, und als er sich mit ihr einließ, lernte er ihren Vater von einer anderen Seite kennen: Der Vorkämpfer für absolute Freiheit war ein streitbarer Verfechter ehelicher Treue, und er warf Shelley die Liebschaft zu seiner Tochter als unmoralische Verderbtheit vor.

Shelley war Atheist, der Selbsterkenntnis ohne Vorschriften durch Institutionen wie Kirche und Staat, Ehe und Handel begehrte und seine Zeitgenossen mit revolutionären Ideen von Freiheit verschreckte. Da seine radikalen Ansichten lebensgefährlich sein konnten, zog er sich bald auf philosophische Ideale zurück. Anstelle eines entbehrungreichen Kampfes konnte er sich nun den ungefährlicheren Emotionen hingeben. Seine freidenkerische Einstellung hatte ihm jedoch Feindschaften eingebracht, so daß er sich aufs Land zurückzog, wo er sich eine geruhsame Existenz als Schriftsteller und Dichter erhoffte.

1814 folgte Mary dem englischen Dichter auf den europäischen Kontinent, lebte dort mit ihm zusammen und heiratete ihn im selben Jahr.

Zusammen mit ihrem Freund, dem Dichter Lord Byron, unternahm das Paar im Sommer des Jahres 1816 eine Reise in die Schweiz in dessen Chalet am Genfer See. In ihrer Begleitung befand sich ebenfalls Claire Clairmont, Mary Wollstonecrafts Halbschwester und spätere Geliebte Lord Byrons. Sie traten damit einen Urlaub an, der noch heute eine Quelle fantastischer Spekulationen unter esoterisch angehauchten Literaturkennern bildet. Die in diesem Sommer geführten Gespräche und verfaßten Werke standen unter dem Thema einer Uminterpretation der Werte Gottes. Man stellte sich auf die Seite des Satans und appellierte an die Befreiung des Menschen aus eigener Kraft, ohne sich dazu in die Hand eines Gottes begeben zu müssen.

Man soll sich aber nicht nur in literarischer Weise mit diesen grundlegenden Fragen auseinandergesetzt, sondern auch zu okkulten Praktiken gegriffen haben. Nachdem man sich an einem verregneten Abend die Zeit mit dem Erzählen von Geistergeschichten vertrieben und über den Philosophen Erasmus Darwin und über Vampire gesprochen hatte, kam man überein, untereinander eine Art Literaturwettbewerb durchzuführen. Die düstere Atmosphäre dieses Sommers, bei der das Wetter, wie häufig in den Alpen, innerhalb von Minuten von idyllischer Sommerstimmung zu bedrohlichem Donnergrollen und Blitzezucken wechselte, inspirierte Mary Wollstonecraft (wie sie sich zu Ehren ihrer Mutter auch als Ehefrau Shelleys nannte) in Erinnerung an einen Traum zu dem Roman "Frankenstein or the Modern Prometheus".

Innerhalb eines Jahres war ihre Erzählung fertig: Der deutsch- schweizerische Naturwissenschaftler und Adept Baron Victor von Frankenstein will, von wildem Ehrgeiz besessen, aus Leichenteilen ein überdimensionales menschliches Wesen erschaffen. Es gelingt ihm auch, aber das Geschöpf findet wegen seiner Häßlichkeit nirgendwo Kontakt und wird von den Menschen, die in ihm ein Ungeheuer sehen, gejagt, bis es sich schließlich gegen seinen Schöpfer wendet und ihn vernichtet.

Mary Wollstonecraft überlebte die beiden Freunde Shelley und Byron lange Jahre, bis sie am 1. Februar 1851 mit 54 Jahren in London verstarb. Sie verfaßte noch diverse Romane, doch keiner erreichte auch nur annähernd den Bekanntheitsgrad des "Frankenstein". Dieser bewegte sich, als Monster verkommen, noch durch viele Filme. Er stellt Warnung und Sinnbild zugleich dar für menschlichen Größenwahn.


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Literatur:

Mary W. Shelley: "Frankenstein", übersetzt und herausgegeben von Christian Barth, 1963 Heyne Verlag, München


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Autoren
- Persönliche Daten
- neue Akzente für die Science Fiction-Literatur
- Zur Schreibtechnik
- Stellungnahmen zur Science Fiction
in Interviews und Romanen
- Werke mit Auszeichnungen und Verfilmungen
- Leseproben


Erstveröffentlichung am 8. Juli 2000

8. Januar 2007