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SF-JOURNAL/001: Geschichtliches... Definitionsprobleme (SB)


Geschichte der Science Fiction

Definitionsprobleme


Eine Frage des Standpunktes

Will man die Anfänge der Science Fiction-Literatur genauer bestimmen, stellt man sehr schnell fest, daß dies eine Frage des Standpunktes ist. Denn es besteht unter literarischen Fachkreisen Uneinigkeit über Qualität - genauer gesagt über die Inhalte - und Grenzen dieses literarischen Genres. Abenteuer, Unterhaltung, kurz gesagt Trivialität, bedarf doch keiner näheren literaturwissenschaftlichen Einordnung, gar als eigenes Genre! Ist "Science Fiction" überhaupt des Begriffes Literatur würdig und repräsentativ genug für literaturwissenschaftliche Untersuchungen, Kritiker-Zirkel und gehobene sprachliche Ansprüche? Die notorische Ignoranz auf der einen Seite führte zu einem notorischen Rechtfertigungs- und Präsentationszwang auf der anderen. Wie konnte sich das Genre Beachtung verschaffen? Hatten die Schriftsteller ein angemessenes Format?

Science Fiction-Literatur hat sich von der Einschätzung literarischer Fachleute unabhängig entwickelt. Es stellt sich die Frage: Ab wann fand sie solche Popularität und Aufmerksamkeit, daß sich immer mehr Schriftsteller an einen Rahmen hielten, der das Genre entstehen ließ? Deshalb ist die Definition von der Geschichte der Science Fiction nicht zu trennen, und es ist im Grunde unwichtig, ab wann der Begriff selbst zum ersten Mal auftauchte - er ist nur ein kleiner historischer Akzent in der Entwicklung.


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Science Fiction - ein Sammelbegriff

Man kann sagen, daß "Science Fiction" der Sammelbegriff für zahlreiche literarische Strömungen ist. Der Duden versteht unter "Science-fiction" (man beachte die Duden-Schreibweise, die unter Fachkreisen und Fans aus inhaltlichen Gründen mißbilligt und gezielt unterwandert wird)

... abenteuerlich-phantastische Dichtung utopischen Inhalts auf naturwissenschaftlicher Grundlage",

was jedoch nicht vollständig die Bereiche der Science Fiction-Autoren abdeckt. Denn "Science Fiction" hat nicht nur die Naturwissenschaften zur Grundlage, sondern auch Human- und Sozialwissenschaften - und, nicht zu vergessen, den zur Zeit immer größer werdenden Anteil an "Dichtung", auch "Fiktion" oder "Imagination" genannt oder einfach nur Prosa, was die "Science Fiction" heute nahezu untrennbar mit dem Genre der "Fantasy" verbindet.


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Hugo Gernsback - der Erfinder des Namens

Einigkeit besteht darin, daß der Name "Science Fiction" auf Hugo Gernsback (1884 - 1967) zurückgeht. 1926 gebraucht er diesen Ausdruck in Anlehnung an William Wilson, einen britischen Essayisten, nachdem Gernsback die Namen "Scientific Fiction" und "Scientifiction" wieder verworfen hat, um den beliebten Stories einen allgemein verständlichen Namen zu geben.

Schon 165 n. Chr. beschrieben die Griechen erste Raumfahrten. Es gab also genaugenommen schon in der Antike Inhalte, die man heute zur Science Fiction zählt. Später wurde ihre Form auch von den sogenannten "Utopien", die gesellschaftliche Mißstände aufzeigen, und den "Voyages Imaginaires" geprägt, wie die phantastischen Reisen im Frankreich des 18. und 19. Jahrhunderts heißen. Zusammen mit den Fortschritten auf wissenschaftlichem und technischem Gebiet im 19. Jahrhundert und den damit steigenden Buchveröffentlichungen war die Basis für das Entstehen eines neuen Genres geschaffen. Denn Lesen war jetzt nicht mehr nur den Gelehrten vorbehalten, und mit der Herausgabe von Zeitungen und anderen serienmäßigen Massenproduktionen bildete sich der Wunsch nach einer neuen Form von Unterhaltung in Bild und Text heraus. Hier eigneten sich kurze, unterhaltsame, spannende Geschichten.

Dieses Bedürfnis machte sich Hugo Gernsback zunutze: Der aus Luxemburg stammende Ingenieur, Sohn eines Weinhändlers, betrieb in New York einen Radio-Versandhandel. Er war auch ein Erfinder, der sich mit Radiobauteilen befaßte, und gab deshalb selbst technische Zeitschriften für seine Kunden heraus, in denen er manchmal zur Auflockerung utopische Kurzgeschichten abdruckte. Er merkte bald, daß viele Leser sein Blatt nur aus diesem Grunde kauften und machte sich den Marktwert dieser Erzählungen zu eigen, indem er ein Magazin herausbrachte, das ausschließlich der Unterhaltung diente: "Amazing Stories" - 1926 das erste Science Fiction-Magazin der Welt mit den beliebtesten Autoren utopischer Erzählungen seiner Zeit.


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Väter der Science Fiction

Science Fiction um die Jahrhundertwende war praktisch orientiert und befaßte sich zunächst nur eng mit naturwissenschaftlicher Thematik.

Jules Verne (1828-1905) verbindet wissenschaftlich-technische Neuerungen schon vor Gernsbacks Zeiten mit der Romanform. Man nennt ihn auch den "Vater der Science Fiction". Bei ihm stehen Schilderungen technischer Vorgänge im Mittelpunkt, und trotzdem schreibt er "Dichtung", Unterhaltungsliteratur, auch für die Jugend.

H.G. Wells (1866-1946) orientiert sich zunächst an Jules Verne, aber als Science Fiction um die Jahrhundertwende ein begehrter Teil der neuen, billigen Massenpublikationen wird, erscheinen im "Strand Magazine" viele Stories von H.G. Wells, deren Schwerpunkt sich von dem Vernes unterscheidet: Wells legt mehr Wert auf soziale Entwicklungen. Wie populär Science Fiction-Inhalte geworden sind, zeigt der Aufruhr um die Hörspielfassung von H.G. Wells "War of the World" (1938 von Orson Welles in Hörspiel-Reportagenform gebracht). Sie versetzt Hunderttausende amerikanischer Bürger in Angst und Schrecken, weil sie das Hörspiel für einen Tatsachenbericht halten und sich von Marsbewohnern bedroht fühlen.

Bald verändern sich die sogenannten "Scientific Romances" ("wissenschaftliche Abenteuer"), indem sie nun nicht mehr so sehr auf wissenschaftliche Genauigkeit abzielen, sondern auch exotische Orte und mehr Dramatik in die Handlung mit einbeziehen.

Joan D. Vinge beschreibt 1980 in einem Interview die Absicht, die hinter der engen Verknüpfung von Science Fiction und Fantasy steckt. Ihr sind fremde Hintergründe und Denkansätze wichtig und ein Weltbild, das sich von unserem völlig unterscheidet. Sie sagt, die Mischung aus Science Fiction und Fantasy bietet die Möglichkeit, Ideale zu entwerfen, die man in der Gesellschaft, in der man selbst lebt, verwirklicht sehen möchte.

Schließlich kann man den Begriff Science Fiction und seine Abgrenzung zur Fantasy am besten so definieren, wie ihn Jack Williamson, ein Altmeister der amerikanischen Science Fiction und Kenner der Frühgeschichte, 1976 in einem Interview mit Darrell Schweitzer beschrieben hat:

Ich greife gern Dinge auf, deren Realisierung mir möglich erscheint. Das kommt daher, weil ich dazu neige zu glauben, daß Science Fiction tauglich ist, Alternativen aufzuspüren, und ich gebe mir wirklich Mühe bei dem Versuch, eine Geschichte wissenschaftlich haltbar abzusichern. Aber Geschichten entwickeln eine Eigendynamik, wenn sie geschrieben werden. Am wichtigsten ist wohl, daß man an eine Geschichte glaubt - und wenn sie auf handfester wissenschaftlicher Grundlage angesiedelt ist, fällt es leichter, daran zu glauben. [...] Ich meine, daß die Science Fiction die Aufgabe leistet, unangenehme Alternativen aufzuzeigen, aber ich würde es auch für klug halten, vorwärtszuschauen, zu sehen, wohin wir gehen, und zu versuchen, die Richtung zu beeinflussen. Science Fiction kann dergleichen gewiß tun [...]. Viele Wissenschaftler haben Science Fiction gelesen, und von `Astounding' wurden Tausende von Exemplaren in Los Alamos und Oak Ridge verkauft, wo man an der Atombombe arbeitete. Es gibt durchaus eine Wechselwirkung zwischen der Science Fiction und der Wissenschaft, aber man kann die Auswirkungen nicht dokumentieren. Ohne Zweifel ist die Science Fiction Teil des Bewußtseins, der Kultur, des Denkens in unserer Gesell- schaft ...
(aus: H.J. Alpers [Hrsg.]: Das Kristallschiff, München 1980, Knaur Verlag, S.188f)


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Die Definition könnte nur noch an Präzision gewinnen, wenn man die vielen Bereicherungen aufzählen würde, die Pioniere, Förderer, preisgekrönte Autoren, junge Talente und Drehbuchautoren dem Genre im Laufe der Jahre hinzufügten. Kaum ein anderer literarischer Bereich läßt einem Autoren so viele Möglichkeiten, sich ohne Darstellungsprobleme - das heißt mit ansteckender Freude - inhaltlichen Schwerpunkten zu widmen, die an die Grenzen des menschlichen Denkvermögens, zwischenmenschlicher Interessen, Wahrnehmungsfähigkeiten und Absichten stoßen. Man könnte auch sagen: Science Fiction-Literatur legt wie keine andere literarische Gattung menschliche Unzulänglichkeiten bloß, sprengt Tabus und eröffnet damit ein Stück Realismus.

Höhepunkte und Akzente in der Entwicklung des Genres, Hinweise auf Bemerkenswertes, Erfreuliches und Wissenswertes sollen Gegenstand dieses "Journals" werden.

Erstveröffentlichung 1997

6. Januar 2007