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SF-JOURNAL/013: Geschichtliches... New Wave, die englische Avantgarde (SB)


Geschichte der Science Fiction

New Wave


Frischer Wind in der "vergilbten und staubtrockenen" Science Fiction der 60er Jahre (Michael Moorcock)

Ein inhaltlicher Wendepunkt in der Geschichte der Science Fiction- Literatur trat ein, als sich einige mutige britische Autoren über alle Konventionen des Genres hinwegsetzten. Sie verweigerten sich den Weltraumgeschichten und verschafften sich mit politisch engagierter und experimenteller Prosa ein breites öffentliches Diskussionsforum - und Ablehnung bei den konservativen SF-Lesern.


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Der Beginn

Die Entstehungsgeschichte der "New Wave"-Bewegung ist besser nachvollziehbar, wenn man sich die Situation der englischen Literatur in den späten 60er Jahren vor Augen hält: Eine breite Schicht Jugendlicher war mit der kulturellen Stagnation und der Politik unzufrieden und begann sich rücksichtslos über überkommene Traditionen hinwegzusetzen. Für die SF-Literatur hieß das, sich nicht mehr an der beliebten Space Opera zu orientieren, sondern an den Stilmitteln der gehobenen Literatur, in Anlehnung zum Beispiel an Dos Passos, James Joyce, Jorge Borges, Michael Butor oder Alain Robbe- Grillet und Franz Kafka. Surrealistische Elemente kamen hinzu, man entdeckte den "inneren Raum" (die "psychische Landschaft") und es fiel immer schwerer, die SF-Stories von Erzählungen der Gegenwartsliteratur zu unterscheiden. Gleichzeitig mit den stilistischen Neuerungen änderten sich auch die Inhalte. Drogen und Sex, Rassenaufstände und der Vietnamkrieg wurden thematisiert. Gewalttätigkeit und Moralvorstellungen wurden in Frage gestellt, die zu einem System politischer Unterdrückung führten. Außerdem dehnte sich die Science Fiction in neue Bereiche aus: SF-Motive hielten Einzug in Popmusik, Malerei, Drama und Lyrik.


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"New Worlds"

Eine zentrale Gestalt dieser Bewegung war der Musiker und SF-Autor Michael Moorcock, damals bereits bekannt durch seine Heroic Fantasy um die zentrale Figur des Elric von Melniboné. 1964 wurde ihm durch die Vermittlung seines Freundes, Förderers und Herausgebers Ted Carnell die Führung des 1946 gegründeten und nun heruntergewirtschafteten englischen SF-Magazins "New Worlds" angeboten. Moorcock nahm an und blieb lange Zeit verantwortlicher Herausgeber dieser Zeitschrift.

Da Moorcock äußerst experimentierfreudig war, ließ er den Autoren von Anfang an mehr künstlerische Freiheit und förderte ein Interesse, das größeren Wert auf literarische Neuheiten als auf wissenschaftliche Utopien legte. Formal sollten extreme Stilformen, inhaltlich eine neue Moral bestimmend sein.

Schon in der 1. Ausgabe definierte er die ungewöhnliche Richtung: Er wollte eine "neue Literatur für das Raumzeitalter" und kümmerte sich um Autoren mit neuen und unkonventionellen Ideen. Innerhalb kürzester Zeit verwandelte er das konservative Magazin zu einem Forum für alle Bereiche experimenteller Prosa und Lyrik. Nur wenige Stammleser zeigten sich so flexibel, dem neuen Trend zu folgen. So gingen die Auflagezahlen zurück.

Zunächst überbrückte Moorcock finanzielle Schwierigkeiten, indem er Anthologien aus dem Material seiner Autoren herausgab und selbst Fantasy Romane schrieb, deren Gewinn er in "New Worlds" investierte, um Verluste zu decken.

Außerdem hatte Moorcock begeisterte Anhänger seiner Ideen unter der jüngeren SF-Autorengeneration. Damon Knight schloß sich zum Beispiel an, und es folgten begeistert Brian W. Aldiss, John Brunner, Charles Platt und die Amerikaner Thomas Dish, John Sladek, Norman Spinrad und Harlan Ellison.

Als bester Vertreter für die Ideen von "New Worlds" erwies sich James Ballard, der in der ersten Ausgabe mit seiner Serie "Equinox" (später verarbeitet in seinem Roman "Die Kristallwelt", 1966) besonders hervorgehoben wurde.

Mit Hilfe der Autoren änderten sich auch zeitweise die bedrohlichen Finanzverhältnisse. Brian W. Aldiss, der die besten literarischen Beziehungen hatte, setzte sich beim britischen Arts Council für "New Worlds" ein und erreichte eine Regierungssubvention für das Magazin.

In die öffentliche Diskussion geriet das Magazin, als James Ballard politisch engagierte und experimentelle Texte wie "The Assassination of John Fitzgerald Kennedy Considered as a Downhill Motor Race" veröffentlichte oder "Princess Margarets Face-Lift" und "Why I Want to Fuck Ronald Reagan". Der amerikanische Botschafter ließ bei der britischen Regierung unter Protest anfragen, ob denn eine Regierungsunterstützung für dieses subversive Magazin gerechtfertigt sei.


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Entstehung des Namens "New Wave"

Als die Autorin und Herausgeberin Judith Merril, bei Campbell bekannt geworden, nach England kam, zeigte sie sich so begeistert von dem "New Worlds"-Experiment, daß sie es auch in den USA verbreiten wollte. Sie nannte es "New Wave".

Norman Spinrad äußerte sich zu dieser Kategorisierung 1986 folgendermaßen:

New Wave war gemäß den meisten von uns der New Wave zugerechneten Autoren eine nachträgliche Benennung von seiten der Kritiker für Autoren, die stilistisch, ideologisch oder auch philosophisch nicht viel mehr gemeinsam hatten als ihr Eintreten für Vielfalt. Eine solche Sammlung bilderstürmerischer Individualisten als New Wave- Bewegung zu bezeichnen, war gewissermaßen das gleiche wie von wohlgeordneter Anarchie zu sprechen."
(Aus William Gibson: Neuromancer, S. 349: "Die Neuromantiker" - Nachwort von Norman Spinrad 1986, S. 350)

Angeregt durch das britische Vorbild entwickelte sich jedoch auch in den USA eine Literaturszene, die allgemein "neue linke SF" genannt wurde. Dazu gehörten Autoren wie Philip K. Dick, Joanna Russ, Samuel R. Delany, Ursula K. LeGuin und Roger Zelazny.


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Das Ende der New Wave-Bewegung

Inzwischen war "New Worlds" finanziell kaum noch zu halten. Viele Autoren hatten Buchverlage gefunden, denn die öffentliche Ablehnung war durch die Erfolge der amerikanischen Autoren aufgebrochen, die nicht so gewagt und experimentell schrieben.

Michael Moorcock verlor zu dieser Zeit das Interesse an der Science Fiction und gab schließlich das Magazin ab. Freunde übernahmen es bis zur endgültigen Einstellung 1970.

Gerade als Judith Merril mit ihrer Anthologie "England Swings SF" (1968) frischen Wind in die Bewegung bringen wollte, war bereits die anfängliche Begeisterung verflogen.


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Die "New Wave" ist aus der Geschichte der Science Fiction nicht mehr wegzudenken. Sie enthält nihilistische Elemente und stellt gerade deshalb heute ein Zeitzeugnis dar, geprägt von weltweiter Ungewißheit, dem Widerstand gegen die Einmischung der Amerikaner in Vietnam, von Drogenexperimenten, den Beatles, der Pop Art, von Swinging London und Flugzeugentführungen. Brian W. Aldiss sagt, New Wave sei identisch mit einer Lebenshaltung gewesen.

Viele Autoren wehrten sich auch durch die Bewegung gegen den Ruf der Trivialität, der Science Fiction-Literatur anhaftet. Sie wollten sich, wie Harlan Ellison betonte, als Künstler begreifen. Heute ist "New Wave" schon längst integriert. Stilistische Kühnheit wird nicht mehr kritisiert und verpflichtet die Autoren nahezu.


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Literatur:

* Wolfgang Jeschke (Hrsg.): Heyne Science Fiction Magazin 5, 1982, München, S. 55 "Michael Moorcock - Sein schriftstellerisches Werk und seine musikalischen Eskapaden", von Joachim Körber

* Horst Schröder: Bildwelten und Weltbilder, Science Fiction-Comics in den USA, in Deutschland, England und Frankreich, Carlsen Verlag, 1982 (Medium Comic 2, eine Buchreihe)

* William Gibson: Neuromancer, 1984, S. 349 "Die Neuromantiker" - Nachwort von Norman Spinrad 1986

* James Gunn (Hrsg.): Von Clement bis Dick, Wege zur Science Fiction, Sechster Band, 1979 by James Gunn, 1990 Heyne Verlag Deutsche Erstausgabe

* James Gunn (Hrsg.): Von Ellison bis Haldeman, Wege zur Science Fiction, Siebter Band, 1979 by James Gunn, 1991 Heyne Verlag Deutsche Erstausgabe

Erstveröffentlichung 1997

6. Januar 2007