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SF-JOURNAL/029: Cyberpunk - SF der 80er Jahre (SB)


Geschichte der Science Fiction

Cyberpunk - Science Fiction der 80er Jahre


Vorbemerkung:

Die Grundidee, die man bei freundlicher Deutung der Science Fiction der 80er und 90er Jahre unterstellen kann, ist älter als das Genre selbst: Verschlüsselt oder über Umwege vermittelt geht es um nichts Unbedeutenderes als den sehnsüchtigen Wunsch der Menschen nach Unsterblichkeit, in den folgenden Zitaten aus der SF-Literatur der 40er und 50er Jahre noch eindeutig formuliert:

All mein Denken, all mein Sein waren erfüllt von der Idee, daß der Geschmack des Todes das Leben verdirbt, ein Gedanke, der allmählich zur fixen Idee wurde. Das Leben ist herrlich, doch was nutzt das, wenn der Mensch nur wenige Jahre zu leben hat, wenn er nach einem kurzen, flüchtigen Glück zum ausgebrannten Wrack wird, wenn seine Muskeln erschlaffen, seine Zähne ausfallen und sein Leben erlischt wie das Licht einer Kerze? [...] Warum laufen sie dann nicht aus ihren Häusern, von ihren Familien, von ihrer Arbeit davon, um irgendwo nach dem ewigen Leben, nach dem Elixier zu suchen, nach der ewigen Lust, der ewigen Jugend?
(aus Maria Szepes: "Der rote Löwe", Heyne Verlag, München 1984, 1946 by Maria Szepes, S. 35f)


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Ich werde dir das Geheimnis des Lebens zeigen - das Geheimnis des niemals endenden Lebens, mein Freund. Du wirst begreifen, daß der Tod nicht das Ende, sondern nur ein neuer Anfang ist. Oder auch nur ein Übergangsstadium, wenn du so willst. [...] Löse dich von deinem Körper und stirb, suche dir einen neuen Körper, wenn dir der alte nicht mehr gefällt. Verlasse diese Welt und finde eine neue. Entdecke die Unendlichkeit des Alls und begib dich auf die Wanderschaft durch die Weiten des Kosmos.
(aus Clark Darlton: Der Sprung ins Jenseits, Heyne Verlag München, 1968, S. 17 und S. 39)


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Ob nicht Computer und Roboter eines Tages den Menschen in jeder Hinsicht ersetzen können, ihn überflüssig machen? [...] Die Vision unterschiedlicher Arten und Klassen von menschlicher und technischer Intelligenz läßt den Gedanken an die Möglichkeit einer symbiotischen Beziehung zwischen allen diesen Intelligenzen aufkeimen, einer Beziehung, die ihnen allen die Chance gibt, voneinander zu lernen und im Verein die Gesetzmäßigkeiten der Natur und das Rezept für den pfleglichsten Umgang mit ihr besser als bisher zu ergründen.
(aus Isaak Asimov: Die exakten Geheimnisse unserer Welt - Bausteine des Lebens, 1984 by Asimov, Droemer Knaur, München 1986, Kapitel: Künstliche Intelligenz, S. 334f)


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Ob bei Alchimisten, Mönchen, Astronomen, Okkultisten, Mathematikern und Physikern, Medizinern oder Technikern - die Vorstellungen und konkreten Forschungen an der Verlängerung des Lebens oder gar der Unsterblichkeit selbst sind in allen Theorien und Praktiken durch die Jahrhunderte hindurch Vision geblieben: das Lebenselixier, der Astralkörper, die Zeitreisen, die Reise in andere Dimensionen und ins Jenseits, die Konservierung des Körpers, der geklonte Mensch oder der Mensch aus der Retorte oder aus Ersatzteilen und schließlich die Vernetzung der menschlichen Nervenbahnen mit dem Informationssystem des Computers, also die Direktschaltung von Gehirn und Computer. Anders als im Genre üblich wird hier mit wissenschaftlichen Ansätzen gespielt, die niemals Realität werden können. Die Science Fiction- Literatur erfüllt ihre Tradition der Vorausdeutungen auf wissenschaftlicher Ebene nun nicht mehr.

Sicher ist diese Entwicklung vom Zeitgeist der 80er und 90er Jahre bestimmt, in denen ein ausgeprägtes Bedürfnis bestand, angesichts der überwältigenden und nicht mehr zu verschleiernden Weltprobleme lieber in Selbstbetrachtung und Scheinwelten zu entfliehen - ganz indifferent dabei eher der Wunsch, überhaupt zu überleben als mit oben genannter Begeisterung und Motivation unsterblich zu werden. Schlagworte der Zeit: Wissen, Geheimhaltung, Kontrolle, Künstlichkeit und neue Realitäten. In der bedrückenden Wirklichkeit geht es um die Existenzmöglichkeiten des Planeten. Der Untergang hängt vom Menschen selbst ab; der Mensch ist der schlimmste Feind des Menschen und der Erde. Science Fiction wird zum Medium von Traumwelten und Alpträumen und nimmt Abschied vom Glauben an Objektivität und festgefügte Realität. Die Zerstörung der Lebensräume macht die Existenz künstlicher Räume notwendig. Die Angst ums Dasein führt dazu, eine Lösung in der Erschaffung künstlicher Realitäten zu finden und einer virtuellen Existenz in einer virtuellen Welt eine Daseinsberechtigung zu verleihen.

Gute Zukunftsprognosen zeigen ein Gespür für die Prinzipien, die künftigen Entwicklungen in Technik und Gesellschaft zugrunde liegen könnten. Mit diesem Gespür müßte ein Science Fiction-Autor eigentlich mit aller erdenklichen Vorsicht den modernen Versuch der Wissenschaftler behandeln, eine neue Lebensform per Computer zu erschaffen. In der Forschung sieht das zum Beispiel so aus: Das moderne Verfahren des "soft computing" versucht, gewisse biologische Funktionsweisen (auch des menschlichen Gehirns) auf Hard- und Software zu übertragen, um künstlichen Schöpfungen etwas von der Anpassungs- und Entwicklungsfähigkeit natürlicher Organismen zu verleihen (z.B. evolutionäre Programmiertechniken). Jedes Lebewesen hat jedoch Lösungen für Probleme der Energieverwertung und der Selbsterhaltung, die Wissenschaftler nicht durchschauen, schon gar nicht technisch nachbilden könnten (egal welcher Disziplin, ob Chaostheorie, Komplexitätswissenschaft oder die Form experimenteller Biologie, die unter dem Schlagwort "Künstliches Leben" (KL) bekannt geworden ist). Bis heute ist die Entstehung des Lebens noch nicht geklärt.

In Grunde erübrigt sich damit die Frage, ob Leben auf bestimmte materielle Träger beschränkt sein muß oder nicht auch als immaterielle, dynamische Struktur zu ähnlicher Entwicklungshöhe reifen kann.


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"Cyberpunk",

das Wort ist heute in Anlehnung an Filmszene, Comic-Hefte und Science Fiction-Literatur in aller Munde - aber weiß überhaupt jemand, wovon er da redet? Widmet man sich den verschiednen Definitionen ausführlicher, wird deutlich, daß auch die Cyberpunk-Autoren selbst keine festgelegten, sondern eher verschwommene Vorstellungen von Cyberpunk haben. Hier zunächst eine Sammlung:

Cyberpunk: In einer von Computern beherrschten Umgebung [Kybernetik] spielende Geschichten mit rotziger Anti- Establishment-Kultur" und "Cyberpunk ist ein Nippsachen- Mosaik mit Elementen von Burroughs und Pynchon, aber auch vom neuen Beat-Journalismus und Underground-Comix.

"Cyber" bezeichnet den kybernetischen Teil, der sich auf Informationssysteme sowie darauf konzentriert, wie der Mensch ein Teil dieser Systeme werden kann [...] "Punk" bezeichnet sowohl das heiße Pflaster der von den Multis beherrschten Weltstädte, als auch ihre Bewohner.

nicht zu verwechseln mit dem "Cyberspace", aus Filmen und Comics hinlänglich bekannt:

Die virtuelle Realität, die man erlebt, wenn man sich in ein Computernetz einstöpselt.
(aus der SF-Enzyklopädie von John Clute)


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Cyberpunk bezeichnet das Prinzip dessen, was man anders auch den absoluten Ausstieg aus der Realität in ein neuronal- kybernetisches Interface nennen könnte, das durch Direktschaltung von Gehirn und Computer Allgegenwart und nie dagewesene sinnliche Sensationen verheißt. Es ist also eine technische Droge, wie sie den Computer-Addicts nur zu vertraut sein dürfte. Gibson, der Schöpfer des Begriffs und wichtigste Vertreter des Cyberpunks [...].

[...] jenes Phänomens [...], hinter dem sich eine neue Literatur des Computerzeitalters verbirgt, die Technik und Leben nicht mehr als Gegensätze begreift, sondern in Fortführung alter Traditionen des SF die Auswirkungen einer gemäß der Informationstheorie binär operierenden Welt auf das Denken und Handeln des Menschen zu schildern versucht.
(aus der Buchbesprechung William Gibsons von Michael Nagula in: W. Jeschke, Hrsg.: Das Science Fiction Jahr 1989, S. 551)

Und noch eine weitere Deutung, etwas traditioneller im Genre verhaftet, die dem alten Wunsch nach Überleben oder gar Unsterblichkeit am nächsten kommt und den unrealistischen Teil deutlich werden läßt:

Cyberpunk [...] gipfelt in dem Versprechen einer neuen Existenzform, losgelöst von der physischen und ihrer biologischen Begrenztheit und Verletzlichkeit [...] Die Möglichkeit von Designer-Kreaturen, [...] ist machbar geworden. [...] Das Menschenbild ist dabei, sich aufzulösen, er wird seine Erscheinungsform verändern."
(Wolfgang Jeschke in "Das Science Fiction Jahr 1991", München 1991, Heyne, Editorial, S. 11)

"Cyberpunk" begann als Schlagwort 1980 und wurde zum feststehenden Bestandteil der Science Fiction-Literatur, als der bis dahin unbekannte Autor William Gibson 1983 die neue Richtung in einer Trilogie einfing ("Neuromancer", "Cyberspace", "Biochips"). Weitere Autoren (zum Beispiel Bear, Cadigan, Swanwick, K.W. Jeter, Richard Kadrey, Melissa Scott, John Shirley, William T. Vollman) griffen dann die Bewegung auf und erhoben sie nahezu zum Kult, der vom Klischee nicht weit entfernt war:

Sagt Lebewohl zu euren alten Zukünften aus Stahl. Hier ist eine völlig neu sich darbietende Welt, intensiv wie ein elektrischer Schock. William Gibsons Prosa, erstaunlich in ihrer Klarheit und Fertigkeit, wird zur high-tech- elektrischen Poesie. Eine fesselnde Abenteuergeschichte, so brillant und kohärent wie ein Laser. Dafür wurde die Science Fiction erfunden.
(Bruce Sterling, Buchrückentext von William Gibson: Neuromancer, 1984 by William Gibson, 1987 dt. Übers. von Reinhard Heinz im Heyne Verlag, München)

... während Gibson sich deshalb unbehaglich zu fühlen begann.

Ich sehe mich selbst als eine Art literarischer Kollagekünstler. Ich extrapoliere nicht wirklich in der Art, wie man mir beigebracht hat, daß ein SF-Autor es sollte. Ich reagiere einfach nur auf meine Eindrücke von der Welt und verstärke sie irgendwie, verzerre sie, um des Effektes willen.
(aus H.J. Alpers: Dark Future, S. 346 in W. Jeschke: Das Science Fiction Jahr 1991, Heyne Verlag München 1991)

Zentrale Themen aus dem elektronischen Bereich Anfang der 80er Jahre sind: Datenverarbeitung und Datenkontrolle, Jagd auf Daten, d.h. Einbruch in Datenbänke und auch schon die direkte Kommunikation mit Computern über in den Schädel implantierte Interface-Geräte. Ein neuer Raum ist eröffnet, der hinter dem Bildschirm. Er verspricht eine neue Existenzform, losgelöst von der physischen und ihrer biologischen Begrenztheit und Verletzlichkeit - Gibsons Virtuelle Realität. Sie eröffnet zahllose parallele Wirklichkeiten, in die sich der Mensch beliebig einklinken kann. Sie sind nicht mehr als Simulation erkennbar und bergen das Versprechen auf das ewige Leben in der Transzendenz in den Cyberspace.

Auf dem harten Boden der irdischen Wirklichkeit hingegen ist der Einzelmensch machtlos. Die Macht liegt in den Händen unsichtbarer Herrscher über die Informationsnetze der Welt und in dieser neuen Welt wird die Information alleinbestimmend.

Keiner der neuen Cyberpunk-Autoren nimmt für sich in Anspruch, wissenschaftliche Spekulation als das Kernthema zu betrachten. Alle konzentrieren sich unmittelbar auf Charakterdarstellung. Es entsteht ein neuer Typus, nicht der Computer-Freak oder Hacker, sondern der "Cyberpunk", am ausgeprägtesten in Gibsons Gestalt Case in dem Roman "Neuromancer", ein sogenannter Gossen-Cowboy, ein intellektueller "Punk". Der Name ist ein Wortspiel zu "Nekromant", was Geisterbeschwörer bedeutet, und "neuro", zum Nervensystem gehörig. Seine Zauberei besteht darin, zu "interfacen", sein eigenes mit dem elektronischen Nervensystem in direkten Kontakt zu bringen. Man kann ihn mit Philip Marlowe vergleichen, Raymond Chandlers Krimiheld, der sich den Konflikten mit Gewalt und einem persönlichen Verhaltens- und Ehrenkodex stellt. Diese Helden sind Versager, und sie haben keine Ahnung von Computern, sie wissen nur, wie man sie bedient. In ihrer Zeit hat "Punk" im Vergleich mit dem der 50er Jahre eine neue Bedeutung gewonnen, obwohl schwarze Lederjacken und auffällige Frisuren wieder als Zeichen der Auflehnung gelten. Die neuen Punks sind selbstbewußte Pessimisten, zynisch und ignorant, Rocker, die eine von Technik geprägte Welt bereitwillig hinnehmen. Sie leben in einer finsteren, schmutzigen, verfallenden Welt, der Cyberpunk-Stadt, in der einem das Leben wie ein Theater vor dem Hintergrund von Gewalttaten vorkommt, überall Abnutzung und Verschleiß. Man kennt diese Städte aus zahlreichen modernen SF-Filmen: auf den überfüllten Straßen multinationales Menschengewimmel, Anonymität, asiatische Leuchtreklame, Smog und Abgase, tropfende Versorgungsleitungen, leerstehende Wolkenkratzer. In dieser Umgebung ist der heruntergekommene Cyberpunk imstande, in den Tiefen des Systems zu überleben. Drogenfrust und Babystrich, flippige Technikfreak- Mentalität, Voodoo und Samurai und alleinmächtige Datenmafia prallen aufeinander und werden besiegt von den neuromantischen Kyborgs, die technische Verstärkung für transzendentale Zwecke nutzen.


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Hier sollte nur ein Einblick in das umfangreiche Gebiet des Cyberpunk gegeben werden - eine Neuentwicklung in der Science Fiction- Literatur, die im Grunde keine eigene Entwicklung ist. Sie besteht aus einer Mischung verschiedenster inhaltlicher Strömungen: Der Cyberpunk macht für sich einen linken Anspruch geltend, der bei genauerer Betrachtung nur klischeehaft zugunsten einer ausgeklinkten Story mitverarbeitet wird; die Punk-Bewegung verkommt zum Outfit und Hintergrundszenarium für illustre Gestalten, die besser in einem Comic beheimatet wären; und letztlich nimmt Cyberpunk nicht einmal für sich in Anspruch, eine technische Vision zu sein. Der menschlichste Bezug ist gerade auch am unwahrscheinlichsten, aber faszinierendsten: Geist, Verstand, das Bewußtsein auf einen syntronischen Speicher zu übertragen, wo man so lange weiterexistieren kann, wie es die Technik erlaubt.

Unter Berücksichtigung aller letztgenannten Aspekte stellt sich zusammengefaßt die Frage, welchen Wert der Cyberpunk für das Genre überhaupt hat oder ob er überhaupt noch dazugehört.


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Verwendete Literatur und Literaturempfehlungen:

1) John Clute: Science Fiction - Die illustrierte Enzyklopädie, Heyne Verlag München 1996, 1995 by John Clute, deutsche Übersetzung von Ronald M. Hahn

2) W. Jeschke (Hrsg.): Das Science Fiction Jahr 1989, Heyne Verlag 1989, München; S. 551 Buchbesprechung William Gibson: "Cyberspace" ("Burning Chrome", 1986) von Michael Nagula

3) W. Jeschke: Das Science Fiction Jahr 1991, München 1991 (Heyne), S. 11 EDITORIAL, Rede auf dem Weltcon in Den Haag am 25. August 1991 über Cyberpunk: Das Ende der fossilen Energiereserven, Parallelwelten (DDR)

4) W. Jeschke: Das Science Fiction Jahr 1991, München 1991 (Heyne), S. 346 "Dark Future" von H.J. Alpers

5) William Gibson: Neuromancer, 1984 by William Gibson, 1987 dt. Übers. von Reinhard Heinz im Heyne Verlag, München; und ebd. S. 349 Nachwort von Norman Spinrad: Die Neuromantiker, 1986

6) W. Jeschke (Hrsg): Das Science Fiction-Jahr 1996, Heyne Verlag, München 1996, S. 539-574 Michael K. Iwoleit: Creatio ex silicio - Über die Terra incognita der neuen Computerwissenschaften

7) William Gibson/Bruce Sterling: Die Differenz Maschine, 1990 by William Gibson and Bruce Sterling, 1992 deutsche Übersetzung von Walter Brumm, Heyne Verlag München; S. 554 "Phantasma digitalis oder Die Prothese der Realität nach Babbage", Nachwort von Michael Nagula

8) Maria Szepes: "Der rote Löwe", Heyne Verlag, München 1984, 1946 by Maria Szepes

9) Clark Darlton: Der Sprung ins Jenseits, Heyne Verlag, München, 1968

10) Isaak Asimov: Die exakten Geheimnisse unserer Welt -Bausteine des Lebens, 1984 by Asimov, Droemer Knaur, München 1986, Kapitel: Künstliche Intelligenz, S. 334f

Erstveröffentlichung 2000

6. Januar 2007