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STUDIENKRITIK/001: "Konzernatlas" - brauchbar ... (SB)


Ernährungssouveränität und Konzernmacht

Zum Stand gesellschaftlicher Verfügungsgewalt über Nahrungsmittel


Als Bertolt Brecht in den 1920er Jahren Getreidespekulationen an der Warenterminbörse von Chicago untersuchte, um die sozialen Folgen dieses Geschäftes dramaturgisch zu verarbeiten, stellte er trotz umfangreicher Recherchen fest, daß ihm niemand die Komplexität des Geschehens begreiflich machen konnte. Das geplante Stück Weizen blieb ein Fragment, das unter dem Titel Jae Fleischhacker in Chikago erst lange nach seinem Tode zur Aufführung kam. Das Unbegreifliche des Geschehens bewegte ihn schließlich dazu, das Studium der ökonomischen Schriften von Karl Marx aufzunehmen, so Brecht in einer Rückschau auf das Scheitern des Versuchs, dem elementaren Zusammenhang von Hunger und Kapitalismus auf die Spur zu kommen.

Das Themenfeld Landwirtschaft, Agrarindustrie, Welthandel und Ernährungssicherheit ist seitdem nicht überschaubarer geworden, ganz im Gegenteil. Die Befriedigung des Grundbedürfnisses der täglichen Aufnahme von Nahrungsmitteln und Trinkwasser wurde bis heute trotz der erheblichen technologischen und industriellen Entwicklung der letzten hundert Jahre keineswegs für alle Menschen sichergestellt. Unter der Weltbevölkerung von 7,5 Milliarden befinden sich 800 Millionen Menschen, die nicht satt werden und von denen viele vorzeitig an Nahrungsmittelmangel sterben. Darüberhinaus sollen rund 3 Milliarden Menschen permanent mangelernährt sein, also aufgrund der durch Armut bedingten Einseitigkeit ihrer Ernährung nicht genügend lebenswichtige Inhaltsstoffe wie Vitamine und Mineralien zu sich nehmen. Insbesondere letzteres gilt nicht nur für den Globalen Süden, sondern auch für Industriegesellschaften wie die USA, wo über 40 Millionen Menschen auf staatliche Lebensmittelhilfe angewiesen sind.

Im Unterschied zu den Zeiten, als der Versuch, über den eigenen Tellerrand zu schauen, mit aufwendigen Recherchen und Reisen verbunden war, sind heute alle wesentlichen Informationen zur Welternährungslage und den Produktionsbedingungen der Landwirtschaft bequem vom heimischen Rechner aus einzusehen. Das mindert jedoch nicht das Problem, dem Widerspruch zwischen der rechnerisch ermittelten Möglichkeit, mit der vorhandenen Welternte 12 bis 14 Milliarden Menschen zu ernähren, und dem dennoch gegebenen Welthunger auf den Grund zu gehen. Wer sich an diese Arbeit macht, stößt auf eine Fülle von Faktoren und dementsprechend vielen Wechselwirkungen zwischen ihnen, die allesamt für das Verständnis dieses so existentiellen Problems relevant sind.


Zivilgesellschaftliche Initiative gegen monopolistische Marktmacht

Von daher bieten Studien wie der vorliegende, unter Herausgeberschaft der Heinrich-Böll-Stiftung, der Rosa-Luxemburg-Stiftung, des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), von Oxfam Deutschland, Germanwatch und Le Monde Diplomatique entstandene Konzernatlas eine gute Möglichkeit, sich mit diesem Themenkomplex zu befassen, ohne in der Fülle der Informationen unterzugehen. Rund zwei Dutzend Autorinnen und Autoren haben die aktuelle Fusionswelle in der Agrar- und Ernährungsindustrie zum Anlaß genommen, die globale Produktion von Nahrungsmitteln von ihren natürlichen Voraussetzungen wie der Verfügbarkeit von Land, Saatgut und Wasser über die sozialen Bedingungen der Bäuerinnen und Bauern bis zu ihrer Bewirtschaftung durch agroindustrielle Akteure, kapitalstarke Investoren und global operierende Einzelhandelsunternehmen kritisch in den Blick zu nehmen.

Dem Titel der Studie gemäß bilden die ökonomischen und strukturellen Bedingungen, die von einem Oligopol weniger weltweit tätiger Konzerne gesetzt werden, den roten Faden der Darstellung und Analyse jener gravierenden Probleme der Nahrungsmittelerzeugung, die auch den Verbraucherinnen und Verbrauchern in den wohlhabenden Industriegesellschaften im wortwörtlichen Sinne auf den Leib rücken. So ist die Debatte um die fragwürdige Qualität industriell erzeugter Nahrungsmittel ebenso zu einem Dauerthema in den Medien geworden wie die grausamen Bedingungen der Massentierhaltung oder die Kontamination des verfügbaren Süßwassers durch die Überdüngung der Äcker mit Abfallstoffen der Tierproduktion. Daß die beiden parteinahen Stiftungen der Grünen und der Linkspartei, drei große Umwelt- und Entwicklungsorganisationen sowie eine internationale Monatszeitung nach den korporatistischen Akteuren fragen, die maßgeblich über die Welternährung verfügen, läuft zwar nicht auf eine regelrechte Kapitalismuskritik hinaus, bietet aber genug Anhaltspunkte dafür, auch für die tagtägliche Ernährung die Eigentumsfrage in einem gesellschaftskritischen Sinne zu stellen.

Waren die ersten global operierenden Agrarfirmen vor allem im vorgelagerten Bereich der Versorgung der europäischen Adelsgüter und nordamerikanischen Familienfarmen mit Landmaschinen und Kunstdünger wie auch im nachgelagerten Bereich des Handels und der Weiterverarbeitung der dort produzierten Agrargüter tätig, so entstanden mit der Ausbildung transnationaler Unternehmen, die selbst in die Landwirtschaft anderer Länder investierten, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Agrokonzerne, die immer größere Bereiche der Produktion integrierten. Die Herstellung von Landmaschinen, Saatgut und Agrarchemie wurde mit der Industrialisierung der Landwirtschaft ebenso einem Konzentrationsprozeß unterzogen wie die Distribution der Agrarprodukte durch Einzelhandelsunternehmen, deren monopolistische Marktmacht vor allem zu Lasten der Erzeuger geht.

Mit der Liberalisierung des Welthandels seit den 1980er Jahren und der anwachsenden Bedeutung des Finanzkapitals für die Erzeugung des gesellschaftlichen Gesamtproduktes fand eine weitere Welle von Unternehmensübernahmen und -fusionen statt. Heute beherrschen wenige Konzerne den globalen Nahrungsmittelmarkt von der Erzeugung pflanzlicher und tierischer Nahrung über deren Veredelung zu konsumgerechten Produkten und deren Vermarktung in den Supermärkten der Welt. Mit der anwachsenden Bedeutung der Schwellenländer haben chinesische und brasilianische Konzerne zu den traditionellen Global Players Westeuropas und Nordamerikas aufgeschlossen. Mit ihrem Zugriff auf fruchtbares Land und billige Arbeitskraft erzeugen sie einen Großteil der agrarischen Rohstoffe wie Zucker, Soja, Palmöl oder Mais, die nicht nur als primäre Nahrungsmittel fungieren, sondern auch für Tierzucht, Energie- und Güterproduktion eingesetzt werden.

Besondere Beachtung wird in der Studie dem Oligopol aus sieben Unternehmen zuteil, das die weltweite Produktion von Pestiziden und Saatgut kontrolliert. Da die US-Konzerne DuPont und Dow Chemical fusionieren wollen, der chinesische ChemChina-Konzern sich die schweizerische Syngenta einverleiben und Bayer Monsanto übernehmen will, würden schließlich drei Giganten mehr als 60 Prozent der Märkte für kommerzielles Saatgut und Agrarchemikalien beherrschen. Ein Gutteil ihres Geschäftes beruht auf der Patentierung biotechnologisch veränderter pflanzlicher und tierischer Bioorganismen, der daraus resultierenden Einnahme von Lizenzgebühren und der Vermarktung von Hochleistungssorten, die sich nicht als Saatgut weiterverwenden lassen und resistent gegen Herbizide, Insektizide und Fungizide aus der eigenen Agrochemikalienproduktion sind. Je mehr Einfluß diese Akteure auf die globale Ernährung erhalten, desto mehr bedroht die privatwirtschaftliche Aneignung der natürlichen Lebenswelt die Ernährungssouveränität der Menschen.

Die Rationalisierung aller Produktionsverhältnisse durch digitalisierte Steuerungsprozesse betrifft auch die bäuerliche Landwirtschaft. Sie gerät dadurch unter einen Innovationsdruck, der mit der Verwertung der auf dem Acker und im Stall entstehenden Informationen durch interessierte Dritte zu einer Wettbewerbsverschärfung führt, der insbesondere viele kleine und mittlere Betriebe nicht standhalten können. Wer seine Landmaschinen nicht mit den Apparaturen des Precision Farmings ausstattet und dadurch wachsende Erträge bei sinkendem Einsatz von Dünger und Pestiziden erbringt, ist ebensowenig wettbewerbsfähig wie Landwirte, die nicht zu den Hochleistungssorten der Saatguthersteller und ihren spezifischen Pestiziden greifen. Daß diese Entwicklung zugleich von anwachsenden Resistenzen bei sogenannten Unkräutern oder Schädlingen unterlaufen wird, ist nur eines der vielen Probleme, die die industrialisierte Landwirtschaft bei dem Versuch in die Welt setzt, die Erträge der Böden durch eine immer intensivere, technisch forcierte Bewirtschaftung zu steigern oder Wachstumsprozesse mit gentechnischen Mitteln oder dem Werkzeugkasten der Synthetischen Biologie zu optimieren.

Die Autorinnen und Autoren der Studie kritisieren zudem durchgängig die Externalisierung der sozialen und ökologischen Kosten einer Landwirtschaft, die durch monopolistische Eigentumsstrukturen unter immer größeren Kostendruck gesetzt wird. Den bäuerlichen Betrieben werden durch eine letztlich am Weltmarkt orientierte Preiskonkurrenz Wachstumsziele aufoktroyiert, durch die die Fruchtbarkeit der Böden, die Sauberkeit des Trinkwassers und die Gesundheit des sogenannten Nutzviehs auf eine Weise ausgebeutet werden, die sich durch chemische und agrotechnische Prothesen nicht dauerhaft kompensieren läßt. Wo die Reproduktion der natürlichen Grundlagen der Nahrungsmittelerzeugung mit der den Böden, Tieren und Menschen abverlangten Leistung nicht Schritt halten kann, sind Artenschwund, Desertifikation und entvitalisierte Lebensmittel die Folge.

Wie in anderen Industriebereichen auch werden die Kosten dieser Zerstörung auf die Allgemeinheit der steuerzahlenden, in ihrer Gesundheit beeinträchtigten oder ihres Lebenserwerbs beraubten Bevölkerung umgeschlagen. Bei allen Bemühungen zivilgesellschaftlicher Akteure und sozialer Bewegungen scheint kaum ein Kraut dagegen gewachsen zu sein, was im Konzernatlas vor allem mit der analog zu den Konzentrationsprozessen auf dem Agrarmarkt anwachsenden Lobbymacht erklärt wird. Daß die Politik, wie gefordert, hier mit kartellrechtlichen Mitteln erfolgreich gegensteuern könnte, ist bestenfalls theoretisch gewährleistet. Die mit der Krise anwachsende Konkurrenz zwischen den Staaten wird nicht zuletzt über den Wettbewerb zwischen den großen Akteuren des Nahrungsmittelsektors ausgetragen, die zumindest soweit national verankert sind, daß sie von den Regierungen als Aktivposten hegemonialer und ökonomischer Macht in Anspruch genommen werden. So unterstützt etwa das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft und das Bundesministerium für Bildung und Forschung deutsche Chemie- und Saatgutunternehmen bei der Entwicklung von Hybridweizen [2].

Einig sind sich die Verfasserinnen und Verfasser der Studie darin, daß eine hinsichtlich der Sortenvielfalt, Fruchtfolgen und Anbautechniken hochgradig diversifizierte kleinbäuerliche Landwirtschaft der agroindustriellen Verödung der Welt der Vorzug zu geben ist. Den gigantischen Monokulturen, deren biotechnologisch optimierte Aussaat im Falle des Ausbruchs unvorhersehbarer Epidemien oder Wetterkatastrophen das Risiko entsprechend großer Einbrüche beim Ertrag innewohnt und denen die letzten großen Regenwaldgebiete der Welt weichen müssen, ist ihre Kritik ebenso gewidmet wie der Nutzung gentechnisch veränderten Schlachtviehs, das unter artfremder Ernährung und widernatürlichen Hochleistungsbedingungen immer kränker wird. Statt dessen plädieren sie dafür, dieser Entwicklung mit einer agrarökologischen Bewirtschaftung des Landes und regionalen Infrastrukturen unter Wahrung der sozialen Rechte der Bäuerinnen und Bauern entgegenzutreten. So steht das emanzipatorische Anliegen der Ernährungssouveränität im Widerstreit mit den kommerziellen Interessen der Agroindustrie wie der biopolitischen Verfügungsgewalt der Staaten über die Ernährung ihrer Bevölkerungen.


Das politische Kampffeld der täglichen Ernährung

Die Privatisierung natürlicher Gemeingüter durch kapitalstarke Investoren und ihre Umwandlung in eine weltweit handelbare Ware ist bis heute nicht abgeschlossen, sondern schreitet unter erheblichen sozialen und ökologischen Belastungen voran. Die im Konzernatlas betriebene Kritik an der dafür verantwortlich gemachten Macht monopolistisch agierender Unternehmen bleibt ohne Einbeziehung ihrer gesellschaftlichen Grundlage, der kapitalistischen Eigentumsordnung, auch deshalb unvollständig, weil der Appell an die Politik, sich dieser Entwicklung entgegenzustellen, an eine Instanz gerichtet ist, die maßgeblich an der Sicherung privat- und marktwirtschaftlicher Verhältnisse interessiert ist.

Dabei hat die der globalen Enteignungsökonomie (Christian Zeller) innewohnende Dynamik längst den Charakter eines Raubzuges angenommen, der das Leben von Millionen Menschen zugunsten der Wertsteigerung von fruchtbarem Land, von Trinkwasser, Pflanzen und Tieren riskiert. Die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln ist an bezahlbarer Nachfrage und nicht den realen Bedürfnissen der Menschen orientiert, wodurch jede Form von Verknappung unmittelbar als Preissteigerung und anwachsender Profit der marktbeherrschenden Akteure zu Buche schlägt. Selbst in den westlichen Metropolengesellschaften ist Ernährung zu einer Klassenfrage geworden, können sich Menschen mit geringem Einkommen doch kaum jene vollwertigen Lebensmittel leisten, die zu verzehren heute als Privileg gilt, obwohl sie doch nichts anderes als die durch die industrielle Degeneration verspielte Norm agrarisch erzeugter Nahrungsmittel darstellen.

Es bleibt zu wünschen, daß der mit Publikationen wie der vorliegenden Studie freigesetzte Impuls zur kritischen Auseinandersetzung mit den herrschenden Produktionsverhältnissen das Interesse weckt, deren systemische Voraussetzungen zu erkunden und in Forderungen zu gießen, die die für alle Fragen gesellschaftlicher Verfügungsgewalt so zentrale Eigentumsfrage nicht vermeiden. Denn auch die Vision einer Welt unaufwendiger und kleinteiliger Wirtschaftsformen, in der das über Jahrhundert tradierte Wissen über einen schonenden Umgang mit den natürlichen Lebensgrundlagen Anwendung findet, läßt sich nicht verwirklichen, wenn der größere Räuber schon Gewehr bei Fuß steht, um sich zu nehmen, was ihm als Tribut an seine Gewaltbereitschaft vorenthalten wird.


Fußnoten:

[1] http://www.rosalux.de/publication/42942

[2] http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59525

25. Januar 2017


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