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STUDIENKRITIK/003: "Ressourcenfluch 4.0" - weniger wird mehr ... (SB)


Zur stofflichen Problematik der Digitalisierung, Energie- und Verkehrswende

PowerShift-Studie über "Die sozialen und ökologischen Auswirkungen von Industrie 4.0 auf den Rohstoffsektor"


Als "Ressourcenfluch" wird gemeinhin die vermeintlich paradoxe Entwicklung bezeichnet, daß rohstoffreiche Länder häufig geringere Wachstumsraten erzeugen als rohstoffarme Industriestaaten. Die Einkünfte der Exporteure mineralischer und fossiler Rohstoffe werden dafür verantwortlich gemacht, daß der industrielle Aufbau zu einer selbsttragenden wirtschaftlichen Entwicklung ausbleibt. Autoritäre Regime, deren korrupte Oligarchien sich die Rohstoffrente unter den Nagel reißen, massive Ausbeutung der einheimischen Arbeit bei der Förderung und ökologische Verwüstungen gelten als Auswirkungen des Fluches, mit einem Reichtum gesegnet zu sein, der Tod und Zerstörung hervorbringt, anstatt der Bevölkerung zu einem sorgenfreien Leben zu verhelfen.

Wirft man einen von den Mystifikationen der neoliberalen Marktapologie ungetrübten Blick auf das entwicklungspolitische Problem der Rohstoffrenten, so sind vor allem die Abnehmer dieser Rohstoffe in den industriell hochproduktiven Ländern des Globalen Nordens für derartige Fehlentwicklungen verantwortlich. Selbstverständlich wird mit allen Mitteln der Politik und Diplomatie, der Käuflichkeit und Gewaltandrohung, dafür gesorgt, daß die örtliche Kompradorenbourgeoisie auch in Zukunft die Geschäftsgrundlage sichert, von der die ressourcenhungrigen Industrien in Westeuropa und Nordamerika, in Japan und China profitieren. Sozialistische Staaten, die versucht haben, den Rohstoffreichtum zu vergesellschaften und auf diesem Wege eine egalitäre Entwicklung der Produktivkräfte in Gang zu bringen, sind mehr als einmal durch neokolonialistische Interventionen in den Bürgerkrieg getrieben oder in Stellvertreterkriege verwickelt worden.

Ein Reichtum an Lagerstätten mineralischer und fossiler Rohstoffe kann als Fluch nur dann bezeichnet werden, wenn die Bevölkerungen dieser Staaten nicht in der Lage sind, deren Nutzung mit politischen Mitteln auf ökologisch schonende und sozial verträgliche Weise zu organisieren. Der Totalität des marktwirtschaftlichen Freihandelsprimats, dem zufolge die Ausbeutung großer Rohstoffvorkommen in den Ländern des Globalen Südens immer auch den Zugang äußerer Akteure ermöglichen soll, die Pflicht transnational agierender Konzerne entgegenzuhalten, ihr Geschäft auf verantwortungsvolle Weise zu betreiben und ihre ethischen Unternehmensgrundsätze einzuhalten, ist ein schwacher Ersatz für den Primat einer Politik, die im erstrebenswerten Idealfall die selbstbestimmte demokratische Nutzung des natürlichen Reichtums eines Landes durch dessen Bevölkerung möglich machen sollte. Das bedeutete vor allem auch, die Fertigung der Güter, für die mineralische und fossile Rohstoffe benötigt werden, in wesentlich größerem Ausmaß in die eigenen Hände zu bekommen und das Gros des Geschäfts nicht wie bisher monopolistischen Marktakteuren und der sie alimentierenden Finanzindustrie zu überlassen.

Wo mit aller Suggestivkraft der ideologischen Apparate zumindest der Eindruck erweckt wird, die Globalisierung des kapitalistischen Weltsystems sei eine Art alternativloser Naturkonstante, entscheidet die Produktivität der jeweiligen Wirtschaftsräume darüber, wer diese Rohstoffe fördert und wer sie in industrielle Prozesse einspeist, wer davon profitiert und wer leer ausgeht. Der Totalität weltmarktbezogener Kostenaufstellungen und Ertragskalkulationen entkommen der südafrikanische Schürfer und der westeuropäische Mobiltelefonnutzer gleichermaßen nicht, doch damit hört die Vergleichbarkeit beider Existenzformen auf. Wo ersterer sein Dasein unter Elendsbedingungen fristet und sein Überleben am seidenen Faden internationaler Preisentwicklung hängt, bleiben letzterem noch eine ganze Reihen von Möglichkeiten, den Zwang eigener Verwertungsnot kreativ zu moderieren.

Der Zeithorizont dieses Privilegs könnte jedoch schneller erreicht werden, als die trügerische Sicherheit vermeintlich stabiler Verhältnisse vermuten läßt. Der Innovationsdruck, mit dem informationstechnische Systeme zum strukturgebenden Element praktisch aller Vergesellschaftungsprozesse aufgebaut werden, ist gewaltig und enthebt die Dystopie eines umfassend kontrollierten und durchregulierten Daseins ihres bislang fiktiven Charakters. So wird unter dem Begriff "Industrie 4.0" ein fundamentaler Umbau der industriellen Produktionsweise vorangetrieben, dessen Ergebnisse das Leben der Menschen durch ihre Einbindung in die total vernetzte Welt stark verändern werden.

Wie sehr der in der industrieaffinen Propaganda stets betonte immaterielle Charakter der informationstechnischen Durchdringung der Lebenswelten in die Irre führt, und zwar nicht nur bezogen auf die Notwendigkeit, die entsprechende Hardware zu erstehen und den für ihren Betrieb erforderlichen Strom zu bezahlen, ist einer aktuellen Studie der Nichtregierungsorganisation Powershift e.V. [1] zu entnehmen. Unter dem Titel "Ressourcenfluch 4.0" [2] wird über "Die sozialen und ökologischen Auswirkungen von Industrie 4.0 auf den Rohstoffsektor" berichtet, und das auf durchaus positionierte, den Widerspruch zwischen nationaler Rohstoffpolitik und offizieller Klimaschutz- wie Menschenrechtsagenda nicht aussparende Art und Weise.

So wird die deutsche Industriepolitik schon in der Einleitung in den Kontext der ökologischen, ökonomischen und sozialen Krisen gestellt, und das nicht in der regierungsoffiziellen Absicht, die Perspektive der Digitalisierung industrieller Produktion zum gangbaren Ausweg aus diesen zu erklären. Ganz im Gegenteil, die Autorinnen und Autoren der Studie machen die "imperiale Lebensweise" der hochindustrialisierten Gesellschaften für die "Übernutzung der Welt und die (post-)kolonialen Ausbeutungsschemata" verantwortlich, die auch in Zukunft erklärtermaßen Form und Inhalt deutschen Interessenpolitik weltweit bestimmen sollen.

Insbesondere der Bergbau wird mit den menschenrechtlichen und sozialökologischen Zielen kontrastiert, die etwa im Rahmen der Sustainable Development Goals (SDGs) im Rahmen der Vereinten Nationen formuliert sind. Anhand zahlreicher, Abbauregionen auf allen Kontinenten betreffender Beispiele, werden insbesondere Tagebaue, in denen mineralische Rohstoffe gefördert werden, in ihrem zerstörerischen Einfluß auf die regionale Bevölkerung und Natur dargestellt. Dabei werden zum Beispiel das in einem Smartphone verwendete Gold in direkte Relation zu den 100 Kilogramm Abraum, die bei seiner Förderung entstehen, gestellt als auch die großmaßstäblichen Katastrophen geschildert, die ein Bruch der Dämme von Rückhaltebecken erzeugen kann, wenn sich der giftige Klärschlamm der Minen in die Flüsse und Gewässer der Umgegend ergießt. Zu "Unfällen" dieser Art kommt es immer wieder überall auf der Welt, und die Zerstörung ganze Ökosysteme läßt sich nicht einfach mit Geld wiedergutmachen, ob es nun für Strafzahlungen oder Reinigungsmaßnahmen ausgegeben wird.

Zu direkten Umweltschäden durch Kontamination des Grundwassers und Zerstörung des Erdreiches gesellt sich der reguläre Verbrauch von Bergbau- und Verhüttungsindustrien an Elektrizität, Wasser und atembarer Atmosphäre. 2013 entfiel auf die weltweite Aluminiumproduktion ein Anteil von drei Prozent des globalen Stromverbrauchs. In Island verbrauchen drei Aluminiumhütten 70 Prozent des nationalen Energieverbrauchs, der höchste Verbrauch an Elektrizität pro Kopf und Jahr weltweit. Um mineralische Rohstoffe aus der Erde und dem Gestein auszuwaschen, bedarf es erheblicher Mengen an Wasser, zudem senken die Gruben der Tagebaue die Grundwasserspiegel, ansonsten könnte nicht mehrere hundert Meter tief ins Erdreich vorgestoßen werden. Dessen Durchmischung und Entsorgung auf Abraumhalden hinterläßt zum Teil gigantische Einöden, in die die zuvor vorhandene biologische Vielfalt und Fruchtbarkeit des Bodens für lange Zeit nicht mehr zurückkehrt.

"Ressourcenfluch 4.0" heißt die Studie vor allem, weil sie nicht nur auf den Sachstand der in seiner sozialökologischen Bilanz höchst destruktiven Extraktion mineralischer Rohstoffe hinweist, sondern die weitere Expansion der globalen Minen- und Bergbauindustrie mit der Wachstumsdynamik in den Industriestaaten korreliert. Gerade weil die Weltwirtschaft tendenziell stagniert, erhoffen sich Regierungspolitiker und Wirtschaftsführer von der informationstechnischen Entwicklung in Industrie und Gesellschaft wie der Energie- und Verkehrswende den längst überfälligen Wachstumsschub. In der Studie wird dem ein detaillierter Blick auf die stoffliche Seite der Digitalisierung, Robotisierung, E-Mobilität und Erneuerbaren Energien entgegengestellt.

Dabei zeigt sich, daß alle Verbrauchsindikatoren in den letzten zwei Jahrzehnten, in denen die mikroelektronische Produktionsweise hegemonial wurde, ein Plus an fossilen Energieträgern, Metallen und Mineralien, Baumaterialien und Biomasse aufweisen. Daß sich die mit Industrie 4.0, Erneuerbaren Energien und E-Mobilität verknüpften Hoffnungen auf eine verbesserte Ressourceneffizienz, also absolute Einsparungen pro produzierter Einheit bei gleicher oder verbesserter Leistungsfähigkeit, erfüllten, wird von den Autorinnen und Autoren der Studie in den meisten Fallbeispielen verneint. Ganz im Gegenteil, für die Herstellung eines Hybridfahrzeuges wird doppelt so viel Kupfer benötigt wie bei einem mit fossilem Treibstoff betriebenen Wagen, während der Bau eines nur mit Elektrizität betriebenen Fahrzeuges viermal soviel dieses Metalls bedarf.

Auch der Rohstoffverbrauch für die Herstellung und die Installierung von Windkraft- und Photovoltaikanlagen ist beträchtlich und gibt zu der Schlußfolgerung Anlaß, daß die eins zu eins vollzogene Umstellung von fossiler auf erneuerbare Produktionsweise keine Lösung für die stoffliche und klimatechnische Problematik darstellt. Lediglich die Umstellung auf deutlich verbrauchsärmere Formen der Mobilität, so die Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs, des Gütertransports per Schiene sowie der Ausbau der Infrastrukturen für Fahrradfahrer und Fußgänger sind gangbare Wege zur Verringerung eines Verbrauchs, der ganze Regionen, in denen mineralische und fossile Rohstoffe gefördert werden, zerstören kann und erheblich zur Erhitzung der Erdatmosphäre beiträgt.

Insbesondere die Studie "Rohstoffe für Zukunftstechnologien 2016" der Deutschen Rohstoffagentur liefert das Datenmaterial, anhand dessen die Verbrauchsprognosen für 42 Zukunftstechnologien am Beispiel einzelner Metalle, Mineralien und Stoffgruppen aufgestellt werden. Diese länderspezifisch in "Abbau und Produktion" sowie "Verwendung in Zukunftstechnologien" differenzierte Darstellung nimmt den größten Raum der 55 Seiten starken Studie "Ressourcenfluch 4.0" ein. Zudem gewährt sie Einblick in den rohstoffpolitischen Diskurs auf Ebene der Bundesregierung und Industrieverbände, der insbesondere in seinen handelspolitischen und geostrategischen Konsequenzen bedeutsam ist und wichtige Informationen für Kritikerinnen und Kritiker deutscher Hegemonial- und Kriegspolitik bietet.

Für die Debatte um die Digitalisierung der gesellschaftlichen Produktionsweise wie der Energie- und Verkehrswende ist das in der Studie zusammengefaßte Informationsmaterial ebenfalls essentiell, wird doch mit mancherlei Mythen über Zukunftschancen aufgeräumt, die eher fromme Hoffnungen denn wissenschaftlich seriöse Prognosen sind. Dies gilt auch für die weitergehende Kritik eines digitalen Kapitalismus, dessen angeblich immaterieller Charakter Möglichkeiten der gesellschaftlichen Reproduktion suggeriert, die an die Idee des Perpetuum mobile anzuknüpfen scheinen.

Zu wissen, wie verbrauchsintensiv und ökologisch prekär die neuen informationstechnischen Systeme und ihre weitere Vernetzung sind, die zu einer Vervielfachung des gegenwärtigen Bestandes an Mikrochips, Sensoren, Leitungen, Serverparks und Elektrizitätsanlagen führen wird, hilft Aktivistinnen und Aktivisten weiter, die die Digitalisierung von allem und jedem als qualifizierte Form monopolistischer Kontrolle und Herrschaftsicherung begreifen. Stoff genug also zum Nachdenken über die unvermindert hochgehaltene Maxime, möglichst große Wachstumsraten zu erzielen, um als nationale Volkswirtschaft auch in Zukunft global wettbewerbsfähig zu sein, während die Lohnabhängigenklasse zusehends abgehängt und überflüssig gemacht wird.

"Politisches Umsteuern notwendig" ist das sechste und letzte Kapitel der Studie überschrieben. Darin heißt es abschließend: "Zusammen mit der Zivilgesellschaft, Gewerkschaften und anderen Akteur*innen muss die Politik sich für Regeln einsetzen, damit Industrie 4.0 nicht zum Schaden Vieler wird, sondern Menschenrechte geschützt und der Ressourcenverbrauch reduziert wird. Industrie 4.0 darf kein Ressourcenfluch 4.0 werden." Wie wirksam die Vorgehensweise, die industriepolitische Entwicklung zivilgesellschaftlich einzuhegen, anstatt alternative Produktionsweisen und Lebensentwürfe mit antikapitalistischer Konsequenz aufzuzeigen, auch sein mag, der Forderung nach einer absoluten Senkung des Rohstoffverbrauchs ist auf jeden Fall zuzustimmen.


Fußnoten:

[1] https://power-shift.de/ressourcenfluch-4-0/

[2] https://power-shift.de/wordpress/wp-content/uploads/2017/02/Ressourcenfluch-40-rohstoffe-menschenrechte-und-industrie-40.pdf

24. März 2017


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