Schattenblick → INFOPOOL → BILDUNG UND KULTUR → REDAKTION


STUDIENKRITIK/007: "Coca-Cola-Report" - Konsequenzen nur im Supermarkt ... (SB)



Den hohen Zuckergehalt sogenannter Erfrischungsgetränke gesetzlich durch eine Sondersteuer zu regulieren und die Aufklärung der Verbraucher auf Signalfunktionen zu beschränken ist ein schlechter Ersatz für die Kritik monopolistischer Strukturen der Ernährungsindustrie, des liberalisierten Welthandels und der biopolitischen Bewirtschaftung der Bevölkerung. Deren Gesundheit war noch nie ein für sich genommen schützenswertes Gut, sondern wurde und wird im Verhältnis zu ihrer produktiven Vernutzung für Staat, Nation und Kapital reguliert. Der Mensch hat zwar einen Rechtsanspruch auf körperliche Unversehrtheit, dessen Realisierung allerdings so geduldig ist wie das Papier, auf dem er niedergeschrieben wurde. Im Kern wird er - bei aller sozialstaatlichen und sozialreformerischen Regulation allzu eklatanter Widerspruchslagen - als staatlich administriertes Verbrauchsgut den Zielen und Interessen gesamtgesellschaftlichen Erfolges in Wachstum und Wettbewerb unterworfen.

Wer die Schuld für die eigene Misere beim andern sucht, vollzieht in den Augen jener Bezichtigungslogik, die soziale und gesellschaftliche Zwangsverhältnisse zugunsten bürgerlicher Klassenprivilegien und legalistischer Herrschaftsstrategien leugnet, ein leicht durchschaubares Ausweichmanöver. Die solchermaßen begründete Ablehnung staatlicher Interventionen in die Vermarktung gesundheitsgefährdender Nahrungsmittel steht in Anbetracht vieler wie selbstverständlich gutgeheißener Praktiken körperlicher Schädigung auf schwachen Füßen. Wo die Lebenswelten und Reproduktionssphären von Mensch und Natur Gefahren ausgesetzt sind, deren industrielle und fossilistische Genese angesichts unverändert propagierter Wachstumsziele nicht ernsthaft in Frage gestellt wird, kann die in Anschlag liberaler Bürgerlichkeit gebrachte Freiheitsideologie ihren Partikularcharakter nicht verbergen. Dementsprechend zielsicher, also vor allem diejenigen treffend, die nichts als ihre Arbeitskraft zu verkaufen haben, wird das knappe Gut Gesundheit zur Disposition seiner Verwertung durch die kapitalistischen Arbeitsgesellschaft gestellt.

Wie etwa der Unterschied in der durchschnittlichen Lebenserwartung von zehn Jahren zwischen dem reichsten und ärmsten Fünftel der bundesrepublikanischen Gesellschaft belegt, steht und fällt das individuelle Wohlbefinden mit dem sozialen Status der einzelnen Marktsubjekte. Dieses sozialökonomische Gewaltverhältnis verschärft sich massiv in Sicht auf die globalen Produktionsverhältnisse, die Menschen am unteren Ende der weltmarktbedingten Krisenkonkurrenz zu einem Leben in Mangel und Not verurteilen. Sich in einer privatwirtschaftlichen Eigentumsordnung von höchst ungleicher Art über Einschränkungen individueller Freiheit zu beschweren, zumal wenn diese ein Erwerbsstreben begünstigen, das die unterbezahlte und kostenlose Arbeit von Millionen in die Kapitalakkumulation der hochproduktiven Metropolengesellschaften einspeist, ist unschwer als Zementierung klassengesellschaftlicher Vorteile zu durchschauen.

Dennoch gibt es gute Gründe, die von der Organisation Foodwatch in ihrem jüngst veröffentlichten "Coca-Cola-Report" [1] geforderten Maßnahmen regulatorischer Art zur Einschränkung zuckerbedingter Gesundheitsrisiken kritisch zu hinterfragen. Zwar zeichnen die dort ausführlich und detailliert dokumentierten Vermarktungsstrategien der großen Getränkekonzerne ein Bild rücksichtslosen, insbesondere die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen gefährdenden Geschäftsgebarens. Wer etwas über die auf Gewinnmaximierung um fast jeden Preis ausgerichteten Unternehmenspraktiken der Getränkeindustrie erfahren will, dem wird mit dem "Coca-Cola-Report" ein Sittengemälde von entlarvender Art geboten. Auch die Dokumentation der Studien zu den Gesundheitsgefahren, die von übermäßigem Zuckerkonsum ausgehen, ist lesenswert und erkenntnisreich. Zudem ist eine Lektüre, die ahnen läßt, daß der Einfall Coca-Cola-roter Weihnachtstrucks in winterliche Konsumlandschaften nicht von ungefähr an kolonialistische Eroberungszüge früherer Zeiten gemahnt, von einigem Unterhaltungswert. Von Interesse für die Debatte um mögliche Ursachen von Diabetes II und Adipositas ist auch die Strategie der Getränkeindustrie, die Aufmerksamkeit auf andere Gesundheitsrisiken als übermäßigen Zuckerkonsum wie den angeblichen Bewegungsmangel zu lenken. Dieser sei wissenschaftlich nicht belegbar, wohl aber der in den letzten Jahrzehnten erheblich angewachsene Kalorienverbrauch, so der Autor des Reports, Oliver Huizinga.

Die politische Stoßrichtung der Organisation Foodwatch allerdings ist auf eine Regulation des Konsums zuckerhaltiger Getränke beschränkt, die weder die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse in Frage stellt, die die Entstehung monopolistischer Strukturen im Bereich der Ernährung begünstigen, noch wesentlich zur Emanzipation der VerbraucherInnen beiträgt. So stellt die Einführung einer Sonderabgabe auf zuckerhaltige Getränke auf eine steuerliche Lenkungswirkung ab, die einkommensschwache Menschen zumindest perspektivisch benachteiligt. Im Unterschied zu Tabak, bei dem es sich um ein reines Genußmittel handelt, dessen Besteuerung jedoch als Vorbild für eine Zuckersteuer dient, läuft die fiskalische Regulation der Ernährung Gefahr, das unter Hartz IV-Bedingungen ohnehin kaum zu bestreitende Überleben noch schwieriger zu machen. Wer heute schon zu billigsten Lebensmitteln mit hohem Fett-, Salz- oder Zuckergehalt greifen muß, um satt zu werden, wird auch bei dem geforderten Wegfall der Mehrwertsteuer auf Obst und Gemüse bei einer zusätzlichen Verteuerung industriell hergestellter Nahrungsmittel Probleme haben, mit einem Tagessatz von 4,77 Euro überhaupt satt zu werden.

Einkommensarmen Menschen ist auch mit einer Kennzeichnung durch die sogenannte Ampel, die mit Hilfe eines Farbcodes vor besonders zuckrigen, fetten und salzigen Lebensmitteln warnt, wenig gedient. Im Zweifelsfall müssen sie gerade zu denjenigen Produkten greifen, vor denen gewarnt wird, weil diese am meisten Nährwert pro Euro liefern. Gegenüber Bemühungen, die Menschen mit den stofflichen und physiologischen Grundlagen einer vollwertigen Ernährung vertraut und ihnen die Abkehr vom schnellen Konsum sogenannten Convenience-Foods durch die Rekultivierung der Kunst des Konservierens und Kochens schmackhaft zu machen, erscheinen die hinter jede begriffsbildende Kompetenz zurückfallenden Signalfunktionen der Ampel fast wie eine Maßnahme zur allgemeinen Verdummung.

Zudem ist die Frage, welche Lebensmittel im einzelnen als gesundheitsförderlich gelten und welche nicht, gerade unter ExpertInnen umstritten. Zwar besteht weitgehend Einigkeit darüber, daß raffinierter, von Mineralien und anderen Nährstoffen isolierter Einfach- und Zweifachzucker einer vollwertigen Ernährung eher abträglich ist, doch schon bei der Frage, ob eine eher eiweiß- oder eher kohlehydratreiche Ernährung zu bevorzugen sei, scheiden sich die Geister. Gleiches gilt für Fragen wie die Bevorzugung tierischer oder pflanzlicher Proteine, die heftig diskutierten Auswirkungen angeblich gesundheitsfördernder Rohmilch oder den diätetischen Wert von Rohkost. Ob es hier um Glaubensfragen oder Ernährungsphysiologie geht, bleibt so lange unerheblich, als keine Ansicht hegemonial und Menschen das Leben schwergemacht wird, die sich anders ernähren wollen.

Monopolkapitalistische Verwertungspraktiken zu verändern und damit die Verfügungsgewalt großer Konzerne der Agro- und Lebensmittelindustrie über die Ernährung der Menschen zu brechen wäre ein politisches Ansinnen, das die marktbeherrschende Stellung bestimmter Akteure praktisch im Nebenherein beendete. Mit administrativen Mitteln an einzelnen Schrauben wie dem Zuckergehalt von Getränken zu drehen erzeugt demgegenüber den irreführenden Eindruck, alle Probleme ließen sich über die Seite des Verbrauchs bestens lösen.

Daß dem nicht so ist, zeigt der im "Coca-Cola-Report" unterbliebene Blick auf die Produktionsvoraussetzungen des Zuckers. Bei einem Kilopreis von rund 30 Eurocent kommen nur große Erzeuger, die auf wenig ökologische Weise anbauen, auf ihre Kosten. Externalisierte Aufwendungen in allen Bereichen gesellschaftlicher Produktion einzupreisen hätte zur Folge, nicht mehr ignorieren zu können, daß die wachstumsorientierte Privilegierung privatwirtschaftlicher Akteure stets mit sozialökologischem Raubbau einhergeht. Wollte man die ernährungstechnische Gesundheitsvorsorge partout über den Preis regeln, wie mit der steuerlichen Lenkungswirkung angestrebt, dann könnte man ebensogut die Einkommen der Menschen auf eine Mindesthöhe bringen, die die Reproduktion ihres Arbeitsvermögens ohne agrarwirtschaftliche und industriepolitische Quersubventionierung unternehmerischer Rentabilität möglich machte.

Daß sich ein solcher Vorschlag geradezu utopisch anhört, zeigt, wie abgehoben die Logik marktwirtschaftlicher Regulierung von den sozialen Grundlagen kapitalistischer Vergesellschaftung ist. Nicht anders als in der Green Economy wird mit Scheinlösungen operiert, die die Besitzstände derjenigen schützen, die den herrschenden Produktionsverhältnissen am meisten abgewinnen können. Dementsprechend unreflektiert wird mit den psychophysischen Voraussetzungen des obsessiven Zuckerkonsums umgegangen. Während die kompensatorischen Notstände einer auf Arbeit und Konsum reduzierten Marktgesellschaft unerwähnt bleiben, suggeriert der Analogieschluß zwischen Getränke- und Tabakindustrie eine vergleichbare Suchtentwicklung von Nahrungsmittel und Genußgift. Die Unterstellung einer passiven Subjektivierung zur Suchtpersönlichkeit auf allen möglichen Gebieten menschlicher Lebensgestaltung ist signifikant für eine Medikalisierung und Psychiatrisierung gesellschaftlicher Mißstände, die zu überwinden nicht nur die Bereitschaft, sondern inzwischen auch jegliches Problembewußtsein zu fehlen scheint.

Die Menschen auf den Status von VerbraucherInnen zu reduzieren, die vor dem Supermarktregal eine Wahl zwischen mehr oder weniger gesunden Nahrungsmitteln zu treffen haben, bekräftigt die vermeintliche Alternativlosigkeit herrschender Verhältnisse. Um so einleuchtender erscheint es, ihre Misere an das Gewinnstreben marktbeherrschender Konzerne zu adressieren. Auch wenn dies nicht vollständig falsch ist, so dienen derartige Manöver doch vor allem dazu, Lösungsperspektiven zu entwerfen, die vom Regen passiv erlittener Vergesellschaftung in die Traufe fortgesetzter Ohnmacht führen. Das Erkämpfen einer Ernährungssouveränität, die die ganze Kette von Produktion bis Verbrauch so weit wie möglich kapitalistischen Verwertungsstrukturen entzieht, um die soziale und physische Reproduktion in die eigenen Händen zu bekommen, ist ein emanzipatorischer Gegenentwurf, der das bloße Experimentierstadium bereits hinter sich gelassen hat. Kollektiv sozialökologische Alternativmodelle zu entwickeln, anstatt sich mit individuellen Scheinalternativen im Supermarkt zu bescheiden, schafft beste Voraussetzungen dafür, mehr als nur subjektives Wohlbefinden zu entwickeln.


Fußnote:

[1] https://www.foodwatch.org/fileadmin/Themen/Zucker__Fett_und_Co/Coca-Cola-Report/2018-04_Coca-Cola-Report_foodwatch.pdf

10. April 2018


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang