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BERICHT/012: "Die Untoten" - Palliativmedizin zwischen Patientenautonomie und Sterbehilfe (SB)


Kulturtheoretische und klinische Grenzziehungen im Zwiegespräch

Maja Falckenberg, Thomas Macho - Foto: © 2011 by Schattenblick

Maja Falckenberg, Thomas Macho
Foto: © 2011 by Schattenblick

Gibt es ein Leben vor dem Tod? Diese einst dem theologischen Diskurs um Erlösung und Verdammnis kontradiktorisch entgegengehaltene Frage nach einer menschenwürdigen Existenz ist weder rhetorischer Natur, noch mit einer Antwort aus dem Feld zu schlagen. Mag die Polarität von Leben und Tod auch geklärte Verhältnisse im Sinne eindeutig konnotierter und scharf voneinander abgegrenzter Zustände suggerieren, führt doch jeder Schritt ernsthafter Auseinandersetzung mit dieser existentiellen Zerreißprobe tiefer in ein Feld tabuisierter Zweifel und fundamentaler Unwägbarkeiten. Konfrontiert mit der Nichtigkeit eigener Hoffnungen, Sehnsüchte und Perspektiven postuliert man ein Ende, das allem Leiden die Dauer zu nehmen oder darüber hinaus womöglich sogar einen Neubeginn unter besseren Vorzeichen in Aussicht zu stellen scheint. Die darüber konstituierte Ordnung stiftet Sinn, wo der Keim des Aufbegehrens gegen die aus Notwendigkeit geborenen Lebensverhältnisse deren Unannehmbarkeit postuliert, und predigt Versöhnung, wo Streitbarkeit das Furchterregende konfrontiert.

Der Sterbende sei friedlich eingeschlafen, versichert der Arzt den Hinterbliebenen, denn wer wollte wirklich wissen, welche Verlassenheit, Angst und kreatürliche Qual den Menschen an der Schwelle der Unwiderruflichkeit im Todeskampf heimsucht. Er habe losgelassen und die ewige Ruhe gefunden, spendet man einander erleichtert Trost, endlich der Sorge enthoben und geborgen in Zuversicht, daß der Glaube an ein gutes Ende nicht vergeblich sei. Womöglich wird man von dem Verstorbenen sagen, er habe ein erfülltes Leben geführt, als ließen sich Keller, Kammern und Truhen materieller oder geistiger Art mit Substantiellem füllen, das in einer Abschlußbilanz auf der Habenseite zu Buche schlägt. Vielleicht beklagt man im Gegenteil einen sinnlosen Tod, der zu plötzlich, zu früh, zu unverschuldet eingetreten sei, als machten Unterschiede verständlicher oder greifbarer, was als Vernichtungsgewalt allgegenwärtig wirkt. Es sterbe sich leichter, heißt es, wenn man zuvor seinen Frieden gemacht hat. Wer wollte mit Sicherheit sagen, daß es nicht vielmehr der Konsens der Überlebenden ist, ihre Galgenfrist in einen kalkulierbaren Vorteil umzumünzen?

Hört man von Menschen, die in Krankenhäusern, Altenheimen und Pflegestationen abgeschoben und vereinsamt, fehlbehandelt und unterversorgt in letztlich unbekannter, aber zweifellos erschreckend hoher Zahl zu Tode gebracht werden, ahnt man die mörderischen Konsequenzen einer gesellschaftlichen Verfassung, Wirtschaftsweise und Deformation des Denkens und Mitgefühls, die menschliches Leben nach der Maßgabe seiner Verwertbarkeit auspreßt. Hospizbewegung und Palliativmedizin, die sich auf ihre Fahnen geschrieben haben, der Mißachtung, Entwürdigung und nicht selten Vernichtung Schwerstkranker und Sterbender entgegenzutreten, begeben sich auf ein Schlachtfeld mit mehr als nur einer Front. Zu der Belastung, sich im alltäglichen Umgang mit dem Tod zu konfrontieren, gesellt sich der unablässige Kampf gegen institutionelle, finanzielle und politische Zwänge, nicht zuletzt aber auch die jederzeit präsente Gefahr, selbst zu einem Teil des Systems zu werden, das für nutzlos und zugleich allzu kostspielig erachtete Sterbende reibungslos verwaltet und fachgerecht entsorgt.

Als Vorkämpferin der modernen Hospizbewegung und Palliativmedizin gilt die Krankenschwester und Ärztin Cicely Saunders, die sich nach Ende des Zweiten Weltkriegs für eine Neubewertung des Sterbens einsetzte. Galt die Verhinderung bzw. das Hinauszögern des Todes lange als primäre Aufgabe der Medizin, so machte Saunders eine umfassende Verbesserung der körperlichen, psychischen, sozialen und spirituellen Lebensqualität der Patienten geltend. Sie stellte eine Reihe wegweisender Prinzipien auf, die die Interessen und Bedürfnisse des Patienten in den Mittelpunkt stellen, alle Beteiligten einbeziehen, eine multidisziplinäre Behandlung festschreiben, Menschlichkeit und Vertrauensverhältnis in den Vordergrund rücken. Viele Patienten leiden in fortgeschrittenen Krankheitsstadien unter Schmerzen, Müdigkeit, Schwäche und anderen Symptomen, die so belastend sein können, daß das Leben unerträglich scheint. Mit Medikamenten, physikalischen Maßnahmen und anderen Therapien können diese Beschwerden oftmals soweit gelindert werden, daß wieder andere Gedanken und Tätigkeiten möglich sind und die verbleibende Lebenszeit als lebenswert empfunden wird.

Nach den Definitionen der Weltgesundheitsorganisation und der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin ist diese "die aktive, ganzheitliche Behandlung von Patienten mit einer progredienten (voranschreitenden), weit fortgeschrittenen Erkrankung und einer begrenzten Lebenserwartung zu der Zeit, in der die Erkrankung nicht mehr auf eine kurative Behandlung anspricht und die Beherrschung von Schmerzen, anderen Krankheitsbeschwerden, psychologischen, sozialen und spirituellen Problemen höchste Priorität besitzt", die über eine konventionelle Schmerztherapie hinausgeht. Nicht die Verlängerung der Überlebenszeit um jeden Preis, sondern die Lebensqualität, also die Wünsche, Ziele und das Befinden des Patienten stehen im Vordergrund der Behandlung.

Wenn in der Palliativmedizin von einer Bejahung des Lebens die Rede ist und aktive Sterbehilfe strikt abgelehnt wird, mutet dies wie eine klare und eindeutige Haltung an. Andererseits heißt es aber auch, daß der Tod weder beschleunigt, noch hinausgezögert werden solle, da Sterben und Tod als Teil des Lebens akzeptiert werden müßten. Nach ihrem Selbstverständnis ist Palliativmedizin keine Sterbemedizin, da sie sich gegen die Verkürzung des Lebens wendet. Sie verwirft andererseits sinnlose Therapieversuche, die den Patienten belasten und ihm die Lebensqualität rauben. Zugleich muß sie das Selbstbestimmungsrecht des Kranken achten, der möglicherweise alle Behandlungen ablehnt und sterben möchte. Es liegt auf der Hand, daß aus diesen Widersprüchen zwangsläufig Konflikte erwachsen, die insbesondere hinsichtlich der Sterbehilfe brisanter nicht sein könnten.

Maja Falckenberg, Thomas Macho - Foto: © 2011 by Schattenblick

Schwerwiegende Fragen verdaulich gemacht
Foto: © 2011 by Schattenblick

Auf dem Kongreß "Die Untoten" sprachen der Kulturwissenschaftler Thomas Macho und die Medizinerin Maja Falckenberg über Palliativmedizin, um deren Problemlage auszuloten. Maja Falckenberg ist Fachärztin für Anästhesiologie mit Zusatzbezeichnung Schmerztherapie und Palliativmedizin, wobei ihre Tätigkeit die Betreuung von ambulanten, stationären und Hospiz-Patienten umfaßt. Gemeinsam mit der Ärztekammer veranstaltet sie Kurse für Palliativmedizin und ist zudem seit vielen Jahren in der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin aktiv.

Thomas Macho studierte Philosophie, Musikwissenschaft und Pädagogik. Er ist Professor für Kulturgeschichte am Institut für Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität Berlin. In einer Vielzahl von Publikationen beschäftigt er sich mit Metaphern und Bildern des Todes sowie mit der historischen und kulturellen Wandelbarkeit des Umgangs mit dem Tod. Insbesondere forscht er zur aktuellen, neuen Sichtbarkeit des Todes, zu Unterwelten, zu Totenmasken und zu Gustav Theodor Fechners "Büchlein vom Leben nach dem Tode".

Maja Falckenberg konstrastierte eingangs die Entwicklung in England, wo es bereits in den siebziger Jahren eine systematische Ausbildung der Studenten in Palliativmedizin gab, mit dem enormen Nachholbedarf in Deutschland, da dieser Zweig hierzulande erst beginnend mit den neunziger Jahren ihren Stellenwert erlangte. Seither meldeten vielfältige Fachbereiche Interesse an, sich diesen medizinischen und pflegerische Problemen am Lebensende zu widmen, um sich weiterzuqualifizieren und spezielle Fachkompetenzen zu erlangen. Inzwischen hätten viele begriffen, daß auf diesem Feld spezielle Probleme des Patienten auftreten, die mit entsprechenden Fachkenntnissen besser zu bewältigen sind.

Dazu zählen insbesondere Symptomatiken wie Schmerzen und damit verbundene Angstzustände wie beispielsweise Luftnot, die mit der einzigartigen Situation am Lebensende zusammenhängen und die Perspektive hinsichtlich der verbleibenden Tage, Wochen oder Monate des Lebens massiv beeinflussen. Ärzte, Betreuende, Pfleger und Angehörige stellt das immer wieder vor die schwierige Entscheidung, ob man vor allem somatisch durch Anwendung bestimmter Medikamente auf die Symptomatiken eingeht oder nicht viel mehr dem Patienten Geborgenheit, und Sicherheit geben sollte, was wiederum zur Linderung der Beschwerden beitragen kann.

Thomas Macho griff das auf und fragte nach der Balance zwischen den physiologischen Problemen einerseits und den psychischen andererseits sowie einem dritten Bereich, der mit dem Spirituellen, dem Weiterleben nach dem Tod zu tun hat. Die Palliativärztin berichtete von einer Arbeitsgruppe, die vor acht Jahren ein Curriculum zur Ausbildung der Palliativmedizin erstellte und dabei vor der Frage stand, wie eine Ausbildung zu gestalten sei, die sich nicht auf medizinische und pflegerische Aspekte beschränkt, sondern eine grundlegende Haltung im Umgang mit Sterbenden beinhaltet, was freilich sehr schwer in Rahmen der traditionellen Ausbildung zu leisten sei. Diese müsse im Kontext der praktischen Arbeit stehen, weshalb man sich speziell in Hamburg darum bemühe, daß die Lehrenden über weitreichende eigene Erfahrungen in der Begleitung und Behandlung Sterbender verfügen.

Macho erinnerte daran, daß die Hospizbewegung in England in engem Zusammenhang mit AIDS-Erkrankungen stand und daher zunächst wenig mit dem vieldiskutierten demographischen Wandel zu tun hatte, den man heute oftmals mit Palliativmedizin assoziiert. Falckenberg berichtete aus ihrer eigenen Biographie von den Allmachtsgefühlen, die junge Ärzte in den achtziger Jahren hatten. Was man damals auf den Intensivstationen chirurgisch und pharmakologisch erlebte, sei ungeheuer beeindruckend gewesen. Schwerkranke mit Medikamenten wiederzubeleben sei zugleich von einem unterschwelligen Grausen begleitet gewesen, was sicherlich mit der Sozialisation in der Kindheit zusammenhing. Es weckte Angst, in Vorgänge einzugreifen, an denen man dieser Auffassung zufolge nicht rütteln durfte. Was, wenn man Patienten über Tage oder Wochen intensiv behandelte, die körperlich oder mental beschädigt daraus hervorgehen? Wer profitiert von dieser Verfahrensweise, wenn man das für den Menschen nicht bestätigen kann, dem diese Behandlung dienen sollte? Aus diesen Zweifeln erwuchs ein kritischerer Umgang mit dem ärztlichen Handeln und insbesondere das Interesse, sich stärker dem Lebensende zuzuwenden.

Thomas Macho wies an dieser Stelle auf die eigentümlich Parallele hin, daß einerseits lebensverlängernde Techniken durch sprunghafte Fortschritte der Medizin Konjunktur haben, und zugleich die Frage der aktiven oder passiven Sterbehilfe Raum greift. Ihm komme dazu der Roman "Eine Zeit ohne Tode" des portugiesischen Schriftstellers José Saramago in den Sinn, der die Fiktion eines Landes entwarf, in dem von einem bestimmten Zeitpunkt an niemand mehr stirbt. Daraus resultierten ungeahnte Probleme wie unbesetzte Krankenhäuser, arbeitslose Bestatter oder Erben, die vergebens auf das Ableben ihres todkranken Großvaters warten. Selbst die Königin stirbt nicht, so daß ihr Sohn den Thron nicht übernehmen kann. Als man auf die Idee verfällt, Menschen mit ihrem Einverständnis ins Ausland zu bringen, wo sie sterben können, erwächst eine heftige Kontroverse. Die Mafia bietet ihre Dienste an, den Transport zu übernehmen, während andere argumentieren, Leute über die Grenze zu schaffen, sei doch nichts anderes, als sie gleich umzubringen. In diesem Roman spiegelten sich also jene Probleme wider, mit denen man sich heute auseinandersetzen muß. Die Frage, wie aktiv oder passiv sich der Arzt bei der Herbeiführung des Todes verhalten darf, sei jüngst in der Diskussion um die neue Verordnung der Bundesärztekammer sehr kontrovers geführt worden. Aus der christlichen Glaubensüberzeugung folge indessen ein unbedingtes Tötungsverbot.

Dies unterstrich Maja Falckenberg, die in diesem Zusammenhang auf dramatische Veränderungen im Laufe der letzten Jahre hinwies. Zum einen veränderten einen die Erfahrungen, die man als Arzt gemacht hat. In einem Hospiz mit 15 oder 16 Betten sterben in einem Jahr zwischen 130 und 170 Menschen, die man alle gekannt hat. Hinzu kämen andere Patienten, die man begleitet hat, so daß sich hochgerechnet aus den dreizehn Jahren ihrer Tätigkeit auf diesem Gebiet eine hohe Zahl ergebe. Sie erinnere sich an Patienten, die bereits in den ersten Gesprächen um Sterbehilfe baten, da sie angesichts ihrer Symptome kein Sinn im Weiterleben sahen. Während solche Fragen früher sehr selten gestellt worden seien, deuteten Patienten heute viel häufiger an, daß sie doch sicher Mittel bekämen, wenn sie ihre Schmerzen nicht mehr aushalten könnten. Möglicherweise meinten sie eine Sedierung am Lebensende, um in einer Art Narkoseschlaf nicht aushaltbaren Symptome für gewisse Fristen erträglich zu machen. Vielleicht schwang aber auch der Wunsch nach einer Medikamentengabe mit, an der sie sofort sterben. Die Situation habe sich dramatisch dahingehend geändert, daß inzwischen aktive Sterbehilfe in Einzelfällen konkret eingefordert werde. Da es sich um Patienten mit hohem Bildungshintergrund handelte, müsse ihnen klar sein, daß das eigentlich nicht möglich ist. Andererseits gibt es die Patientenverfügung, in der man sich mit einer Medikation einverstanden erklären kann, die möglicherweise auch zum Tod führt. Die allermeisten Patienten suchten indessen die Sicherheit, im Falle unerträglicher Schmerzen Hilfe zu bekommen, um diese Phase zu überstehen.

Wie Angehörige mit dieser Situation umgehen, sei durchaus unterschiedlich. Man erlebe oft, daß sich ein Patient mit Luftnot oder Schmerzspitzen trotzdem auf den nächsten Besuch freut, noch kurzfristige Perspektiven entwickelt, deutlich äußert, was er noch erleben möchte, und hofft, das noch schaffen zu können. Hingegen falle es Angehörigen oftmals schwer, extreme Notlagen mitzuerleben, ohne darauf zu drängen, daß man den Patienten dauerhaft sediere.

Macho sprach von dramatisch zu nennenden Verschiebungen in dieser Diskussion und thematisierte das Symptom des Gedächtnisschwunds, wie er insbesondere mit Demenzerkrankungen einhergehe. Demenz müsse ja nicht dazu führen, daß jemand unglücklich lebt. Ihn habe sehr berührt, was Inge Jens über ihren Mann berichtete, der einst sogar Bücher darüber geschrieben hat, wie man menschenwürdig stirbt, und nun an Demenz erkrankt ist. "Bitte nicht totmachen", habe Walter Jens in einer Situation gesagt, in der er bereits stark von der Krankheit beeinträchtigt war, aber eben auch Freude am Leben hatte. In dem Buch "Der alte König in seinem Exil" schildert Arno Geiger, wie der Sohn den Vater fragt: "Papa, weißt du überhaupt, wer ich bin ?" Worauf der Alte antwortet: "Als ob das so wichtig wäre." Vielleicht sei es wirklich nicht wichtig gewesen, daß er die Geschichte ihrer Beziehung im Kopf hatte, sondern sie in der Situation erlebte und gestaltete, so Macho.

Diese Erkrankungen seien ein typisches Beispiel dafür, daß man vor einer Demenz sagt, daß man das nie erleben und den Angehörigen nicht antun möchte, stimmte ihm Falckenberg zu. Befinde man sich jedoch in der Erkrankung, vergesse man auch Augenblicke extremer Qual. Während Angehörige verlangten, man müsse diese Qual dauerhaft ausschließen, gehe der Betroffene eine halbe Stunde später eine Zigarette rauchen oder einen Pudding essen.

Macho fügte dem einen kurzen Verweis auf eine Geschichte des Neurowissenschaftlers Oliver Sacks über einen Mann hinzu, der in den vierziger Jahren aufgrund einer komplexeren Hirnerkrankung im Alter von 25 steckengeblieben ist und später immer noch in dieser Zeit lebt. Als man ihm eines Tages einen Spiegel vorhält, erschrickt er furchtbar und fragt, wer das denn sei, da er im Kopf immer noch 25 und nicht 65 ist. Das sei grausam gewesen, schreibt der Autor, wofür er als einzige Entschuldigung gelten lassen könne, daß der Mann fünf Minuten später alles wieder vergessen habe und glücklich sei.

Dann sprach Macho, dem in diesem Zwiegespräch offensichtlich der Part zugefallen war, Zweifel zu formulieren und die Diskussion näher an die Grenzen akzeptablen palliativmedizinischen Handelns heranzuführen, düstere Ahnungen an. Müsse man nicht fürchten, daß Änderungen in der Behandlung Demenzkranker durchgesetzt werden, die auf einen Entzug von Flüssigkeit und Nahrung hinausliefen?

Das sei in der Tat eine gruselige Vorstellung, doch könne sie sich nicht vorstellen, daß es dazu kommt, zog Falckenberg eine klare berufständische Grenze ihrer Kritik. Sie gestand zwar die Befürchtung ein, der gesellschaftliche Druck im Umgang mit Suizid könne zu einer diesbezügliche Verpflichtung der Ärzte führen, doch vermied sie an dieser Stelle, entschieden gegen ein solches Ansinnen Position zu beziehen.

Macho setzte mit der Frage nach, ob das Modell der Patientenverfügung nicht vom Grundsatz her kranke. Wie wolle man heute bestimmen, was in einer künftigen Lebenssituation inakzeptabel wäre, über die man doch so gut wie nichts wisse? Auch Falckenberg sah die Schwierigkeit, einerseits die Autonomie des Patienten zu respektieren und der Verfügung entsprechend zu handeln, und zugleich zu wissen, wie verantwortungslos in der Gesellschaft mit vielen Aspekten des Lebens umgegangen wird. Man müsse sich zu Recht fragen, inwiefern ein größerer Teil der Bevölkerung überhaupt in der Lage ist, verantwortlich mit einer Patientenverfügung umzugehen. In dieser werde häufig etwas formuliert, was der später eintretenden Situation überhaupt nicht entspricht. Auch würde man sich vermutlich nicht selten anders entscheiden, würde man noch einmal gefragt werden. Man könne sich beispielsweise als Gesunder überhaupt nicht vorstellen, daß man mit einer Querschnittslähmung oder anderen Krankheitssituationen weiterleben möchte. Der Sinn der Patientenverfügung liege ihres Erachtens vor allem darin, daß die Familien miteinander darüber sprechen und es bei einer nicht präzise gefaßten Patientenverfügung im Falle einer zusätzlichen Vorsorgevollmacht oder Betreuungsverfügung jemanden gibt, der im Sinn des Patienten handelt: "Das gibt die größte Sicherheit, daß ich an meinem Lebensende so behandelt werde, wie ich es gewollt habe."

Macho wollte diese Glättung im Sinne zufriedenstellend geregelter Verhältnisse, zumal sie sich nicht mit den zuvor angesprochenen Problemen in Deckung bringen ließ, nicht stehenlassen, und warnte vor Prämissen, die nicht zwangsläufig gelten müssen. Wenn Hiob, der seine gewaltigen Prüfungen überstanden hat, am Ende lebensmüde und lebenssatt stirbt, hat er ein Leben in allem Reichtum, in allen Höhen und Tiefen durchlitten und durchkämpft. Das sei jedoch ein Idealmodell, dessen sich die Patientenverfügung zu bedienen scheint. Was mache man aber in Situationen, in denen das ganz anders verläuft, wenn etwa jüngere Menschen oder sogar Kinder betroffen sind, für die es ja auch Hospize gibt?

Gerade bei Kindern stehe die Situation der Angehörigen mit im Mittelpunkt, so Falckenberg. Man betrachte das gesamte Familiensystem und unterstütze es in den verschiedenen Notwendigkeiten, da man anders den Kindern gar nicht helfen könne. Indessen gebe es in Hospizen immer wieder Kinder, die aufgrund einer ungünstigen familiären Situation allein sind. Natürlich berührten einen bestimmte Schicksale auf besondere Weise, wenn man dabei beispielsweise an die eigenen Kinder denke. Aber auch der 85jährige Mensch könne seinen Tod als nicht passend empfinden. Beides sei gleichermaßen tragisch und nicht am Platz. Wenn jemand stirbt, sei das in jedem Fall traurig.

Dem stimmte Macho entschieden zu, indem er von der furchtbaren Logik sprach, wonach die Alten zu Recht sterben. Da sei man unvermittelt beim System des verordneten Alterssuizids. Man vermutet hohe Dunkelziffern wenn Ärzte aus Gründen, die Familie nicht zu belasten oder das Ansehen des Verstorbenen nicht zu schmälern, kurzerhand Herzstillstand als akzeptable Todesursache notieren. Am 6. August 1969 habe Ernst Bloch mit Siegfried Unseld ein Gespräch über Unsterblichkeit, Tod und Fortleben geführt. Das war nicht zufällig der Todestag von Adorno, obgleich dessen Name im Gespräch nicht fiel. Bloch hält fest, daß man nicht sterben wollen darf: "Der Tod ist doch ein Beilhieb für die allermeisten". Da saß der 84jährige mit seinem Verleger unter Mißachtung der Tatsache, daß sein wesentlich jüngerer Kollege gerade gestorben war, und konnte nicht akzeptieren, daß er sterben soll. Das habe er immer sympathisch gefunden, unterstrich Macho, der dafür plädierte, die alten Menschen in ihrem Lebensrecht zu unterstützen. Diskussionen um Methusalemkomplex, Renten und demographischen Wandel oder Aufstand der Jungen bestritten das Lebensrecht der Alten nach dem Motto, man müsse es so machen wie Gunter Sachs.

Wenngleich das nicht das Ende des Zwiegesprächs war, in dem noch Aspekte des demographischen Wandels, die Finanzierung der Hospize und die Frage von Religion und Spiritualität gestreift wurden, kann man es doch als Schlußwort nehmen - besser noch als Ausgangspunkt eines Diskurses, der die Hospizbewegung und Palliativmedizin würdigt und zugleich auf ihren Anspruch hin überprüft. Entstanden in einer berufsständischen Kontroverse um den ärztlichen Auftrag reklamiert sie für sich, den sterbenden Menschen gegen das Ensemble gesellschaftlicher und sozialer Übergriffe und Ausgrenzungen zu verteidigen. Läuft sie dabei nicht Gefahr, mangels einer fundierten und entschiedenen Gesellschaftskritik als Modul in das System administrativer Abwicklung des Lebensendes integriert zu werden, ob als Feigenblatt oder Abteilung für spezielle Einzelfälle, am Ende gar als Labor begleiteten Sterbens? "Begleiten" ist ein Terminus, der in diesem Zusammenhang unvermeidlich und häufig verwendet wird, wohl, weil er alles abzudecken scheint, was man abzugleichen hofft, und offenläßt, wovon man nichts wissen will.

Maja Falckenberg, Thomas Macho - Foto: © 2011 by Schattenblick

Entschlossener Schritt in Randbereiche menschlicher Existenz Foto: © 2011 by Schattenblick

Zu "Die Untoten" bisher erschienen:

BERICHT/003: "Die Untoten" - Pressegespräch zu Kongress & Inszenierung vom 12.-14.5.2011 auf Kampnagel (SB)
BERICHT/004: "Die Untoten" - Im Stahlbad der transhumanistischen Optimierungsdoktrin (SB)
BERICHT/005: "Die Untoten" - Wachkoma, ein Widerspruch in sich (SB)
BERICHT/006: "Die Untoten" - Roboter - reprojektiver Entwurf menschlichen Scheiterns (SB)
BERICHT/007: "Die Untoten" - Wachkoma - ein Film erzählt (SB)
BERICHT/008: "Die Untoten" - Altern eine Krankheit? (SB)
BERICHT/009: "Die Untoten" - Mark Ravenhill ... im Limbus medizinischer Unwägbarkeit (SB)
BERICHT/010: "Die Untoten" - Systemvollendet - Schlachtvieh Mensch (SB)
BERICHT/011: "Die Untoten" - Verrechtlichung der Sterbehilfe Einfallstor für genozidale Lösungen? (SB)
INTERVIEW/001: "Die Untoten" - Matthias Zerler kämpft für Wachkoma-Patienten (SB)
INTERVIEW/002: "Die Untoten" - Petra Gehring, Philosophin (SB)

27. Mai 2011