Schattenblick →INFOPOOL →BILDUNG UND KULTUR → REPORT

BERICHT/030: "Die Untoten" - Nachlese (SB)



Unter dem Leichentuch die Vielfalt kreatürlichen Aufbegehrens

Plakat zum Kongreß im Kampnagel-Foyer - © 2011 by Schattenblick

Splatter-Ästhetik betont Objektcharakter menschlicher Organe und Gewebe
Foto: © 2011 by Schattenblick

Kulturproduktion am Scheideweg zwischen Affirmation und Gesellschaftskritik

Die Frage der Verfügung über Leben und Tod des Menschen könnte brisanter nicht sein. Während jedoch die Sphäre, die man als eigen und selbstbestimmt vor fremdem Zugriff geschützt zu wissen glaubt, im Zuge der Verwertung tief hinein in die Körperlichkeit ausgelöscht zu werden droht, greift Sprachlosigkeit im gesellschaftlichen Diskurs um sich. Bedrängt, bezichtigt und beraubt mangelt es dem Menschen als Patient, Sterbender oder Angehöriger am allerwenigsten an Betroffenheit, wohl aber an einem Forum der Auseinandersetzung, in dem seine Ängste und Qualen gewürdigt, seine Isolation überwunden und sein Aufbegehren Gestalt annehmen könnten. "Wer die Definitionshoheit über das Leben hat, bestimmt auch darüber", heißt es im Gesamtkonzept des Kongresses "Die Untoten" [1] vom 1. Oktober 2010. Diese Deutungsgewalt endet nicht vor einem Regime, das Sprechen und Denken beschneidet, verödet und an die Grenze der Nichtigkeit treibt. Der ewige Herrschaftstraum, sich nicht nur der Unterworfenen zu bemächtigen, sondern auch ihren Zweifel und Widerspruch unwiderruflich aus der Welt zu schaffen, okkupiert die politische und soziale Diskussion in einem Verdrängungsprozeß, der die Restbestände an Widerständigkeit delegitimiert und absorbiert.

Kultur im weitesten und mithin ausgestaltbarsten Sinn, die von der verfügungsrelevanten Suprematie politisch-wissenschaftlicher Faktensetzung in die Nachrangigkeit des Entbehrlichen verbannt oder als Konsumptionsmittel in Zeiten mangelnden Brotes rekrutiert wird, kommt damit unverhofft das Potential eines nicht restlos regulierten Refugiums zu. Die Freiheit der Kunst muß sich nicht zwangsläufig im Schaffen von Luftschlössern erschöpfen, die an die Stelle eliminierter Bewegungsräume in der Lebenswirklichkeit treten. Sie birgt auch Risse, Spalten und Bruchlinien im Monolithen des Unabwendbaren, zu denken und zu fragen, wie es ansonsten unter dem Druck der Konformität legitimer Entäußerungen zum Versiegen gebracht wird.

Die von der Kulturstiftung des Bundes als Geldgeber mit der wissenschaftlichen Vorbereitung und Begleitung des Kongresses betrauten Experten verwiesen darauf, daß die populäre Kultur "zwischen dem Machbaren, dem Vertretbaren und dem Vorstellbaren" vermittle. Die Beziehung zwischen Wissenschaft und Populärkultur "eher verschämt oder ironisch" zu konstatieren, genügt ihnen nicht, wollen sie doch "diese Beziehung ernster nehmen". Kultur als Übertragungsmittel zu verwenden, den herrschaftsförmigen Diskurs zu schmieren und zu befördern, indem Schablonen geprägt, Fügung und Akzeptanz geschaffen oder Spielräume suggeriert werden, könnte eine Konsequenz sein. Es muß jedoch nicht die einzig mögliche bleiben. So gelang es, ExpertInnen aus dem Feld der Biotechnologie, BioethikerInnen, PhilosophInnen, KünstlerInnen sowie Film- und Medienschaffende in der Kampnagelfabrik zusammenzubringen, die gesellschaftlich hochbrisante Kontroversen auf dem Feld zwischen Leben und Tod in seltener Breite und Dichte thematisierten.

Selbstmordinszenierung in Modewerbung - © 2011 by Schattenblick

Nekrophiler Chic - sterben für ein
Designer-Suit
Foto: © 2011 by Schattenblick
Wie aber ließe sich verhindern, daß der Zugang zu diesem Themenkomplex aus verschiedenen Vektoren, die Offenheit für unterschiedlichste Aspekte und nicht zuletzt die Bereitschaft, kritischen Stimmen bemerkenswert breiten Raum zu geben, nicht in der Bilanz ins Gegenteil dessen umschlägt, was zu beabsichtigen man vorangestellt hat? Menschen mit den Schrecken von heute zu konfrontieren, um einer Akzeptanz der gesteigerten Greuel von morgen den Weg zu bereiten, gehört bekanntermaßen zum Arsenal massenmedialer Steuerung der öffentlichen Meinung, die darüber zu einem bloßen Medienkonstrukt gerinnt. Sich auf den Status einer Vermittlungsinstanz zurückzuziehen, die für das Arrangement der Veranstaltung verantwortlich zeichnet, deren Konsequenzen jedoch dem Belieben der Besucher anheimgibt, liefe Gefahr, einer Immunreaktion den Weg zu bereiten.

Die Veranstalter hatten der Frage angemessener Vermittlung mit einem räumlich strukturierten und technisch gestützten Konzept Rechnung getragen. Die Besucher konnten sich durch die verschiedenen Bühnenbilder eines Filmsets frei bewegen und unabhängig von ihrem aktuellen Standort über einen tragbaren Radioempfänger mit mehreren Kanälen und Kopfhörer wählen, welcher Präsentation sie gerade zuhören wollten. Mit diesem Ansatz hofften die Organisatoren des Kongresses, "die in der Regel nebeneinander her und aneinander vorbei laufenden Felder der wissenschaftlichen, politischen, ethischen und popkulturellen Diskurse" miteinander zu konfrontieren und in ein produktives Verhältnis zueinander zu bringen, "damit der Gegenstand, um den sie alle ringen, sichtbar und verhandelbar gemacht wird: die Gegenwart und Zukunft dessen, was wir als Leben verstehen".

Dieser mit zeitgenössischen Auffassungen von Mobilität der Rezeption, rasch wechselndem Interesse und technisch beförderter Kommunikation korrespondierende Ansatz versetzte jedoch die Teilnehmer in eben jenen Stand, den man hinsichtlich der verschiedenen Diskurse beklagt hatte: Die Kongreßbesucher liefen mit ihren Kopfhörern nebeneinander her und aneinander vorbei, zumeist einer fernen Stimme lauschend, die nicht die ihres Nachbarn war. Auch in den Veranstaltungen kommunizierte man auf diese Weise, was mitunter in skurrilen Szenen fehlgeschlagener Verständigung gipfelte, selbst wenn sich zwei Personen unmittelbar gegenüberstanden. Der Effekt war frappant: Da man zumeist von Kopfhörerträgern umgeben war, hörte man auf zu sprechen, weil man ohnehin keine Antwort bekam. Die Menschen waren da und doch nicht da, zumal man nicht einmal wußte, in welcher Veranstaltung sie sich gerade akustisch aufhielten. Als Simultanübersetzung bei fremdsprachigen Referenten durchaus hilfreich, leisteten die Radioempfänger durch ihren umfassenden Gebrauch der Kommunikation den Bärendienst beförderter Sprachlosigkeit.

Als kontraproduktiv erwies sich zudem die in den Veranstaltungen am Nachmittag und Abend schlichtweg nicht vorgesehene Diskussion. Dies mochte zu einem Gutteil der schnellen Abfolge zahlreicher parallel angesetzter Vorträge, Präsentationen und Experimente geschuldet sein, die andernfalls den zeitlichen Rahmen gesprengt hätten. Zugleich hatte diese Beschränkung jedoch unübersehbar Methode: Diskussionen wurden in die Workshops ausgelagert, während man das Gros der Besucher zu einem Streifzug der Beliebigkeit animierte, bei dem man hier und dort Station machte und mit halbem Ohr zugleich an einem anderen Schauplatz weilte. Wie wollte man die angekündigte Konfrontation der Diskurse in ein produktives Verhältnis überführen, wenn man die Kongreßteilnehmer darin bestärkte, in einer Einkaufspassage bummeln zu gehen? Isolierte Individuen, deren Freiheitswunsch mit der Reichhaltigkeit flüchtig konsumierbarer Angebote steht und fällt, produziert die Massengesellschaft am laufenden Band.

Wo es spannend wurde, kehrten die Teilnehmer ohnehin zu klassischen Versammlungsformen zurück. Sie drängten sich in dicht gefüllten Reihen, belagerten die Referenten nach dem Vortrag und zogen mitunter in Gruppen an einen ruhigeren Ort, um weiter zu diskutieren. Das sollte daran gemahnen, wie klein und überschaubar der Kreis beschaffen sein muß, will man ernsthaft und von Angesicht zu Angesicht Fragen aufwerfen und Probleme diskutieren. Wie wollte man auch der Fragmentierung sozialer Bezüge, der Vereinzelung des Menschen und der Segmentierung seiner Biosubstanz zum Zweck restloser Beherrschbarkeit etwas entgegensetzen, ohne zugleich der Dissoziation seiner Präsenz und Greifbarkeit die Stirn zu bieten?

Projektion humanoider Prothetik - © 2011 by Schattenblick

Bausatz Mensch - Zurichtung auf Arbeit durch Industrienorm
Foto: © 2011 by Schattenblick

Aufklärung über brisante gesellschaftspolitische Fragen tut not

Ein inhaltliches Resümee des Kongresses "Die Untoten - Life Sciences & Pulp Fiction" zu ziehen, gestaltet sich keineswegs nur ob der Fülle und thematischen Vielfalt des dreitägigen Veranstaltungsmarathons als schwierig, sondern stellt sich als ein nahezu unlösbares Unterfangen dar, weil bei dieser Inszenierung die vordergründigen und tatsächlichen Ziel- und Zweckbestimmungen in Divergenz zueinander zu liegen scheinen. Wer das Programmheft in die Hand nimmt, wird auf die inhaltliche Ausgestaltung dieser als Projekt der Kulturstiftung des Bundes inszenierten Mammutveranstaltung mit folgenden Fragen und Erläuterungen eingestimmt [2]:

Wann ist ein Leben zu Ende? Wann beginnt es? Und wer bestimmt darüber?

1968 verknüpfen sich drei Ereignisse zu einer Konstellation, die diese Fragen radikalisiert:
In Kapstadt gelingt dem Chirurgen Christiaan Barnard die erste erfolgreiche Herztransplantation am Menschen.
In Boston legt ein Ad-hoc-Komitee der Harvard Medical School unter Leitung von Henry K. Beecher den Hirntod als Todeskriterium fest.
"Night of the Living Dead" von George A. Romero kommt in die Kinos und revolutioniert das Zombiefilm-Genre.

Über die ersten beiden Fragen, wann ein Leben zu Ende sei und wann es beginne, ließe sich im breiten Feld unterschiedlichster Anschauungen, persönlicher Einschätzungen, gesellschaftlicher Normierungen, aber auch rechtlicher, historischer, philosophischer und naturwissenschaftlicher Aspekte unter Interessierten lange und kontrovers diskutieren. Mit der dritten Frage geben die Kongreß-Initiatoren der Gesamtveranstaltung eine gemeinsame Klammer, die deren zu vermutende hintergründige Stoßrichtung bereits erahnen läßt. Wenn als Frage formuliert wird, "wer" über Lebensende und -anfang zu bestimmen habe, wird damit zugleich die Definitionshoheit über derartige Fragen in Anspruch genommen, vorausgesetzt und in eine Zone der Unhinterfragbarkeit manövriert.

Warum müssen derartige Fragen überhaupt allgemeinverbindlich bestimmt bzw. neubestimmt werden? Reichen die bisherigen Regelungen nicht aus? Hat es beispielsweise in strafprozessualer Hinsicht Schwierigkeiten gegeben, weil ein des Mordes Beschuldigter behauptet hätte, daß ein durch seine Hand getöteter Mensch gar nicht tot sei? Nichts dergleichen ist ersichtlich oder plausibel. Die weiteren Erläuterungen im Programmheft, denen eine zentrale Bezugnahme auf 1968 zu entnehmen ist, geben schnell Aufschluß, woher der Wind weht. Ganz offensichtlich geht es bei den "Untoten" in einem keineswegs unerheblichen Ausmaß um die Transplantationsmedizin, ohne daß dieser voll und ganz im Kulturbetrieb angesiedelte Kongreß als Informations- oder gar Werbeveranstaltung dieser medizinischen Teildisziplin ausgewiesen oder gestaltet worden wäre.

Zwei der drei "Ereignisse", die sich laut Programmheft 1968 zu einer die gestellten Eingangsfragen "radikalisierenden Konstellation verdichtet" hätten, beziehen sich unmittelbar auf die Transplantationsmedizin, wurden doch 1968 sowohl die erste Herztransplantation durchgeführt als auch das Hirntod-Konzept als Todeskriterium festgelegt. Der unmittelbare Zusammenhang zwischen diesen beiden "Ereignissen" läßt sich heute beim besten Willen nicht mehr bestreiten, da nicht einmal mehr Transplantationsbefürworter noch in Abrede stellen (können), daß die Hirntod-Definition eigens geschaffen wurde, um den immens anwachsenden Bedarf der Transplanteure nach aus faktisch lebenden Menschen stammenden Organen stillen zu können.

Das dritte, im "Untoten"-Programmheft dem Schicksalsjahr 1968 zugeordnete Ereignis, nämlich die Revolutionierung des Zombiefilm-Genres, wirkt an dieser Stelle irritierend, weil die Fragen bzw. Nöte der Transplanteure mit dem Kulturbetrieb Zombiefilm nicht den geringsten Zusammenhang aufweisen. Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Hier gleichwohl einen Zusammenhang zu vermuten bzw. anzunehmen, deutet auf eine Heransgehensweise bzw. ein Denkkonzept hin, das als poststrukturalistisch bewertet werden könnte, so darunter verstanden wird, in Fragen gesellschaftlicher und auf der Nichtakzeptanz vorherrschender Verhältnisse beruhender Konfliktlinien der Konfrontation und Widerspruchszuspitzung auszuweichen oder gar gänzlich zu entgehen, indem in kulturellen, sprachlichen, philosophischen oder sonstigen Nischen Scheingefechte und -debatten geführt werden.

Der Verweis auf 1968 stellt in diesem Zusammenhang nicht gerade eine taktische Meisterleistung dar, steht doch gerade diese Jahreszahl wie keine zweite in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland für ein studentisches bzw. jugendliches Aufbegehren gegen die verkrustete Schale einer Gesellschaft, deren Kontinuität zum NS-Staat die Proteste zusätzlich befeuert hat, weil die Nachgeborenen in ihren Eltern, Lehrern und Professoren Repräsentanten einer keineswegs beendeten Geschichte von Krieg und Faschismus erkennen mußten. Da die damalige Studentenbewegung, die keineswegs auf die Universitäten beschränkt blieb, sondern auch Verwahranstalten wie Erziehungsheime und psychiatrische Anstalten, in denen Menschen ihrer Freiheit beraubt wurden, erfaßte, den Medizinbetrieb und Gesundheitsbegriff nicht ausgelassen hatte, hätten sich hier Anknüpfungspunkte für den Kongreß "Die Untoten" in Hülle und Fülle ergeben.

Um nur ein Beispiel aus der damaligen Antipsychiatriebewegung zu nennen, sei an das Sozialistische Patientenkollektiv Heidelberg (SPK) erinnert, das den Versuch unternommen hatte, der damaligen Verwahrpraxis psychiatrisierter Menschen, die, medikamentös ruhiggestellt, gefesselt und durch Elektroschocks drangsaliert, in denkbar schlecht ausgestatteten Anstalten gehalten wurden, eine menschenwürdige Alternative entgegenzustellen. Die damaligen Anti-PsychiaterInnen, AktivistInnen und (ehemaligen) PsychiatriepatientInnen lehnten die gefängnisähnliche Institution Psychiatrie rundweg ab und begriffen psychische Störungen nicht als Krankheit, sondern als soziale Folge der Ablehnung und Diskriminierung Andersdenkender oder -fühlender durch die angeblich "normale" Gesellschaft.

Das SPK, das sich 1970 als medizinisch-therapeutische Selbsthilfegruppe an der Universität Heidelberg konstituiert hatte, verfolgte ein politisch radikales Krankheitsverständnis auf der Basis der These, daß das kapitalistische System ein krankmachendes sei, weshalb die klassische Psychiatrie nichts anderes täte, als die Patienten wieder tauglich für eine Gesellschaft zu machen, die ihre Krankheit erst verursacht habe. "Aus der Krankheit eine Waffe zu machen", lautete die damalige, auf die Überwindung der als krankmachend bewerteten kapitalistischen Gesellschaft abzielende Devise. Dieser Ansatz mag in sich brüchig sein, weil er entgegen der erhobenen emanzipatorischen Ansprüche am Krankheitsbegriff festhält, der, auf einen kurzen Nenner gebracht, mit dem der Schuld, also der Beschuldigung und Belastung, die immer gesellschaftlicher Art ist, gleichgesetzt werden könnte. Es versteht sich von selbst, daß ein solcher (Anti-) Psychiatriebegriff in die damalige Zeit eingebettet war und nur aus ihr heraus verstanden werden kann.

Es war eine Zeit, in der keineswegs nur in der Bundesrepublik Deutschland den vorherrschenden Verhältnissen die Akzeptanz verweigert wurde und die von der inzwischen als überwunden apostrophierten Systemauseinandersetzung zwischen der kapitalistischen und der (staats-) kommunistischen Welt stark dominiert war. Mit dem Siegeszug, den der zur Weltdominanz aufgestiegene Westen anschließend antreten konnte, ging das Bestreben einher, nicht nur etwaige Errungenschaften des geschlagenen Feindes zu nivellieren, sondern am besten gleich die Erinnerung an die geschlagenen Schlachten, wenn nicht gar die aufrührerischen Ideen und Ideologien als solche, dem Vergessen zu überantworten.

Dieser, wie man sagen könnte, kulturelle Gegenschlag hinterließ seine Spuren in allen gesellschaftlichen Bereichen, und so nimmt es nicht wunder, daß heute von einer fundamentalen Psychiatrie- oder Medizinkritik sehr wenig übriggeblieben ist. Beispielsweise wurde im Jahre 1989 im Bürgerhospital Stuttgart, einem Teil des heutigen Klinikums Stuttgart, die gewerkschaftsunabhängige Arbeitsgruppe "Weisse Fabrik" gegründet, um eine grundsätzliche Kritik am Gesundheitswesen unter kapitalistischen Bedingungen zu leisten. Nach 1999 hat sich diese Gruppe gegen die (inzwischen vollzogene) Privatisierung der Stuttgarter Kliniken gewandt und vertritt heute neben allgemein kritischen Positionen zu Krieg und Sozialabbau auch gewerkschaftliche Forderungen der im Gesundheitsbetrieb abhängig Beschäftigten. Von der Idee, "die Krankheit zur Waffe zu machen" oder das Begriffspaar Gesundheit/Krankheit grundsätzlich in Frage zu stellen, ist nichts übriggeblieben.

Der Medizinbetrieb, genauer gesagt die gesellschaftlich herrschenden Kräfte, die sich dieser Wissenschaft als einem zentralen Mittel bedienten, haben die zurückliegenden Jahre und Jahrzehnten keineswegs ungenutzt verstreichen lassen, sondern die Verfügungsgewalt des Menschen über den Menschen oder, wie in diesem Zusammenhang zu sagen wäre, auf die unmittelbare Physis des Menschen, systematisch vorangetrieben und auf eine bis dato unerreichte Stufe gehoben. Namentlich die Transplantationsmedizin, sprich der, wie heute kaum noch zu bestreiten ist, mörderische Zugriff auf lebenswichtige Organe lebender Menschen (!), hätte nach 1968 unter Nutzanwendung des Hirntod-Postulats nicht ihren Siegeszug rund um die Welt antreten können, wären die damaligen kritischen Kräfte in der Lage gewesen, dem grausigen Treiben ein Ende zu setzen oder es doch zumindest soweit zu demaskieren, daß es gesellschaftlich nicht mehr akzeptabel und damit durchführbar gewesen wäre.

Seltsamerweise ist diese Akzeptanz heute gefährdeter denn je, wozu weniger das kampagnenresistente Unbehagen vieler Menschen, die einfach Angst haben, als "Organspender" im Krankenhaus einen schnelleren Tod zu finden, sondern der Stand der wissenschaftlichen Forschung beigetragen hat. Namhafte Wissenschaftler wie etwa Prof. Dr. Dieter Birnbacher, Philosoph an der Universität Düsseldorf und Mitglied der Zentralen Ethikkommission der Bundesärztekammer, stellen inzwischen fest, daß "der Hirntod als Kriterium des organismischen Todes klarerweise ungeeignet" sei und erklären, daß bei der "Explantation von Organen von Hirntoten (...) diese Organe einem lebenden menschlichen Individuum entnommen" [3] werden.

Was sich hinter diesen dürren Worten kaum verbirgt, ist für die Transplantationsmedizin bzw. die sie tragenden gesellschaftlichen Eliten der Super-GAU, enthalten sie doch, wenn auch nicht in dieser Zuspitzung ausformuliert, das durch das wissenschaftlich obsolet gewordene Hirntod-Konzept ohnehin unabweisliche Zugeständnis, daß es sich bei Transplantationen (mit Ausnahme der sogenannten Lebendspenden) um Tötungen lebender Menschen handelt. Gleichwohl wird in der Bundesrepublik Deutschland wie auch in allen anderen beteiligten Staaten weitertransplantiert fast so, als gäbe es dieses eklatante und irreparable Rechtfertigungsdilemma nicht. Der Philosophieprofessor Ralf Stoecker von der Universität Potsdam erklärte in diesem Zusammenhang desweiteren [4]:

Für aussichtslos halte ich alle Versuche, doch noch irgendwie festzustellen, dass die hirntoten Spender und die Spender mit Herzstillstand in Wirklichkeit tot sind. In meinen Augen hat Truog Recht, dass dies nur mit massiver Selbsttäuschung gelingen kann.

Wer hier wen täuscht, ist eine offene Frage, zu deren Klärung der Kongreß "Die Untoten" nicht unbedingt in der gebotenen Konsequenz beigetragen hat, auch wenn etliche Referenten stichhaltige Argumentationen geliefert und klar Stellung bezogen haben [5]. Die Protagonisten der Transplantationsmedizin werden sich am allerwenigsten selbst zu täuschen suchen. Viele Kritiker vertreten die Auffassung, daß die sogenannte Organspende ungeachtet ihrer geradezu aggressiven Bewerbung kaum Zustimmung finden würde, wenn die Menschen, die dazu ihre Bereitschaft bekunden, tatsächlich wüßten, was eine solche Explantation bedeutet. Der Rechtsanwalt Uwe Friedrich, der durch das von ihm erstellte "Merkblatt: Aufgeklärte (!) Organspende" zur Aufklärung beizutragen sucht, spricht denn auch von einer "bewussten Irreführung der Bevölkerung" [6].

Bilderprojektion zeigt Armbewegungen einer Hirntoten - © 2011 by Schattenblick

Hirntote gestikuliert - auch Gebärden können sprechen
Foto: © 2011 by Schattenblick

Bei dem von Prof. Stoecker erwähnten Truog handelt es sich um den US-amerikanischen Kindermediziner Robert Truog von der Harvard Medical School, der vorschlägt, die sogenannte Tote-Spender-Regel, derzufolge Organe nur von toten Menschen entnommen werden dürfen, aufzugeben. Sie werde ohnehin unterlaufen, so seine Argumentation [6]. Aus der Tatsache, daß Menschen, nachdem ihr Herz zu schlagen aufgehört habe, als tot gelten, obwohl sie wiederbelebt werden könnten, ziehen Truog wie auch Frank Miller von den National Institutes of Health die Schlußfolgerung, die Tote-Spender-Regel ("Dead Donor Rule") abzuschaffen. Dies wäre ein Dammbruch ohnegleichen, der eine Umwälzung gesellschaftlicher Verhältnisse und des gesamtes Wertgefüges nicht zur Folge hätte, sondern voraussetzen würde.

Dieser Einschätzung steht keineswegs die Tatsache entgegen, daß die Transplantationsmedizin seit ihren Anfängen unter Inanspruchnahme des Hirntod-Konzepts noch lebende Menschen zu Tode gebracht hat und noch immer bringt. Bislang war dazu ein Rechtfertigungskonstrukt erforderlich. Nun jedoch gehen die Transplantationsbefürworter "aufs Ganze" und wollen, bedingt durch den wissenschaftlichen Wegfall des Hirntod-Konzept, die Schwelle der Tötung eines Menschen perforieren und offiziell überschreiten. In einem im September 2010 unter dem Titel "Ist die Organspende noch zu retten?" erschienenen Artikel in der F.A.Z. [7] wurde das Dilemma entblättert. Am Ende stand die Feststellung, daß der Versuch, den Hirntod "naturwissenschaftlich zu fundieren", gescheitert sei. Nach Meinung des Autors Stephan Sahm sind nun Philosophen gefragt:

Wenn es um brisante Themen der Biopolitik wie die Embryonenforschung geht, werden Philosophen, die naturphilosophische Argumente vortragen, ebenso wie Theologen oft als Ewiggestrige verunglimpft. Im Falle des Hirntods könnte sich das ändern. Vielleicht ist er anders tatsächlich nicht zu retten.

Weniger verklausuliert ausgedrückt geht es hier schlicht um die Rettung der Transplantationsmedizin, deren Akzeptanz in der Bevölkerung vollends verlorengehen könnte. Da im engen, wissenschaftlich-medizinischen Rahmen ein Rechtfertigungskonstrukt nicht zu erwirtschaften ist, wird - dieser Eindruck drängt sich auf - nun in einem sehr großen Umfeld daran gearbeitet, das allgemeine Empfinden sowie den gesellschaftlichen Konsens sukzessive dahin zu verschieben, daß die Tötung eines Menschen unter ganz bestimmten Voraussetzungen und Bedingungen eben doch akzeptiert werden kann. Zu dieser Schwellensituation sind nicht nur die Anwendungen in der Transplantationsmedizin zu rechnen, sondern weitere hochsensible Bereiche, in denen konkrete Unterscheidungen zwischen lebenswertem und -unwertem Leben getroffen werden.

So wurde am 7. Juli 2011 im Bundestag über die Zulässigkeit der Präimplantationsdiagnostik (PID) entschieden [8]. Die Neuregelung dieses Verfahrens, bei dem befruchtete Embryonen wegen angeblicher genetischer Defekte ausgesondert, sprich getötet werden, wird von der "Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e.V." als diskriminierend kritisiert. Auf dem Kieler Ärztetag Ende Mai/Anfang Juni stand die Frage zur Diskussion, ob Ärzte aktive Sterbehilfe leisten, also einen Menschen auf dessen Wunsch beim Suizid unterstützen dürfen. Noch wurde einer solchen Regelung ein Riegel vorgeschoben, indem in der neuformulierten Muster-Berufsordnung festgelegt wurde, daß Ärzte keine Hilfe zur Selbsttötung leisten dürfen. Die Erosion des Tötungsverbots, das nur absolut und ausnahmslos gelten kann oder eben gar nicht, schreitet gleichwohl auf leisen Sohlen und unter Nutzanwendung eines Nützlichkeitsdenkens, wie es in folgenden Sätzen zum Ausdruck kommt, voran: "Ein Mensch im Koma hat doch nichts mehr vom Leben" - "Die vielen Hirntoten nehmen anderen die Betten weg" - "Ein derartig behinderter Menschen würde doch nur leiden" - "Ein solcher Mensch ist doch nur eine Last und verursacht immense Kosten" etc.

Der Kongreß "Die Untoten" hat sich, auch oder gerade weil in ihm auch Kritiker zu Wort kamen, in seiner thematischen Vielfalt und kulturellen Buntheit um diese Erosion verdient gemacht, ohne daß auch nur an einer einzigen Stelle diesbezüglich ein bedingungslos offenes Wort gesprochen worden wäre. Der kulturelle und thematische Rahmen leistete einer lax anmutenden Haltung Vorschub, bei der man mit einem gleichgültigen Achselzucken über Leben und Tod hinweggeht und meint, da gäbe es jede Menge Zwischenstufen und Grauzonen. Sollte es tatsächlich gelingen, die Auffassung, es gäbe sehr niedrige Stufen menschlichen Lebens, die eigentlich gar keine mehr seien und getrost als lebensunwert gehandhabt werden könnten, in der breiten Öffentlichkeit zu verankern und etablieren, wären der Bezichtigungs- und speziell der Transplantationsmedizin keine (Tötungs-) Schranken mehr auferlegt.

Szenenprobe 'Ulrike's Brain' - © 2011 by Schattenblick

Im Organtransportbehälter auf Warenformat gebracht
© 2011 by Schattenblick

Untot - mehr als eine Metapher?

Zwischen Lebensollen und Sterbenmüssen stößt die Biomedizin in Grauzonen vor, für die überhaupt noch Begriffe gefunden werden müssen. Ein solcher Versuch, das Grenzüberschreitende humangenetischer Experimente und transplantationsmedizinischen Fortschritts in eine Form zu gießen, ist die symbolhafte Inanspruchnahme einer literarischen Figur der Pulp Fiction: des Untoten. Ein kulturgeschichtlicher Abriß zum Untoten ist jedoch ein schwieriges Unterfangen, weil es im Lauf seiner Historie auf verschiedene Kulturräume und Zeiten ausstrahlte und dabei einem stetigen Formwandel der Figuren, Motive und Inhalte unterworfen war. Vor allem wehrte diese Signatur gesellschaftlicher Tabus den neugierigen Blick auf eine Sphäre unheimlicher Bedrohung ab, um das Potential zu bannen, ortlose Refugien unauslotbarer Subjektivität gegen den Zugriff ökonomischer, kolonialistischer und etatistischer Vefügungsgewalt in Stellung zu bringen. Eine ganz und gar antisoziale und antigesellschaftliche Utopie des Untoten dort, wo kein Priester, Sheriff, Fürst und General Zutritt hätte, stellte nicht nur deren Herrschaft, sondern den positiven Begriff des Lebens als solchen in Frage.

Seine Namensgebung verdankt das Untote der Christianisierung der Welt und ihrer Eschatologie. Wer sich dem Kanon klerikaler Gebote widersetzte, dem war der Tod als Sinnbild eines Übergangs zu Heil und Seligkeit verwehrt. So waren die vom Tod Verstoßenen zu ewiger Wanderschaft verdammt. Anders als die klassischen Götter der Antike, die durchaus Äonen überdauern, aber ideengeschichtlich die Überdimensionisierung menschlicher Verhaltensweisen repräsentieren, tragen die Untoten durch Hybris oder Frevel Schuld an ihrem eigenen Schicksal. Klassiker in Film und Literatur haben das Stigma der Schuldhaftigkeit in einer Flut von Interpretationen behandelt, doch blieben sie mit dieser Spur der religiös bestimmten Verwerflichkeit des Ungehorsams und ihrer Bestrafung durch ewige Buße verpflichtet. Wie elementar das Bezichtigungsmoment der Schuld für die Durchsetzung herrschaftlicher Interessen damals war und heute ist, belegt der Übertrag von religiös verankerter Sündhaftigkeit auf die Schöpfung des auf Schuld basierenden Zahlungsmittels Geld bis zur Bringschuld des Individuums, seine mit gesellschaftlichen Mitteln erfolgte Aufzucht durch tätige Erfüllung des Verwertungsimperativs zu vergelten. Der an immer mehr physische wie psychische Dysfunktionalitäten adressierte Vorwurf, auf diese oder jene Weise, sei es durch nicht erfolgte Verhinderung erbbiologischer Schädigungen, durch Mißachtung ärztlicher Anweisungen oder angebliches Fehlverhalten in Lebenspraxis und Lebensgenuß, selbst an seiner Misere schuld zu sein, erhebt die Schuldknechtschaft zu einer zentralen Instanz sozialdarwinistischer Vergesellschaftung und qualifiziert sie zu einem dem atomisierten Menschen adäquaten Instrument individuell justierten Zugriffs.

Wo mit der Vorsilbe "Un-" der Tod negiert wird, ohne das Leben als positiv bestimmten Gegenpart aufrufen zu müssen, winkt dem Menschen in seiner sündhaften Verweslichkeit der Übertritt in die erlösende Unverweslichkeit. Hier wird ein Raum der Verhandlung eröffnet, in dem sich allerlei Interessen kreuzen lassen. Dementsprechend vielfältige Ergebnisse hat die Figurierung des Untoten in Hochkultur wie Volksmythologie hervorgebracht. Deren Definition und Deutung stehen im Dienst einer semantologischen Ordnung, die auf dem vermeintlich eindeutig bestimmbaren Antagonismus von Leben und Tod beruht.

Über die auf dem Kongreß "Die Untoten" erwirtschaftete Unbestimmbarkeit des Übergangs von einer Zuschreibung zur anderen hinaus in Frage zu stellen ist die selbstevidente Verwendung dieser Dichotomie. Wo die etymologische Rückführung von "leben" zu "Leim" mit der Bedeutung "feucht, schleimig, klebrig, glitschig" auf ein Konglomerat verschiedener Stoffe mit einer ihnen eigenen Tendenz zur Entmischung verweist, tritt "tot" als Partizipialbildung des althochdeutschen Verbs "touwen" für "sterben" im Sinne von "betäubt; bewußtlos werden; dahinschwinden" als Grenzmarke menschlicher Kognition in Erscheinung. Der ontologische Anspruch beider Begriffe genügt ihren sprachgeschichtlichen Wurzeln keineswegs, so daß sie ersteinmal ein von den Überlebenden geschaffenes und von ihnen mit Verwertungsinteressen belegtes soziales Verhältnis repräsentieren.

Denkt man demgegenüber die Metapher des Untoten bis an die äußerste Grenze der Vorstellbarkeit, dann entsteht das Bild eines Wesens, das sich weder in die Werthierachien des Lebens fügt noch die Symptomatologie von Tod und Sterblichkeit erleidet. Daß Schattenwürfe der Lebensbedürftigkeit auf der kulturellen Verarbeitung der Untoten lasten, steht dazu nicht im Widerspruch. Schauerroman und schwarze Romantik haben in gebotener Eindringlichkeit die Menschen zur Jagdbeute der Untoten gemacht. Die rohe ungebändigte Kraft eines Werwolfs oder die subtilen vampirischen Genüsse beim Aussaugen seiner Opfer evozieren Urängste, die durchaus mit den räuberischen Absichten desjenigen zu tun haben, der sich von diesen Schattenwesen faszinieren läßt. Silberkugeln, Holzpflock oder Enthauptung vernichten sowohl Werwölfe, Vampire als auch Zombies, so daß der von ihnen ausgehende Schrecken in eine gegen sie gerichtete Jagdlust umschlagen kann, die dazu noch von der Rechtmäßigkeit gedeckt ist, nicht mehr Lebendes ungestraft töten zu dürfen. Der kolonialistischen Verfügungsgewalt, die der Sklavenhalter über Leben und Tod seines Eigentums innehatte, verwandt haben Untote keinen Anspruch auf die Rechtsordnung des Lebens. Wie die Vogelfreien, denen als aus der Gesellschaft Verstoßenen nichts als das "nackte Leben" blieb, anhand dessen der italienische Philosoph Giorgio Agamben das Opfer staatlicher Verfügungsgewalt im Ausnahmezustand des Terrorkriegs beschrieb, sind Untote Freiwild einer christlichen Ordnung, die die Gewalt nicht aus der Welt schafft, weil sie ihrer bedarf.

Ebensowenig sind sie zur Fortpflanzung im klassischen Sinne fähig. Der biologische Reproduktionszwang, der in seiner hegemonialen Instrumentalisierung als demographische Strategie zum Krieg der Krippen entufern kann, geht bei ihnen in einem magischen Schöpfungsakt auf, dessen Initiatoren ihrerseits so sehr aus der Art des Menschen schlagen, daß ihr Auftreten Angst und Furcht erzeugt. Erfolgt die Verwandlung im Falle des Vampirs gar mit Hilfe der Entscheidung, dem anderen zu untoter Unsterblichkeit zu verhelfen, dann nähert sich diese Existenzform einer Verbindlichkeit an, von der Menschen in Erwartung eines einsamen Todes nur träumen können.

So nimmt ein von Projektionen menschlicher Unzulänglichkeit gebrochener Gegenentwurf zu dem von Bedürfnissen und Nöten aller Art getriebenen Brand des Stoffwechsels Gestalt an, der einiges über die Bedingungen biologischer Konstitution und gesellschaftlicher Formation des Menschen aussagt. Verstünde man die Analogie des untoten Daseins als Konzeption eines Umgangs mit Körper und Umwelt, in dem die Parameter des Verbrauchs und der Regeneration aufgehoben sind, dann ließe sich aus seinen Narrativen ein lebensbejahender Gegenentwurf herauslesen, der der gesellschaftlichen Wertschöpfung durch Arbeit, deren Ausbeutung durch Mehrwertabschöpfung und der imperialistischen Expansion dieser Verwertungsordnung den Anspruch auf alleinige Gültigkeit nähme.

Die Relevanz eines solchen Gegenentwurfs bedarf in Anbetracht des gewalt- und mangelgestützten Charakters des kapitalistischen Weltsystems keiner besonderen Erläuterung. Interessant ist vor allem, wie im Bild untoter Wesen eine Wildheit und Streitbarkeit dämonisiert wird, die der organisierten Ausbeutung und Unterjochung von Millionen wirksam im Weg stehen könnte. Den auf dem Kongreß thematisierten Innovationen der Life Sciences ist die Maskierung menschenfreundlicher Errungenschaften ohne weiteres zu entreißen, denkt man nur an die massive Ungerechtigkeit, einem guten Teil der Menschheit medizinische Basisleistungen vorzuenthalten, um den privilegierten Bevölkerungen in den Metropengesellschaften Westeuropas und Nordamerikas sowie den Kapital- und Funktionseliten in den Zentren industrieller Produktivität des Südens mit unerhörtem Aufwand ein langes Leben zu bescheren.

Das um sein existentielles Überleben kämpfende globale Subproletariat tritt, wenn überhaupt, auf unterster Stufe sozialer Wertigkeit in Erscheinung. Sein Lebensanspruch vergeht in den Opferzahlen humanitärer Katastrophen, er verstummt in der Sprachlosigkeit sogenannter Subalternität und verdampft im Feuer einer Kriegführung, der der namenslose Tod von Millionen Anathema ist. Wo die Lebenswissenschaften auf der Suche nach dem Heiligen Gral der Menschwerdung die molekularbiologischen Substrate der Physis zergliedern und Neurophysiologen das Geheimnis des menschlichen Geistes im neuronalen Schaltwerk kognitiver Prozesse verorten, wird die selbstreferenzielle Determination eines Erkenntnisstrebens festgeschrieben, dem jeglicher Mut zur Grenzüberschreitung verlorengegangen ist. Die biologischen Grundlagen menschlichen Lebens zum zentralen Kausalnexus allen Werdens zu verabsolutieren unterwirft die menschliche Erkenntnis einem Zirkelschluß aus unüberprüften Bedingungen und formallogischen Verknüpfungen, der jegliche Lebensentäußerung in der Distanz des Blickes zurück vergehen läßt. Der Rückgriff auf die Empirie dessen, was man vorzufinden meint, verbleibt innerhalb eines von Verbrauch und Verlust bestimmten Horizonts, dessen konstitutiven Elemente schlicht als gegeben hingenommen werden. Dies erfolgt nicht absichtslos, ist doch die Normierung und Normalisierung des Lebens Zweck und Ziel einer biomedizinischen Sozialkontrolle, die die Ausbeutung des Menschen über fremdbestimmte Arbeit hinaus bis in die kleinsten Partikel seiner physischen Existenz treibt.

Dem utilitaristisch zur größten Zahl maximierten, prothetisch auf Leistungsverdichtung zugerichteten und kognitiv auf die eindeutige Identifikation von gut und böse geeichten Menschen der Zukunft soll mithin alles ausgetrieben werden, was an nicht zählbarer, teilbarer und verfügbarer Subjektivität Anlaß zu Widerständigkeit geben könnte. Daß dies gelingt, ist nicht zu erwarten. Die strikte Bindung des fremdnützigen Zugriffs an die Determinanten des Überlebensimperativs bringt die Suche nach dem Geheimnis des Lebens zu sich selbst, zur Heiligung des Konsums, des Verbrauchs und des Todes. Die Unvorhersehbarkeit und Unplanbarkeit des Lebens widersetzt sich der szientistischen Weltbemächtigung, wie die desaströse Entwicklung der globalen Produktivkraft belegt, so wirksam, daß die Kompensation dieses Scheiterns bestenfalls in der sozialen Selektivität verbliebener Möglichkeiten der Produktion und Reproduktion und schlimmstenfalls in der Zerstörung der Lebensgrundlagen resultiert.

Das Asyl am Rande der Gesellschaft, ins Bild gesetzt in dem von unsichtbaren Untoten bevölkerten Friedhof, die Zurichtung des aus der Art schlagenden Kranken und Behinderten auf das Normalmaß gesellschaftlichen Nutzens im Krankenhaus und die Erforschung seiner Ausbeutbarkeit und Beherrschbarkeit im Labor markieren Grenzbereiche des Lebens, die in der ertragsorientierten Binnensicht funktionierender Verwertung ein- oder auszuschließen sind. Die Wirksamkeit eines Denkens, das nicht in der Not ist, zu den Gewißheiten etablierter Wahrheiten zurückkehren zu müssen, weil es nicht fremdbestimmt und orientiert ist, sondern die Versklavung durch die Kontrolle Dritter und der damit identischen Selbstreflexion überwindet, ist durch die Lebenswissenschaften nicht zu erforschen und in der weißen Fabrik nicht auszubeuten. Sie bleibt jenen vorbehalten, die mit den Parametern der Verwertbarkeit und den Kategorien der Sozialkontrolle nicht zu identifizieren sind. Sie haben nichts zu verlieren, weil sie niemals Eigentümer waren, sie können nicht verurteilt werden, weil sie kein Recht in Anspruch nehmen, sie sind nicht versklavbar, weil die der Arbeit aufgeherrschte Vergleichbarkeit an der Immanenz ihrer Autonomie bricht, sie sind sozial nicht verstrickt, weil kreatürliches Mitgefühl keines Anlasses bedarf, sie sind nicht domestizierbar, weil ihre Wildheit mit zivilisatorischer Ordnung unvereinbar ist, sie sind nicht einzuschüchtern, weil sie der Welt gestorben sind, sie hinterlassen keine Spuren, weil gewichtiges Auftreten ihnen fremd ist. Untot - vielleicht mehr als eine Metapher für höchst aktives und wirksames Tun in unbeugsamer Festigkeit ...

Bühnenbild 'Friedhof' - © 2011 by Schattenblick

Zwischen Licht und Schatten untote Ortlosigkeit
Foto: © 2011 by Schattenblick


Epilog: Untot

Ein Gedicht von H. Barthel

Einem Gemüse gleich, du weißt,
reift dein Gewebe und verfällt,
die Flüssigkeit, die in dir kreist
und die dich in Bewegung hält,
sackt ab und macht sich langsam rar,
weil dir die Zeit die Spannkraft raubt,
und bald ist nichts mehr, wie es war,
selbst die Gelenke sind verschraubt.

Die letzten Fluchtversuche dann,
die dir nochmal im Schmerz gelingen,
scheitern ganz sicher irgendwann
am lebenslangen Todesringen.

Deine Fassade, sie verliert,
wird mit den Jahren grimmer,
das kleine Kind, es schwitzt und friert
und wechselt fort für immer,
für immer wohl in ja und nein,
in oder - und, sowohl - als auch,
in Minus - Plus, in Schein und Sein,
in Feuer oder seinen Rauch.

Der Kehrwert deines Lebens ist
das Sterben und der letzte Schmaus,
der dich genau wie du ihn frißt,
und immer noch ist es nicht aus.

Denn ich find dich und nehm dich mit
bestimmt auf keine traute Furt,
es folgt kein erster Letzter Schritt,
der Tod bleibt aus und die Geburt.

Und endlich seelenlos und frei
und ohne Sinn und ohne Halt
flieht dich die Henne und das Ei,
warst du nie jung und wirst nicht alt.


Untot wandel ich im Schatten,
gerne trage ich sein Licht,
straf die Starken und die Satten,
sitz der Seele zu Gericht.

Und ich schütz die, die versagten,
und die, die sich nicht mehr finden,
und die Schmerz- und Peingeplagten,
die sich in Verzweiflung winden.

Den Verfolgten schaff ich Platz,
wenn sie untot, seelenlos,
frei von Streben, fern von Hatz
fortbestehen ohne Schoß
und sich tief und gut verbergen
vor der Sonne Tageslast
und in Schächten und in Särgen
sich berauschen an der Rast.


Schattenwesen, das bin ich,
nun, du willst es wissen,
dann genieß es, fürchte dich,
denn du hast verschissen.


Erstveröffentlichung: 29. November 2007



Fußnoten:

[1] http://www.kulturstiftung-des-bundes.de/sites/KSB/images/die_untoten/101110_Konzept_Untote_KSB.pdf

[2] Programmheft: "Die Untoten - Life Sciences & Pulp Fiction", Kongress & Inszenierung, 12.-14. Mai 2011, Kampnagel Hamburg. Ein Projekt der Kulturstiftung des Bundes

[3] "Der Hirntod - eine pragmatische Verteidigung", von Dieter Birnbacher, in: B. Sharon Byrd/Joachim Hruschka/Jan C. Joerden (Hrsg.), Jahrbuch für Recht und Ethik, Berlin 2007, S. 474 f.; hier zitiert aus: "Wie tot sind Hirntote? Alte Frage - neue Antworten", von Sabine Müller, in: APuZ - Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 20-21/2011, 16. Mai 2011, S. 8

[4] "Ein Plädoyer für die Reanimation der Hirntoddebatte in Deutschland", von Prof. Dr. Ralf Stoecker, in: D. Preuß/N. Knoepffler/K.-M.Kodalle (Hrsg.), "Körperteile ð Körper teilen", Kritisches Jahrbuch der Philosophie, Beiheft 8/2009, S. 41ff., in:
http://www.aerzte-fuer-das-leben.de/stoecker-reanimation-der-hirntod-debatte.pdf; hier zitiert aus: "MERKBLATT: aufgeklärte(!) Organspende" (Stand: 22.05.2011), von Rechtsanwalt Uwe Friedrich, Notar a.D., Südring 29, D-64832 Babenhausen

[5] Siehe in der Kongreß-Berichterstattung des Schattenblick unter anderem in:
BERICHT/010: "Die Untoten" - Systemvollendet - Schlachtvieh Mensch (SB)
BERICHT/013: "Die Untoten" - Hirntodlüge aus Pflegesicht (SB)
INTERVIEW/004: "Die Untoten" - Roberto Rotondo, Diplom-Psychologe und ehemaliger Krankenpfleger (SB)

[6] "MERKBLATT: aufgeklärte(!) Organspende" (Stand: 22.05.2011), von Rechtsanwalt Uwe Friedrich, Notar a.D., Südring 29, D-64832 Babenhausen, S. 1

[7] Hirntod - Ist die Organspende noch zu retten? Von Stephan Sahm, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.09.2010,
http://www.faz.net/artikel/C31399/hirntod-ist-die-organspende-noch-zu-retten-30307616.html

[8] http://schattenblick.org/infopool/politik/kommen/raub0999.html

Ausschnitt aus einer Bildinstallation von Aya Ben Ron - © 2011 by Schattenblick

Formwandel des medizinisch-industriellen Komplexes
Foto: © 2011 by Schattenblick

Beiträge zum Kongreß "Die Untoten"
unter INFOPOOL - BILDUNG UND KULTUR - REPORT im Schattenblick:

BERICHT/003: "Die Untoten" - Pressegespräch zu Kongress & Inszenierung vom 12.-14.5.2011 auf Kampnagel (SB)
BERICHT/004: "Die Untoten" - Im Stahlbad der transhumanistischen Optimierungsdoktrin (SB)
BERICHT/005: "Die Untoten" - Wachkoma, ein Widerspruch in sich (SB)
BERICHT/006: "Die Untoten" - Roboter - reprojektiver Entwurf menschlichen Scheiterns (SB)
BERICHT/007: "Die Untoten" - Wachkoma - ein Film erzählt (SB)
BERICHT/008: "Die Untoten" - Altern eine Krankheit? (SB)
BERICHT/009: "Die Untoten" - Mark Ravenhill ... im Limbus medizinischer Unwägbarkeit (SB)
BERICHT/010: "Die Untoten" - Systemvollendet - Schlachtvieh Mensch (SB)
BERICHT/011: "Die Untoten" - Verrechtlichung der Sterbehilfe Einfallstor für genozidale Lösungen? (SB)
BERICHT/012: "Die Untoten" - Palliativmedizin zwischen Patientenautonomie und Sterbehilfe (SB)
BERICHT/013: "Die Untoten" - Hirntodlüge aus Pflegesicht (SB)
BERICHT/014: "Die Untoten" - Her- und Hinkünfte des deregulierten Todes (SB)
BERICHT/015: "Die Untoten" - Vorgriff auf den eigenen Tod in künstlerischer Inszenierung (SB)
BERICHT/016: "Die Untoten" - Sandy Stone ... aus einem bewegten Leben (SB)
BERICHT/017: "Die Untoten" - Das zweite Gesicht des Schönheitskultes (SB)
BERICHT/018: "Die Untoten" - Kapitalgespenster - Zur Ästhetik fehlender Theorie (SB)
BERICHT/019: "Die Untoten" - Auf der Suche nach dem Sitz des Bösen (SB)
BERICHT/020: "Die Untoten" - Verschleißwelten unvollständiger Autonomie (SB)
BERICHT/021: "Die Untoten" - Menschliches Gemüse - Organspender philosophisch totgesagt (SB)
BERICHT/022: "Die Untoten" - "Nollywood" - Nigerias populärkulturelle Filmproduktion (SB)
BERICHT/023: "Die Untoten" - Prothetik im Dienste der herrschenden Ordnung (SB)
BERICHT/024: "Die Untoten" - Aus den Gräbern ein Spiegelbild menschlicher Obsession (SB)
BERICHT/025: "Die Untoten" - Im Anatomischen Theater auf der Suche nach dem Leben (SB)
BERICHT/026: "Die Untoten" - Die Teilbarkeit der Welt eine kulturgeschichtliche Errungenschaft? (SB)
BERICHT/027: "Die Untoten" - Transplantationsmystik - Wenigstens meine Organe sollen überleben... (SB)
BERICHT/028: "Die Untoten" - Frühembryonen im Fadenkreuz der Begehrlichkeiten (SB)
BERICHT/029: "Die Untoten" - Synthetische Biologie - die Ursuppe noch einmal umgerührt (SB)
INTERVIEW/001: "Die Untoten" - Matthias Zerler kämpft für Wachkoma-Patienten (SB)
INTERVIEW/002: "Die Untoten" - Petra Gehring, Philosophin (SB)
INTERVIEW/003: "Die Untoten" - Thomas Macho, Kulturwissenschaftler (SB)
INTERVIEW/004: "Die Untoten" - Roberto Rotondo, Diplom-Psychologe und ehemaliger Krankenpfleger (SB)
INTERVIEW/005: "Die Untoten" - Sander L. Gilman zu Fragen der kosmetischen Chirurgie (SB)
INTERVIEW/006: "Die Untoten" - Georg Fülberth, Politikwissenschaftler (SB)
INTERVIEW/007: "Die Untoten" - Sandy Stone, Performancekünstlerin und Wissenschaftlerin (SB)
INTERVIEW/008: "Die Untoten" - Hans Werner Ingensiep, Philosoph und Biologe (SB)
INTERVIEW/009: "Die Untoten" - Dorothee Wenner, Journalistin und Filmemacherin (SB)
INTERVIEW/010: "Die Untoten" - Karin Harrasser, wissenschaftliche Leitung des Kongresses (SB)

18. Juli 2011