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BERICHT/038: Griechischer Wein - vielleicht politisch? ... (SB)


Ein Film, der Hunger fühlen läßt

"Boy eating the bird's food" des griechischen Regisseurs Ektoras Lygizos

Themenspecial "This is not Greece" beim Internationalen Sommerfestival auf Kampnagel in Hamburg am 7. und 8. August 2015


E. Lygizos in Großaufnahme - Foto: © 2015 by Schattenblick

Ektoras Lygizos, Regisseur von "Boy eating the bird's food"
Foto: © 2015 by Schattenblick

Hunger und Mangel sind der Preis, den die Griechen für ihren Verbleib in der EU bezahlen werden. Dieser Satz des US-Ökonomen und Publizisten sowie ehemaligen Vizefinanzministers der Reagan-Regierung Dr. Paul Craig Roberts [1] stammt vom 16. Juni. Zu diesem Zeitpunkt war die Zurichtung der Linksregierung Griechenlands, die im Januar nach ihrer Erklärung, den Knebelkurs der Troika beenden zu wollen, gewählt worden war, in einen Erfüllungsgehilfen des Brüsseler Diktats noch nicht vollständig vollzogen. Das Referendum, mit dem Ministerpräsident Tsipras die griechische Bevölkerung über das dritte sogenannte Hilfspaket der nun Institutionen genannten Troika abstimmen ließ, erbrachte am 5. Juli eine deutliche Ablehnung. Wenige Wochen später, unter massivem Druck und Drohungen, vollzog die Syriza-Regierung einen kompletten Bruch dieses Wählermandats.

Am 22. Juli stimmte das Parlament einem "Reform"-Paket zu, das weitere drastische Einsparungen und Kürzungen ebenso vorsieht wie die endgültige faktische Entmachtung der Regierung und damit auch des griechischen Staates. All dies ist sattsam bekannt. In Griechenland sowieso, wo der von vielen Menschen als Verrat empfundene Schritt Syrizas bereits zu einem Akzeptanzeinbruch geführt hat, liegt sie doch Umfragen zufolge bei nur noch 25 Prozent. Die Einschätzung des US-Ökonomen, daß die Griechen den Verbleib in der EU mit Hunger und Mangel bezahlen werden, kann schon deshalb nicht fehlschlagen, weil die Realität für viele Menschen in Griechenland längst so aussieht, auch wenn dieses Thema in der aktuellen Berichterstattung - und das seit Jahren - nur einen marginalen Rang einnimmt. Im März 2013 beispielsweise wurde in der "Welt" unter der Überschrift "Griechische Schüler werden vor Hunger ohnmächtig" berichtet, daß den Lehrern in der Schule immer häufiger unterernährte Kinder auffallen würden. [2] Wie es bei n-tv.de am 4. Juli dieses Jahres unter dem Titel "Viele Kinder gehen hungrig ins Bett" hieß, werden in Griechenland nach wie vor Kinder in der Schule vor Hunger ohnmächtig. [3]

Hunger in Griechenland - ein Tabu

Es gibt keinen plausiblen Grund anzunehmen, daß der Hunger in Griechenland inzwischen zurückgegangen sein könnte. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein, gehört doch zu dem Maßnahmenpaket, das anzunehmen Regierung und Parlament sich gezwungen sahen, unter anderem auch die Erhöhung der Mehrwertsteuer ausgerechnet für Lebensmittel von 13 auf 23 Prozent. Das Kürzungsdiktat verschärfe den Hunger in Griechenland, hieß es deshalb am 20. Juli in einer Pressemitteilung von Sahra Wagenknecht. Die Linkspolitikerin erklärte, daß es "barbarisch sei, einem Land, in dem bereits tausende Kinder hungern, höhere Steuern auf Lebensmittel zu diktieren". [4]

Hunger in Griechenland und damit in der Europäischen Union scheint ein weitgehend verschwiegenes Thema zu sein. Daß die Verantwortlichen für die Athen aufgezwungene Fortsetzung und qualitative Zuspitzung der Spar- und Unterwerfungspolitik kein Interesse daran haben, die politische Akzeptanz dieses Vorgehens in der gesamten EU durch aufrüttelnde Bilder und Berichte über die katastrophalen Folgen zu gefährden, liegt auf der Hand. Die sogenannten Institutionen allein verantwortlich zu machen, könnte allerdings zu kurz greifen, weil nicht auszuschließen ist, daß es eine stille Teilhaberschaft vieler Menschen in allen Staaten der EU geben könnte, die gute Miene zum bösen Spiel machen in der Erwartung, von dieser Zwangslage verschont zu bleiben.

Bei aller Empathie und Hilfsbereitschaft gegenüber notleidenden Menschen mag es handfeste Gründe geben, nicht wissen zu wollen, wie dünn das Eis wirklich ist, soll heißen, in wie kurzer Zeit und unter wie geringfügig veränderten Umständen aus einem sich gut versorgt und sicher wähnenden EU-Bürger ein Mensch werden kann, der am eigenen Leib erfährt, was es mit den gegebenen und geglaubten Versprechen auf sich hat. Könnte es sich, um gegen diese Zustände und Entwicklungen Stellung zu beziehen, nicht als nützlich erweisen, sich einmal schonungslos mit dieser Lage zu konfrontieren und die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, das Ausmaß des Schreckens um des eigenen Arrangements mit den - wenn auch kritisierten - Verhältnissen willen nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen?

Anlaß und Gelegenheit zu einem solchen Klärungsprozeß wurde am 8. August beim Internationalen Sommerfestival des Hamburger Kulturzentrums Kampnagel mit dem Experimentalfilm "Boy eating the bird's food" des griechischen Regisseurs Ektoras Lygizos geboten. Der Film wurde im Rahmen des Themenspecials "This is not Greece" gezeigt, dessen Initiatoren sich die Aufgabe gestellt hatten, die in deutschen Medien zur Krise in Griechenland vorherrschenden Zerrbilder zu analysieren und diese Medienkritik um "griechische Perspektiven aus Kunst, Philosophie und Film zu ergänzen". [5]

Laut Programmankündigung habe der Film vor allem "aufgrund seiner schockierend sozialrealistischen Bilder" Beachtung gefunden. Sein "Macher" Ektoras Lygizos stellte sich unmittelbar nach der Filmvorführung der Diskussion mit Interessierten im Rahmen des Podiumsgesprächs "Pictures of a crisis", an dem, moderiert von der Medienwissenschaftlerin Nana Heidenreich, mit Athanasios Karanikolas auch der Regisseur des zweiten, bei "This is not Greece" gezeigten griechischen Independent-Films "Sto spiti" teilnahm.


Die Genannten nebeneinander in Sesseln sitzend - Foto: © 2015 by Schattenblick

Bilder einer Krise - Diskussion mit Nana Heidenreich (Moderatorin), Athanasios Karanikolas und Ektoras Lygizos (Regisseure)
Foto: © 2015 by Schattenblick

Hunger - und was ein Film dazu sagen kann ...

"Boy eating the bird's food" erzählt aus dem Leben von Yorgos, einem jungen Griechen, der per Handkamera aus nächster, ja intimer Nähe bei seinen alltäglichen Verrichtungen begleitet wird. Durch den vollständigen Verzicht auf begleitende Erläuterungen des Geschehens offenbart sich den Zuschauenden das - mutmaßliche - Fühlen und Erleben eines anderen Menschen auf besonders drastische Weise. Der Wecker klingelt, Yorgos steht auf, zieht sich ein weißes Oberhemd an, macht sich auf den Weg. Schnitt. In einer der nächsten Szenen bewirbt er sich offenbar um einen Job. Er singt vor. Sein Gesang klingt nach einem Counter-Tenor. Er wird abgelehnt. Ein anderer Mann sagt, er wolle jemanden mit mehr Erfahrung.

Schnitt. In seiner kleinen Wohnung versorgt Yorgos seinen Kanarienvogel und nimmt selbst eine Mundvoll des körnigen Vogelfutters. In der Stille des Films setzt das Begreifen ein: Dieser Mensch hat Hunger. Einen ständigen, bohrenden Hunger, den er zu keinem Zeitpunkt stillen kann. Dauernd ist er auf der Suche nach etwas Eßbarem, 'mal springt er an einer Hauswand hoch, um von den über sie hinausragenden Ästen ein paar Feigen abzupflücken, 'mal geht er zu einem Müllcontainer, um eine kleine Plastiktüte mit Essensresten, die ein Nachbar ihn dort für Notleidende deponieren ließ, an sich zu nehmen, ohne dabei gesehen zu werden.

Offenbar schämt sich der junge Mann seiner selbst und seiner Lage. Er hat er weder Freunde noch Angehörige, die ihm beistehen oder sein Los mit ihm teilen würden. Er versucht, telefonisch Kontakt zu seiner Mutter aufzunehmen, die Antworten fallen für ihn offenbar enttäuschend aus. Sein einziger Gefährte ist der Kanarienvogel, von dessen Körnern er selbst gegessen hat und den er bei nächster Gelegenheit mit kleinen Feigenstückchen mitversorgt. Die Situation spitzt sich - nach wie vor in großer Stille - zu. Einen Job in einem Callcenter schmeißt er nach kurzer Zeit wieder hin. Offenbar sollte er lange Telefonlisten abarbeiten und den Angerufenen mit immer demselben Text mitteilen, daß ihnen Strom oder Wasser abgestellt oder die Wohnung gekündigt wird - was vermutlich über seine Kräfte ging.

Denn Yorgos verliert selbst seine Wohnung. Zuerst wird ihm das Wasser abgestellt. In der Wohnung eines älteren Nachbarn, dem er ab und an hilft, versorgt er sich zunächst mit dem nötigen Naß. Doch dann findet er den Alten tot auf, nimmt dessen letzte Wertgegenstände an sich, um sie zu versetzen und steht selbst auf der Straße. Eine junge Frau, der er schon länger buchstäblich nachstellt, nimmt ihn schließlich mit zu sich nach Hause, doch aus der erhofften Romanze wird nichts. Wie sehr er durch den Hunger schon geschwächt und körperlich gezeichnet sein muß, offenbart sich, als ihm beim beginnenden Liebesspiel büschelweise die Haare ausfallen. Schnitt. Yorgos hat keine Unterkunft, seine Habseligkeiten und den Kanarienvogel hat er in einer Abbruchruine versteckt. Und wieder läuft er durch die Straßen.


E. Lygizos in Großaufnahme - Foto: © 2015 by Schattenblick

Kein politischer Film?
Foto: © 2015 by Schattenblick

Und wie reagieren die Zuschauenden?

Da die Interpretation und Bewertung eines künstlerischen Werks nur in den Augen der Betrachtenden liegen können, läßt sich auch für diesen Film, der in Griechenland sehr gut aufgenommen wurde, keine eine Allgemeingültigkeit beanspruchende Aussage treffen. "Boy eating the bird's food" gilt in Griechenland als einer der wichtigsten Filme der letzten Jahre. In Deutschland wurde er bereits im September vergangenen Jahres beim 21. Internationalen Filmfest Oldenburg präsentiert. Kritiker hatten ihm vorgeworfen, es sei nicht klar geworden, warum der Hauptdarsteller ständig auf der Suche nach Essen sei, er sähe nicht "fertig" genug aus, um ihm den Hungernden abnehmen zu können. Lygizos sei daran gescheitert, Hunger über einen Film zu vermitteln. Die "Passivität des Protagonisten" hätte für Ärger bei den Betrachtern gesorgt und es sei nicht nachvollziehbar, wenn er doch kurz vor dem Hungertod stehen solle, warum er keine Hilfe angenommen hätte. Trotz der intensiven Kameraführung bliebe man als Zuschauer "die ganze Zeit über distanziert", so zumindest das Fazit des Bremer Filmforums. [6]

Daß ein Film so konträr aufgefaßt wird, als ob die Kommentierenden verschiedene Filme gesehen hätten, ist ein Effekt, der bei "Boy eating the bird's food" dadurch verstärkt worden sein könnte, daß keine Erläuterungen zum Geschehen angeboten werden. Nach der Vorführung auf Kampnagel wurde in der anschließenden Diskussion von einer Teilnehmerin die Frage aufgeworfen, ob die Isolation des jungen Arbeitslosen realistisch oder lediglich ein filmisches Mittel gewesen sei. Auch hier wurde angesprochen, daß so vieles in dem Film unklar geblieben sei und man nicht wisse, was Yorgos eigentlich in seinem Leben wolle, und als Kritik angemerkt, er sich ja auch nicht politisch organisiert hätte.

Die Reaktionen und Stellungnahmen zum Film bezogen sich fast ausschließlich auf den jungen arbeits- und später auch obdachlosen Griechen, dessen Handeln in dieser oder jener Hinsicht Anlaß zur Kritik geboten hatte. In einem gegenüber der Griechenlandpolitik von EU und Troika kritisch eingestellten Umfeld wirken Anwürfe dieser Art ein wenig bizarr und drohen, die eigentliche Qualität bzw. den Nutzen, der aus diesem Film gezogen werden könnte, zu verschütten. Es ist ein Zeugnis, wie es beklemmender und damit aussagestärker kaum sein könnte, was allerdings die Bereitschaft voraussetzt, sich auf diese mögliche Realität eines Menschen einzulassen. Der Regisseur des Films, Ektoras Lygizos, erklärte gegenüber dem Schattenblick, daß es sich bei diesem Film um eine Projektion seiner Ängste gehandelt habe.

Für solche Ängste gibt es eine reale Basis. Im November 2014 lag die Jugendarbeitslosenquote in Griechenland einer in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union durchgeführten statistischen Erhebung zufolge bei 49,8 Prozent (nur die Spaniens lag mit 53,5 Prozent noch höher, während Deutschland mit 7,4 Prozent den EU-weit niedrigsten Wert aufwies). [7] Demnach ist fast die Hälfte der 15- bis 24jährigen in Griechenland arbeitslos, und so erinnert der mehr oder minder unausgesprochene Vorwurf gegenüber dem "Yorgos" des Films, er sei so passiv und hätte sich nicht um eine Verbesserung seiner Lage bemüht, an die Pauschalbezichtigung, die hierzulande gegen Arbeitslose von Politik, Medien und Hartz-IV-Agenturen gern erhoben wird in gezielter Ausblendung der Tatsache, daß nicht annähernd genügend Ausbildungs- und Arbeitsplätze zur Verfügung stehen.

Politische Nutzanwendung eines "unpolitischen" Films?

Wo also könnte der Nutzen eines Films liegen, dessen Regisseur anläßlich des in der Diskussion auf Kampnagel gemachten Vorschlags, ihn doch einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, auf seiner Einschätzung bestand, daß er nicht für ein "großes Kino" geeignet ist? Ohne Anspruch auf irgendetwas ließe sich da formulieren, daß gerade dieser Film in seiner Direktheit und Unbequemheit geeignet ist, die offenbar weitverbreiteten Scheuklappen zu unterlaufen und die Zuschauenden einfach einmal fühlen zu lassen, was ein hungernder Mensch empfinden könnte. Sollte dies, zumindest vorübergehend, mit dem Verlust der Fähigkeit, Distanz zu wahren und sich auf diese Weise mit den kritisierten Verhältnissen zu arrangieren, einhergehen, muß dies nicht unbedingt von Nachteil sein.

Zu den Zerrbildern, die in deutschen Medien kursieren, haben nicht zuletzt auch Stellungnahmen von Persönlichkeiten mit medialer Präsenz beigetragen, die beispielsweise nach einem dreiwöchigen Griechenland-Aufenthalt erklärten, sie hätten keine hungernden Menschen oder ohnmächtige Kinder gesehen, ergo könne das alles nicht so schlimm sein. "Boy eating the bird's food" könnte als Antwort auf die selten - wenn überhaupt - gestellte Frage verstanden werden, wie die Menschen in Griechenland in der sogenannten Krise überhaupt überleben. Es ist nicht nur der junge Obdachlose, der hungert und von Minute zu Minute und von Stunde zu Stunde versucht, irgendwie zu überleben. Der ältere Mann, dessen Kühlschrank und Brotfach genauso leer waren, lag eines Tages tot in seiner Wohnung. Menschen wie ihn wird kein ausländischer Besucher, der vorgibt, vor Ort die Auswirkungen der Krise kennenlernen zu wollen, je zu Gesicht bekommen. Wer wollte da ausschließen, daß gerade dieser Film dazu beitragen könnte, einer Gegenbewegung den Boden zu bereiten, die sich nicht mehr brechen läßt?


Fußnoten:

[1] http://www.cashkurs.com/kategorie/wirtschaftsfacts/beitrag/hunger-und-mangel-sind-der-preis-den-die-griechen-fuer-ihren-verbleib-in-der-eu-bezahlen-werden/

[2] http://www.welt.de/politik/ausland/article114430742/Griechische-Schueler-werden-vor-Hunger-ohnmaechtig.html

[3] http://www.n-tv.de/politik/Viele-Kinder-gehen-hungrig-ins-Bett-article15442876.html

[4] http://www.sahra-wagenknecht.de/de/article/2171.kuerzungsdiktat-verschaerft-hunger-in-griechenland.html

[5] http://www.kampnagel.de/de/programm/this-is-not-greece/

[6] http://www.filmforum-bremen.de/tag/filmfestival/

[7] http://de.statista.com/statistik/daten/studie/74795/umfrage/jugendarbeitslosigkeit-in-europa/


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