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BERICHT/043: Innensicht und Außensicht - Deutungsdilemma Naturbetrachtung ... (SB)


Die Kunstwerke nun sind definiert als Modelle einer Natur, welche keinen Tag also auch keinen Gerichtstag erwartet, als Modelle einer Natur, die nicht Schauplatz der Geschichte und nicht Wohnort des Menschen ist. Die gerettete Nacht.
Walter Benjamin in einem Brief an seinen Jugendfreund Florens Christian Rang vom 9. Dezember 1923



Ausstellungsplakat auf Gasometer Oberhausen - Foto: © 2017 by Schattenblick

Foto: © 2017 by Schattenblick

Je bedrohter sie ist, desto mehr wird sie zum Gegenstand idealisierender Verklärung. Die Zahl aufwendig produzierter Dokumentationen über die Lebewesen, die sie bevölkern, die Stoffwechselprozesse, die ihren Bestand garantieren, und die Landschaften, deren Gestalt das Zusammenwirken bioorganischer Prozesse reflektiert, wächst desto mehr an, als Katastrophen des Klimawandels und Artensterbens in schneller Folge die Runde machen. Als Objekt der Betrachtung und des Erlebens bleibt "die Natur" jedoch das dem Menschen andere und äußerliche. Obwohl als kategoriale Gegenüberstellung seinem Erkenntnisdrang entsprungen, sind die gesellschaftlichen Naturverhältnisse einer Dichotomie unterworfen, die gerade nicht dazu führt, daß "der Mensch" sich als integralen Bestandteil einer Lebenswelt begreift, der er bei aller zivilisatorischen Entwicklung niemals entwachsen ist. Ganz im Gegenteil, die Adaption sogenannter Naturgewalten bis hin zur möglichen Auslösung eines Weltenbrandes, der Jahrmillionen biologischer Entwicklung ein jähes Ende setzen könnte, versieht die Einzigartigkeit des menschlichen Tieres mit dem exklusiven Merkmal, sich selbst vernichten zu können.

Die Grundlage bioorganischen Lebens mit der Entfachung eines Brandes zu gefährden, der der Geschichte industrieller Produktivkraftentwicklung als Ergebnis der ihr eigenen Überbietungslogik krönt, wäre ohne die Auslagerung der Ressourcenfrage in eine Natur, deren Kapazitäten erst in jüngerer Zeit als endlich erkannt wurden, nicht vorstellbar. Welcher Mensch würde seine unmittelbare Lebenswelt auf eine Weise verbrauchen, die sein baldiges Ende bedeutete? Warum verfeuert er nicht Möbel und Haus, wenn ihm kalt ist, warum verspeist er nicht seine Nachkommen, wenn er Hunger hat? Die perspektivische Sicherung seines Überlebens durch planerisches Gestalten seines Ressourcenverbrauchs, durch die jahreszeitliche Organisation seiner landwirtschaftlichen Nahrungsmittelproduktion, durch die Domestizierung anderer Tiere zu seinem Nutzen, durch Konservierungsmethoden und Lagerhaltung und nicht zuletzt durch die Ausbeutung der Arbeit anderer Menschen steht im Zentrum seiner angeblichen Höherentwicklung, sie gilt als Fundament seiner evolutionären Intelligenz.


Von einem nahegelegenen Park aus betrachtet - Foto: © 2017 by Schattenblick

Gasometer Oberhausen
Foto: © 2017 by Schattenblick

Der Begriff der Natur verkörpert mithin weit vor jeglichem Erkenntnisinteresse philosophischer und wissenschaftlicher Art eine Ressource menschlichen Lebensinteresses, die auf sinnvolle, sprich "nachhaltige" Weise zu bewirtschaften die Konjunktur ökologischer Forschung und Politik maßgeblich antreibt. Wer den Stoffwechsel mit der Natur als Voraussetzung zivilisatorischer Entwicklung und Geschichtlichkeit des Menschen begreift, kommt als Materialist nicht umhin, den Widerspruch dieser konstitutiven Dichotomie zum Fluchtpunkt ihrer dialektischen Aufhebung zu treiben. Davon zu abstrahieren, was den Menschen im Innersten und Äußersten bestimmt, zeitigt das bekannte Ergebnis einer Destruktivkrafteskalation, die nicht erst jetzt als Kontrollverlust manifest wird, sondern Ausdruck nichtvorhandenen Zugriffs auf die Grundlagen des Lebens seit Beginn dieses Aneignungsprozesses ist.

Auf der anthropozentrischen Weltsicht zu bestehen, ob religiös oder wissenschaftlich begründet, bleibt demgegenüber einem Idealismus verhaftet, der die zerstörerischen Konsequenzen des expansiven Naturverbrauches vor ihrer radikalen Aufhebung schützt. Nur als das ganz andere kann die Natur Objekt einer Inwertsetzung bleiben, die das subjektive Lebensinteresse der dabei verbrauchten Bioorganismen prinzipiell negiert. Nur wenn die andere Lebenswelt als fremd, ja feindlich begriffen wird, kann sie rücksichtslos angeeignet und vernutzt werden. Was immer dabei als eigenes Interesse vom Objekt des Verbrauches separiert zu sein scheint, bleibt eingebunden in das gebrochene Verhältnis des Menschen zur eigenen Naturwüchsigkeit, das nicht zu erleiden keine Frage der Definition, sondern der Emanzipation ist.


Ausstellungsraum 'Wunder der Natur' mit Publikum - Foto: 2017 by Schattenblick

Foto: 2017 by Schattenblick

Verborgen im Auge des Betrachters

Das Staunen über die "Wunder der Natur", wozu die Ausstellung dieses Titels im Gasometer in Oberhausen anregen soll, trägt diesem Problem nur insofern Rechnung, als es ihm absichtsvoll ausweicht. "Die Intelligenz der Schöpfung", so der Untertitel der spektakulären Schau, die im März 2016 eröffnet und wegen des großen Andrangs bis zum 30. November 2017 verlängert wurde, wird auf rund 150 Fotowänden mit beeindruckenden Naturaufnahmen, mit Hilfe von Videoinstallationen sowie Exponaten konservierter Pflanzen und Tiere auf eine Weise zelebriert, die den Ausstellungsmachern höchstes Lob einbrachte. Als wollte man die Summe preisgekrönter Naturfilme und -reportagen ziehen, wurden Fotos und Videosequenzen internationaler Dokumentarfilmer und Bildjournalisten herangezogen, die zur erste Riege ihres Genres zählen.

Höhepunkt der mit ihrer besonderen Erlebnisqualität beworbenen Schau ist eine Simulation des Planeten Erde, die als Kugel von 20 Metern Durchmesser im Innern des insgesamt 117 Meter hohen Zylinders von 68 Metern Durchmesser scheinbar frei im Raum schwebt. Über den beiden unteren, die Bildgalerien der Ausstellung beherbergenden Ebenen, als deren Decke die ehemalige Gasdruckscheibe dient, die den Inhalt des Gasometers mit einem Gewicht von über 1200 Tonnen unter Druck hielt, ist die Erdoberfläche quasi aus Astronautensicht zu bestaunen. Wie im Zeitalter der Massenverarbeitung digitalisierter Daten nicht anders zu erwarten, handelt es sich keineswegs um eine leblose Abbildung des Planeten. Eineinhalb Millionen Einzelaufnahmen von Satelliten wurden von einem Team des Earth Observation Center zur Animation der wolkenbewegten Erdatmosphäre im Tag-Nacht-Rhythmus verwendet. So kann sich das Ausstellungspublikum auf der Ebene unter der Erdskulptur niederlassen, um den Planeten aus imaginierter Außensicht zu betrachten, es kann auch mit einem gläsernen Fahrstuhl an ihm vorbeigleiten, um schließlich auf dem Dach des Gasometers das umliegende Ruhrgebiet zu betrachten.


Publikum vor Tierbildern - Fotos: 2017 by Schattenblick Publikum vor Tierbildern - Fotos: 2017 by Schattenblick

Begegnung mit dem ganz anderen ...
Fotos: 2017 by Schattenblick

Wo derart viele mit existentieller Symbolik aufgeladene Eindrücke geboten werden, kann es nicht erstaunen, daß "Wunder der Natur" mit bislang fast 1,2 Millionen Besucherinnen und Besuchern zur erfolgreichsten Wechselausstellung der Republik wurde. Den Blick aus dem All, dem mitunter die Entstehung eines planetaren Bewußtseins zugeschrieben wird, in einen ehemaligen Energiespeicher fossilistischer Industrien zu holen, die maßgeblich für die Gefährdung der atmosphärischen Hülle der Erde verantwortlich sind, ist zudem mit einer Pointe versehen, die den affirmativen Grundtenor der Schau kritisch konterkarieren könnte. Doch dazu wird kaum Anlaß gegeben, sind doch die Beschreibungen der Naturphänomene fast vollständig frei von den negativen Auswirkungen, die die menschliche Zivilisation auf sie hat. Dieses Problem wird noch am ehesten in einer Passage der Texttafeln zum Ausdruck gebracht, die als inhaltlicher Leitfaden der von Prof. Peter Pachnicke kuratierten Schau dienen:

Die Skulptur soll zum Staunen über die Schönheit und die schöpferischen Kräfte unserer Erde anregen, aber sie soll auch nachdenklich machen: Warum haben wir Menschen, die wir uns als Krone der Schöpfung fühlen, noch nicht zu einer Lebensweise gefunden, in der wir uns als ein Teil der Natur begreifen und ihr auf Augenhöhe respektvoll begegnen?


Besucher berührt Baumscheibe - Foto: 2017 by Schattenblick

Nichts geht über die Konktaktaufnahme direkter Berührung ...
Foto: 2017 by Schattenblick

Diese Augenhöhe, ins Bild gesetzt durch den Blick eines Primaten, der zum Key Visual der Ausstellung wurde, nimmt eine Gleichheit in Anspruch, die im Umgang mit nichtmenschlichen Tieren ständig dementiert wird. Auch knüpft der Begriff der Schöpfung, der in den Begleittexten zur Ausstellung immer wieder auftaucht, an eine christliche Naturethik an, die die Herrschaft des Menschen über andere Lebewesen bei aller Anerkennung ihrer Leidensfähigkeit nur insofern in Frage stellt, als sie nicht im Einklang mit den Geboten nämlichen Schöpfers steht. Nichts anderes gilt für den Begriff des Wunders, der das Unbegriffene biologischer Prozesse metaphysisch verklärt, anstatt die Frage zu stellen, inwiefern das kognitive Vermögen des Menschen überhaupt dazu geeignet ist, einen nichtinstrumentellen Umgang mit anderen Lebewesen wie den Mitmenschen zu entwickeln.


Projektionswand mit Embryonalentwicklung - Foto: 2017 by Schattenblick

Im embryonalen Eiltempo durch die tierlichen Entwicklungsstadien des Menschen
Foto: 2017 by Schattenblick

Zu begreifen, daß der "Kampf ums Dasein", wie unter dem Titel "Fressen und Gefressen werden" ausgeführt und mit diversen Bildern zu Strategien des Jagdverhaltens respektive der Abwehr- und Schutzmechanismen potentieller Beutetiere illustriert, all das in Frage stellt, was am Naturschönen und -idyllischen Freude macht, könnte die naturalistische Legitimation menschlicher Bedürfnisbefriedigung erschüttern. Das allerdings scheint nicht in der Absicht einer Naturerkenntnis zu liegen, die der Systematik beschriebener Stoff- und Lebenskreisläufe vor allem abgewinnt, daß alles seine natürliche Ordnung hat, wenn ein Lebewesen das andere tötet und verspeist. Letztlich werden die zu bestaunenden Naturphänomen in ihrer hochkomplexen Organisation, ihrer formgebenden Funktionalität und ihrem kommunikativen Potential qualitativ abgewertet, gerade weil sie bestaunt werden. Nicht von der Intelligenz lebendiger Wesen, der Komplexität ihrer sozialen Beziehungen und ihrem strategischen Umgang mit sogenannten Naturkräften auszugehen heißt eben auch, ihre bedingungslose Verfügbarkeit durch den Menschen nicht in Frage stellen zu müssen.


Treppenaufgang, Gasdruckscheibe, Gasbehälter - Fotos: 2017 by Schattenblick Treppenaufgang, Gasdruckscheibe, Gasbehälter - Fotos: 2017 by Schattenblick Treppenaufgang, Gasdruckscheibe, Gasbehälter - Fotos: 2017 by Schattenblick

Funktionselemente des ehemaligen Gasometers
Fotos: 2017 by Schattenblick

Aus der Ferne genießen, was nahebei unerträglich ist

Von einem planetaren Bewußtsein zu sprechen erscheint angesichts der Gewaltverhältnisse zwischen Menschen geradezu utopisch. Nicht nur in Deutschland herrscht immer mehr der chauvinistische Ton identitärer Abgrenzung vor. Auf die Erde als ganzes zu blicken und das Gemeinsame aller Menschen zu betonen wäre womöglich ein Antidot gegen die anwachsenden Reorientierung an sozialdarwinistischen Verteilungskämpfen, doch die eigene Körperlichkeit übt weit mehr Einfluß auf das individuelle Befinden aus als alle Realabstraktion in Form einer schwebenden Kugel. Astronauten haben oft von der Ehrfurcht berichtet, die sie beim Anblick des blauen Planeten verspüren. Von weitem sind die Niederungen der Zerstörung nicht zu sehen, und sollten sich die Folgen klimabedingter Katastrophen, die die Erde schon jetzt heimsuchen, dem einfachen Blick aus dem All eröffnen, dann dürfte es für Korrekturen im globalen Maßstab ohnehin zu spät sein.

So schaut der Besucher des Gasometers nach oben und zugleich an sich herunter, um sich auf dem schwankenden, frei im All rotierenden Grund der Erde nicht zu verlieren. Die Conditio humanae ist alles andere als ein Guthaben, auf das sich jederzeit zurückgreifen ließe. Sie wird von Fragen belagert, die all zu oft nicht gestellt werden, weil die Antworten mehr Angst machen als für das Leben in den Abhängigkeiten der Arbeitsgesellschaft verträglich ist.


Ausblick auf Industrieanlage und Einkaufszentrum - Fotos: © 2017 by Schattenblick Ausblick auf Industrieanlage und Einkaufszentrum - Fotos: © 2017 by Schattenblick

Industrie- und Konsumpanorama
Fotos: © 2017 by Schattenblick

Auf dem Dach des metallenen Zylinders kann sich das Auge wieder an Vertrautem orientieren. Wenn auch aus schwindelerregender Höhe, so doch wohlsortiert in die vier Himmelsrichtungen, deren Horizonte sich von vier Plattformen aus erschließen lassen, zeigen sich Oberhausen und seine Umgebung als urbane Agglomeration ohne definitive Zentren und Grenzen. Wie die einzelnen Ortschaften des Ruhrgebietes zu einer Stadtlandschaft zusammengewachsen sind, in der ihre ehemaligen Ortskerne nur noch schwer wiederzuerkennen sind, so hat sich auch Oberhausen im Rahmen diverser Gebietsreformen immer weiter ausgedehnt. Es verfügt nun über drei gewachsene Zentren und das Reißbrettprodukt der Neuen Mitte. Sie wurde auf dem Gelände der früheren Gutehoffnungshütte (GHH), die sich von einem Hüttenbetrieb zum größten Maschinen- und Anlagenbauer Europas entwickelte, bevor sie unter dem Dach von MAN vollends in Einzelbetriebe zerlegt wurde, als viertes Stadtzentrum errichtet.

Angeblich wurde mit der Neuen Mitte Oberhausens der Strukturwandel vom Industrie- zum Dienstleistungs- und Tourismusstandort, mit dem nicht nur diese Ruhrmetropole neue Erwerbszweige an die Stelle der abgewickelten Kohle- und Stahlindustrien treten lassen will, erfolgreich vollzogen. So bilden der Ausstellungsort Gasometer, die KöPi-Arena, der CentrO.PARK, das Aquarium Sea Life, das Metronom Theater, die Heinz-Schleußer-Marina am Rhein-Herne-Kanal und ein Multiplex-Kino ein Ensemble von Freizeitvergnügungen, das im durchformatierten Erlebniskonsum den Warencharakter kulturindustrieller Bespaßung und Eventerregung nicht besser verkörpern könnte. Alles ist um das mit direktem Autobahnanschluß versehene Einkaufszentrum CentrO gruppiert, das, mit 14.000 Parkplätzen versehen, ganze Heerscharen von Kunden in über 250 Geschäften auf 125.000 Quadratmeter reiner Verkaufsfläche aufnehmen kann. Aus der ganzen Bundesrepublik und den Nachbarländern strömt das Publikum ins CentrO und die anliegenden Vergnügungsbetriebe, was als Beleg dafür gelten kann, daß eine sozialökologisch und sozialräumlich sinnvolle Organisation von Produktion und Reproduktion noch in ferner Zukunft liegt.


Autobahn, Emscher, Rhein-Herne-Kanal, Gleisstrecke - Fotos: © 2017 by Schattenblick Autobahn, Emscher, Rhein-Herne-Kanal, Gleisstrecke - Fotos: © 2017 by Schattenblick Autobahn, Emscher, Rhein-Herne-Kanal, Gleisstrecke - Fotos: © 2017 by Schattenblick

Infrastrukturen der Mobilität segmentieren die Landschaft
Fotos: © 2017 by Schattenblick

Die Vermutung, daß dieser Zustrom von Einkaufswilligen und Vergnügungssüchtigen der Stadt viel Geld einbringt, wird allerdings auf gegenteilige Weise wahr. Obwohl Oberhausen zu den Städten Deutschlands gehört, die die höchsten Kommunalsteuern erheben, ist sie zugleich eine der am höchsten verschuldeten Gemeinden der Republik. Und daß, obwohl die Neue Mitte mit rund 25 Millionen Kunden im Jahr allein für das Einkaufszentrum CentrO sowie elf Millionen Tagestouristen für die übrigen Unterhaltungsbetriebe als Erfolg gefeiert wird. Den rund 10.000 dadurch geschaffenen sozialversicherungspflichtigen Jobs stehen über 18.000 Erwerbslose in der 210.000 Einwohner starken Stadt gegenüber, was das typische, von breiter Armut geprägte Bild eines postindustriellen Ruhrgebietes wiedergibt, in dem die soziale Segregation dokumentiert, daß die Kulturalisierung der Gesellschaft ein Klassenprojekt von oben ist.

So verfügte die Stadt einst über sieben Schwimmbäder mit erschwinglichen Eintrittspreisen. Heute ist die Besucherzahl der nurmehr drei weit kostspieligeren Bäder zwar gestiegen, aber viele Menschen können sich den Besuch einfach nicht mehr leisten. Sie werden ausgegrenzt, und wer in unmittelbarer Nähe der Neuen Mitte in die Unwirtlichkeit eher kleinstädtisch wirkender Ortsteile vordringt, kann an deren von Spielhallen, Imbissen und Reihenhäusern geprägten Straßenbild ablesen, daß dort nur lebt, wer keine Möglichkeit hat, woanders hinzuziehen. Der disparate Charakter einer sozialräumlichen Struktur, in der großdimensionierte Investitionsobjekte neben heruntergekommenen Arbeitersiedlungen liegen, auf den Brachen ehemaliger Zechengeländen kaum zum Verweilen einladende Parks errichtet werden und der Durchgangsverkehr über ein weitverzweigtes Autobahnnetz durch den Pott röhrt, ist nicht nur für Oberhausen typisch.


Blick auf Park und Gasometer - Fotos: © 2017 by Schattenblick Blick auf Park und Gasometer - Fotos: © 2017 by Schattenblick

Park auf dem Gelände der stillgelegten Zeche Osterfeld
Fotos: © 2017 by Schattenblick

Die zahlreichen, von Fabriken in Kultureinrichtungen umfunktionierten Veranstaltungszentren und Ausstellungshallen des Ruhrgebietes bieten sicherlich interessante Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung, doch wer keine Arbeit hat, dem fehlen meist Geld und Sinn für eine kulturelle Aufwertung seines Lebens. Die soziale Frage, die sich in der ehemaligen Stahl- und Kohleregion mit großer Dringlichkeit stellt, wird durch die Monumente der Industriekultur, zu denen auch der Gasometer Oberhausen gehört, nicht beantwortet, sondern übertüncht. Repräsentative Projekte wie RUHR.2010, als das Ruhrgebiet zur Kulturhauptstadt Europas erklärt wurde, sollen zur Akzeptanz einer Politik beitragen, der jede konkrete Gestaltung sozialer Lebenswelten abhanden gekommen ist, weil sie der neoliberalen Marktdurchdringung nichts entgegenzusetzen hat, das die Menschen von der Totalität ihrer Inwertsetzung emanzipieren könnte.

Wo die Zementierung von Klassenantagonismen als attraktive Lebenskultur inszeniert und als Projekt "Mythos Ruhr begreifen" - so der Titel einer Veranstaltungsreihe im Rahmen der RUHR.2010 - in eine Strategie neuer Identitätsbildung umgewidmet wird, da wäre es schon ein Wunder, wenn sich daran eine Streitbarkeit entzünden könnte, die den darin manifest werdenden Herrschaftsansprüchen Paroli bietet. Gesellschaftliche Widersprüche in vermeintlich naturwüchsige Ergebnisse sozialer Formation und bourgeoiser Distinktion umzudeuten ist eine Methode der neuen Rechten, sich als politische Mitte zu feiern und längst überwunden geglaubte Dispositionen sozialer Regression und politischer Reaktion stark zu machen. Dem Naturbegriff nicht als Faszinosum metaphysischer Schöpfungskraft zu erliegen, sondern ihm eine Gegenposition abzuringen, die sich nicht auf die Idealisierung einer Humanität beschränkt, mit der sich heute jeder Politikmanager schmückt, wäre allerdings auch ein sinnvolles Antidot gegen die Hegemonie biologistischer und rassistischer Welterklärungen.


Publikum vor Bildwänden - Fotos: 2017 by Schattenblick Publikum vor Bildwänden - Fotos: 2017 by Schattenblick

Vor den Bildern in Betrachtung versunken ...
Fotos: 2017 by Schattenblick


Publikum fotografiert und ißt - Fotos: 2017 by Schattenblick Publikum fotografiert und ißt - Fotos: 2017 by Schattenblick

... beim Fotografieren oder Imbiß
Fotos: 2017 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] Walter Benjamin: Gesammelte Briefe. Bd. II: 1919-1924, Frankfurt/Main 1996

Zur sozialen Geschichte und Situation des Ruhrgebietes siehe auch:

BERICHT/200: Armut, Pott - und viele Köche ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0200.html

BERICHT/201: Armut, Pott - Fruchtpressenrestverbrauch ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0201.html


17. Oktober 2017


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