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INTERVIEW/006: "Die Untoten" - Georg Fülberth, Politikwissenschaftler (SB)


Wir reden im Grunde über ein Luxusproblem

Interview mit Georg Fülberth am 13. Mai 2011 in Hamburg

Georg Fülberth auf dem Gelände des Kongresses 'Die Untoten' - Foto: © 2011 by Schattenblick

Georg Fülberth auf dem Gelände des Kongresses "Die Untoten"
Foto: © 2011 by Schattenblick

Auf dem Kongreß referierte der Politikwissenschaftler und Publizist Georg Fülberth zum Thema der politischen Ökonomie untoter Arbeit unter dem Titel "Das Tote packt das Lebendige". Anschließend vertiefte er seinen Vortrag im Gespräch mit dem Kulturwissenschaftler Georg Seeßlen, einem der wissenschaftlichen Leiter des Projekts "Die Untoten". Für den Schattenblick ergab sich wenig später die Gelegenheit, dem Referenten einige weitere Fragen zu stellen.


Schattenblick (SB): Im Grußwort zu diesem Kongreß hieß es, daß im Januar 1922 in der Moskauer Regierungszeitung Izvestija ein revolutionäres Manifest mit dem Titel erschienen sei: "Die biokosmetische Poetik". Darin war von einem Aufbruch in eine neue Menschheitsepoche die Rede gewesen. Wörtlich wurde daraus Folgendes zitiert: "Wir stellen fest, daß die Frage der Verwirklichung der Unsterblichkeit jetzt im vollen Umfang auf die Tagesordnung gehört. Es ist an der Zeit, die Unausweichlichkeit des natürlichen Todes zu beseitigen." Meine Frage ist jetzt: Wie paßt das zusammen? War das in der Frühzeit des Aufbaus der Sowjetunion schon die offizielle Regierungspolitik? Können Sie das erklären?

Georg Fülberth (GF): Da ist offensichtlich einiges auseinandergelaufen. Als die unmittelbaren Aufgaben der Sowjetunion bevorstanden, nämlich erst einmal die Grundlagen für eine sozialistische Industrie zu schaffen, müssen da Leute gewesen sein, die weit über die Aufgaben der nächsten hundert bis zweihundert Jahre hinausgedacht haben. Außerdem scheint der Wunsch nach Unsterblichkeit oder zumindest nach einem langen Leben etwas zu sein, was die Menschen nicht losläßt, niemanden von uns. Es sah so aus, daß in der kapitalistischen Gesellschaft zwar keine Unsterblichkeit garantiert wird, aber eine ungeheure Langlebigkeit, die wahrscheinlich der Vorstellung vom ewigen Leben, die so ein junger Mensch mit einer Lebenserwartung von 30, 40 Jahren im Jahre 1922 hatte, schon recht nahe kam.

SB: In dem Manifest hieß es sogar, die Frage der Verwirklichung der Unsterblichkeit gehöre "jetzt im vollen Umfang auf die Tagesordnung".

GF: Das kam aus der utopisch-kommunistischen Phase der Sowjetunion. Jede Revolution hat so einen Überschuß an Zukunftserwartungen, die irgendwann enttäuscht werden mußten. So etwas war höchstwahrscheinlich notwendig, um die Revolution durchzuführen. Wir hatten damals viel modernste Kunst, die dann abgewürgt worden ist, ungefähr zur gleichen Zeit, als dieses Manifest erschienen ist. Man merkte, daß man ganz konkrete Tagesaufgaben hat, die mit solchen wunderbaren Zukunftswünschen nicht zu vereinbaren sind, und hat sie dann sogar verdrängt.

SB: Um jetzt noch einmal den Bogen wieder zurück zur Gegenwart zu schlagen: Gestern wurde auf dem Kongreß hier auf einer Veranstaltung die These aufgestellt, daß die Zeit, in der die Frage gesellschaftlicher Veränderungen, um nicht zu sagen Revolutionierungen, gestellt und verfolgt werden würde, vorbei sei und daß es jetzt darum ginge, den biologischen Menschen zu perfektionieren, also den individuellen und nicht den gesellschaftlichen Fortschritt zu suchen. Sehen Sie das auch so, daß die Zeit sozialer Veränderungen oder des Kampfes darum vorbei wäre?

GF: Offensichtlich werden im Augenblick keine revolutionären sozialen Kämpfe geführt. Das ist richtig. Jetzt macht man das Experiment, wie man nun nur durch die biologische Optimierung die Lebensqualität der Menschen verbessern kann. Es sieht so aus, als wenn dieses Experiment scheitern würde. Wir erleben nun, daß einige technische Errungenschaften schon imstande wären, das Leben der Menschen zu optimieren. Man muß nicht 40 oder 35 Stunden pro Woche arbeiten, es ginge auch mit weniger. Dennoch arbeiten viele Menschen 40 Stunden und mehr, und andere können überhaupt nicht arbeiten. Wir sehen auch, daß die Lebenszeit der Menschen verlängert wird in einem Maß, wie man es sich früher nicht vorgestellt hat.

Man wundert sich schon gar nicht mehr, wenn ein Mensch hundert Jahre alt wird. Aber dieser Mensch, der biologisch hundert Jahre alt geworden ist, ist vielleicht schon 50 Jahre sozial tot, weil er schon seit 50 Jahren keine Arbeit mehr hat. Das kommt dabei heraus, wenn man die Menschen biologisch optimiert und ihnen technische Mittel zur Verbesserung ihrer Lebensqualität zur Verfügung stellt, aber nicht zugleich die Gesellschaft ändert. Eine Revolution kommt offensichtlich ohne eine gute Technik nicht aus, das hat man an der Sowjetunion gesehen. Eine soziale Revolution, ohne daß zugleich die Arbeitsproduktivität gesteigert wird oder auch neue Produkte geschaffen werden, also Produktinnovationen, hat zum Ergebnis des Untergangs dieser Gesellschaften geführt. Jetzt machen wir das umgekehrte Experiment. Man sagt am Ende, man läßt die Gesellschaft, wie sie ist und ändert nur die Technik. Da wird ein Punkt eintreten, den Marx schön beschrieben hat: Wenn nämlich die Produktivkräfte, die Technik, an die Grenze einer bestehenden Gesellschaft stoßen, dann wird die Gesellschaft verändert werden müssen.

SB: Das wäre dann der Fortschrittsglauben.

GF: Man hat im Augenblick einen Fortschrittsglauben, der sich nur auf Technik und eine Sozialtechnik reduziert.

SB: Und der wird jetzt noch auf der biologischen Ebene weitergeführt. Halten Sie das für realistisch oder auch nur wünschens- oder erstrebenswert?

GF: Na ja, man soll ja nicht heucheln, oder? Zum Beispiel die Vermeidung von Schmerz durch Hinzufügung von bestimmten Medikamenten ist nichts, worauf irgendein Mensch verzichten sollte. Vergleichen Sie nur einmal den Stand der Zahnheilkunde in meiner Kindheit, sagen wir vor 50 Jahren, mit dem jetzigen Zustand. Das sind wunderbare Optimierungen, und darauf wird niemand von uns verzichten. Das kommt realen Bedürfnissen zum Beispiel der Schmerzvermeidung durchaus entgegen, dagegen ist nichts zu sagen. Eine ganz andere Frage ist zum Beispiel, wenn sich ein Sportler, der in seinem Sport Höchstleistungen erbringt, nun dopen muß, um einen besonders guten Werbeträger abzugeben. Das mag dann sogar seinen individuellen Bedürfnissen entsprechen, viel Geld zu verdienen in der Werbewirtschaft - Sport wird ein Anhängsel der Werbewirtschaft -, aber da kommt das zum Tragen, was ich vorhin den Fetisch genannt habe. Das ist letzten Endes in hohem Maße fremdbestimmt. Das sind zwei verschiedene Dinge.

SB: Sie sprachen eben davon, daß jetzt gesagt werde, man belasse die gesellschaftlichen Verhältnisse erst einmal so, wie sie sind. Ist das nicht die Preisgabe linker Positionen?

GF: Das wäre eine Preisgabe linker Positionen, die sich aber nicht lange wird halten können. Ich nenne Ihnen zwei Beispiele: Wir werden wahrscheinlich in den nächsten 20 Jahren zwei große Transformationen entweder haben oder nicht haben. Wenn wir sie nicht haben, wird das zu einer Katastrophe führen. Und wenn wir sie haben, wird es eine große Veränderung geben. Das eine ist die Regulierung des Stoffhaushalts zwischen Mensch und Natur, also die Vermeidung von Abfall, Abstrahlung und Ressourcenplünderung. Das ist eine Aufgabe, die gelöst werden muß in den nächsten 20 Jahren, was aber ohne eine Veränderung der Gesellschaft wahrscheinlich gar nicht möglich ist. Ein Beispiel: Der Ausstieg aus der Atomwirtschaft wird nur möglich sein, indem der Staat bzw. die Gesellschaft in die Energiewirtschaft eingreift.

Die zweite Transformation wird die Regulierung der Finanzwirtschaft sein. Das wird in absehbarer Zeit stattfinden, wahrscheinlich nach dem nächsten oder übernächsten Crash, und das wird wahrscheinlich bedeuten, daß große Finanzdienstleister verschwinden - nicht etwa, indem sie sich selbst ruinieren, sondern indem die Gesellschaft sie einfach verbietet. Eine Gesellschaft, die so vorgeht, die die Natur und die Verhältnisse zwischen Mensch und Natur reguliert und auch die Finanzdienstleister wieder zurückschraubt auf die Funktion von Genossenschaftsbanken und Sparkassen, ist schon nicht mehr die marktradikale Gesellschaft, die wir jetzt haben. Insofern sind ganz wichtige Aufgaben in absehbarer Zeit ohne gesellschaftliche Transformationen nicht möglich. Ob man das links nennt oder nicht, ist mir eigentlich egal.

SB: Hieße das nicht, daß es für die Linke gar keine Aufgabe mehr gäbe, weil das eine scheinbar unbeeinflußbare Entwicklung wäre? Wofür würde es sich dann für eine Linke zu kämpfen lohnen?

GF: Moment einmal, die Regulierung der Finanzmärkte haben wir noch nicht. Die Linke ist nicht stark genug, um das zu erzwingen. Und wir haben bisher auch noch nicht die Regulierung des Mensch-Natur-Haushaltes. Wir haben für diese beiden ganz wichtigen Transformationen noch gar kein Subjekt. Dieses Subjekt kann eigentlich nur die künftige Linke sein.

Eine weitere Aufgabe ist die Vermeidung von Armut. Wir haben eine Ungleichverteilung der Einkommen und des Vermögens. Ein kleiner Teil der Gesellschaft verfügt über großes Vermögen und große Einkommen, und ein immer größerer Teil landet im Bereich von Hartz IV. Das wird dazu führen, daß riesige Vermögensmassen gar nicht mehr angewandt werden können, weil keine richtige Nachfrage mehr da ist, weil diejenigen, die etwas brauchen könnten, kein Geld haben. Ich meine, daß wir die Ungleichheit, die in der jetzigen Gesellschaft besteht, abbauen müssen. Auch dafür haben wir noch kein Subjekt, und auch das muß Aufgabe der künftigen Linken sein.

Georg Fülberth - Für den Abbau der Ungleichheit haben wir noch kein Subjekt - Foto: © 2011 by Schattenblick

Für den Abbau der Ungleichheit haben wir
noch kein Subjekt
Foto: © 2011 by Schattenblick
SB: Da Sie schon die bestehende Ungleichverteilung angesprochen haben: Ist nicht die biologische Optimierung des Menschen, die ja auch Schwerpunktthema des Kongresses ist, inklusive der medizinischen Aspekte eine Steigerung des Wohlstandsgefälles, indem sie nur für eine Elite, die sowieso schon eine Metropolen-Elite ist, überhaupt zugänglich ist, während der allergrößte Teil der Menschheit nicht die geringste medizinische Versorgung hat?

GF: Das ist nun das Eigentümliche. Wir reden im Grunde über ein Luxusproblem. Wir reden darüber, daß bei uns durch technische Mittel die Lebenszeit verlängert und auch die Lebensqualität teilweise verbessert werden kann mit zwei Randbedingungen. Zum einen: Innerhalb der hochentwickelten Gesellschaft ist dies zunächst einmal und in erster Linie nur den Vermögenden möglich. Man hofft auf einen Trickle-Down-Effekt, also darauf, daß dann die armen Leute auch etwas davon abbekommen. Wahrscheinlich wird man das auch so machen, um die sozialen Spannungen nicht so groß werden zu lassen. Aber das Ganze vollzieht sich nur in den höchstentwickelten kapitalistischen Ländern. In anderen Ländern geschehen Dinge, über die wir noch gar nicht geredet haben. Wir sehen, daß sich ein Kontinent aus Gründen der Ungleichverteilung und der Armut zerfleischt, zum Beispiel der afrikanische. Überlegen Sie einmal, was afrikanische Menschen, die diesen Kongreß besuchen, sagen würden?

SB: Das würde ihnen absurd vorkommen.

GF: Die würden sagen: Uns würde es eigentlich schon helfen, wenn wir nicht in die Lage gebracht werden, daß unsere Kinder ganz früh sterben und daß Menschen an AIDS sterben. Offensichtlich macht man sich in den höchstentwickelten kapitalistischen Ländern jetzt doch große Mühe, immer bessere Dopingmittel zu erfinden, um die Leistungsfähigkeit des Körpers zu verbessern. Es werden zum Beispiel gar keine Ressourcen aufgewendet - obwohl man das könnte -, um die medizinische Versorgung so weit voranzutreiben, daß Aids endlich einmal beseitigt wird. Es ist doch merkwürdig, daß diese Krankheit, die bei uns eine Minderheit betrifft, nämlich zumeist die Homosexuellen, in Afrika aber doch eine Mehrheit betrifft. Offensichtlich wird dies nicht als ein Objekt der medizinischen Forschung angesehen, an dem große Pharmakonzerne etwas verdienen könnten - also unterbleibt es.

SB: Wie stehen Sie persönlich denn zu den Life Sciences? Erwarten oder erhoffen Sie sich davon wirklich etwas oder ist es nicht auch denkbar, daß diese Wissenschaften Teil des Problems und nicht Teil der Lösung sind?

GF: Ich bin da ein bißchen vorsichtig. Zunächst einmal sehen wir: Life Sciences sind ein Rieseninvestionsprojekt für die Industrie, vergleichbar mit der Atomindustrie in den 50er Jahren. Da haben wir ja noch staatliche Ressourcen hineingelenkt. Aber solange das unter den jetzigen Eigentumsverhältnissen passiert, wird es wie bei der Atomindustrie sein: es ist Teil des Problems. Das ist die eine Seite der Sache. Die andere Seite ist: Life Sciences als Wissenschaft, als eine Forschung, die nicht sofort in Medizingeräte- und pharmazeutische Industrie umgesetzt wird, ist eine sinnvolle Angelegenheit. Wenn man also den Life Sciences so gegenübertreten würde, daß man sagt, das soll nicht sein, dann ist das die Aufhebung der Wissenschaftsfreiheit. Da wäre ich gegen.

SB: Vielen Dank, Herr Fülberth.



Zu "Die Untoten" bisher erschienen:

BERICHT/003: "Die Untoten" - Pressegespräch zu Kongress & Inszenierung vom 12.-14.5.2011 auf Kampnagel (SB)
BERICHT/004: "Die Untoten" - Im Stahlbad der transhumanistischen Optimierungsdoktrin (SB)
BERICHT/005: "Die Untoten" - Wachkoma, ein Widerspruch in sich (SB)
BERICHT/006: "Die Untoten" - Roboter - reprojektiver Entwurf menschlichen Scheiterns (SB)
BERICHT/007: "Die Untoten" - Wachkoma - ein Film erzählt (SB)
BERICHT/008: "Die Untoten" - Altern eine Krankheit? (SB)
BERICHT/009: "Die Untoten" - Mark Ravenhill ... im Limbus medizinischer Unwägbarkeit (SB)
BERICHT/010: "Die Untoten" - Systemvollendet - Schlachtvieh Mensch (SB)
BERICHT/011: "Die Untoten" - Verrechtlichung der Sterbehilfe Einfallstor für genozidale Lösungen? (SB)
BERICHT/012: "Die Untoten" - Palliativmedizin zwischen Patientenautonomie und Sterbehilfe (SB)
BERICHT/013: "Die Untoten" - Hirntodlüge aus Pflegesicht (SB)
BERICHT/014: "Die Untoten" - Her- und Hinkünfte des deregulierten Todes (SB)
BERICHT/015: "Die Untoten" - Vorgriff auf den eigenen Tod in künstlerischer Inszenierung (SB)
BERICHT/016: "Die Untoten" - Sandy Stone ... aus einem bewegten Leben (SB)
BERICHT/017: "Die Untoten" - Das zweite Gesicht des Schönheitskultes (SB)
BERICHT/018: "Die Untoten" - Kapitalgespenster - Zur Ästhetik fehlender Theorie (SB)
INTERVIEW/001: "Die Untoten" - Matthias Zerler kämpft für Wachkoma-Patienten (SB)
INTERVIEW/002: "Die Untoten" - Petra Gehring, Philosophin (SB)
INTERVIEW/003: "Die Untoten" - Thomas Macho, Kulturwissenschaftler (SB)
INTERVIEW/004: "Die Untoten" - Roberto Rotondo, Diplom-Psychologe und ehemaliger Krankenpfleger (SB)
INTERVIEW/005: "Die Untoten" - Sander L. Gilman zu Fragen der kosmetischen Chirurgie (SB)

7. Juni 2011