Schattenblick → INFOPOOL → BILDUNG UND KULTUR → REPORT


INTERVIEW/031: Griechischer Wein - Ein Schritt zurück, zwei Schritt' voran ...    Thanasis Bagatzounis im Gespräch (SB)


Medizin für Menschen

Themenspecial "This is not Greece" auf Kampnagel in Hamburg am 7. August 2015


Dr. Thanasis Bagatzounis hat nach seiner Ausbildung in der Bundesrepublik als Facharzt für Strahlentherapie und Radioonkologie in Zypern praktiziert und stand dort der Onkologie Gesellschaft Zyperns vor. Als Mitglied des nationalen Ausschusses Zyperns für die Erarbeitung eines strategischen Plans für den Krebs setzte er sich für ein einheitliches und gerechtes Gesundheitssystem ein, scheiterte jedoch am Widerstand der Institutionen und Personen, deren Interessen durch sein Engagement berührt wurden. Seit 2013 praktiziert Dr. Bagatzounis in Hamburg und engagiert sich dort im Rahmen des von ihm initiierten ART GREXIT project für Krebskranke in Griechenland, Zypern und anderen europäischen Krisenländern. Im Rahmen der Konferenz "This is not Greece" beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen zur Krebsmedizin in Zeiten der Krise.


Im Gespräch - Foto: © 2015 by Schattenblick

Thanasis Bagatzounis
Foto: © 2015 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Herr Bagatzounis, in Ihrer Intervention sprachen Sie unter anderem über die Entdemokratisierung und Entkommunalisierung auf Zypern, aber auch in Griechenland. Könnten Sie diesen Punkt einmal genauer erläutern?

Thanasis Bagatzounis (TB): Auf Zypern hat der Staat einen wichtigen Bereich des Gesundheitswesens an die Banker abgegeben. Dazu wurde eine Stiftung gegründet und ein Projekt finanziert. Der Staat hat sich auf jeden Fall verpflichtet, das Ganze dauerhaft mit Steuergeldern zu finanzieren. Das Erschreckende für mich war die Monopolstellung. Denn obgleich es eine Kooperation zwischen Staat und Bank war, hatten die Banker das Sagen. In der Folgezeit haben viele meiner Kollegen das Projekt verlassen. Als Präsident der Onkologie Gesellschaft Zyperns war ich einer von denjenigen, die geblieben sind und gekämpft haben, aber letztendlich mußte auch ich 2008 aufgeben, weil ich die rote Karte bekommen habe. Meine Kritik an der Politik und den Bankern, überhaupt den ganzen Eliten, war zu heftig. Ich hatte keine Chance. Ich habe dann eine Praxis aufgemacht und noch fünf Jahre als freiberuflicher Onkologe gearbeitet. Einen Monat vor der Bankenpleite mußte ich jedoch resignieren und bin nach Deutschland zurückgekehrt. Es war ein ungleicher Kampf, weil das Gesundheitswesen manipuliert war und noch immer ist.

SB: Kann man das, was sie auf Zypern erlebt haben, nicht auch als eine Form der Privatisierung bezeichnen, wie sie hier in Deutschland mittlerweile gang und gäbe ist?

TB: Das ist ein ganz anderes Modell. Dennoch hat mich das, was ich nach meiner Rückkehr in Deutschland vorgefunden habe, ziemlich erschreckt, vor allem, weil die großen Gesundheitskonzerne nach immer höheren Gewinnen streben. Das war schon beängstigend, insbesondere für jemanden, der noch ein anderes System kennengelernt hat. Bevor ich 1997 gegangen bin, war das Gesundheitswesen in Deutschland noch weitgehend städtisch organisiert. Auf Zypern allerdings gibt es auf dem Gebiet der Krebstherapie ein wirkliches Monopol mit unabsehbaren Folgen für die Allgemeinversorgung. Einige Leute haben den Staat sogar verklagt, weil die Infrastruktur nicht ausreicht, auch wenn es natürlich schwer ist, nachzuweisen, daß Menschen an den Folgen der mangelnden Versorgung sterben. Um so erschreckender ist es, daß die ärztlichen Eliten das ganze Ausmaß der Problematik verschweigen. Wenn man einen Blick in die offiziellen Statistiken in Europa wirft, liegen Griechenland und Zypern in der Krebs-Inzidenz auf den letzten Plätzen, und das hat etwas zu bedeuten. Daß nicht gut registriert wird, paßt zum ganzen Modell, denn wenn man die wirkliche Zahl kennen würde, wäre die Forderung nach mehr Infrastruktur nahezu zwingend. Aber das will man nicht.

Es ist doch ein Paradox, daß es im Falle einer Krankheit sehr lange dauert, bis man eine Diagnose bekommt. Das sind eben die Folgen eines nicht funktionierenden Gesundheitssystems. Entweder hat man Geld und geht in eine Privatklinik, dann bekommt man sehr schnell eine Diagnose, oder man geht zum sogenannten staatlichen System und muß endlos lange auf die Diagnose warten, und meistens ist es dann zu spät. Seltsamerweise wird man bei der Diagnose Krebs sofort aufgenommen. Meine Theorie dazu ist: Es geht schnell, weil teure Medikamente verschrieben werden müssen. Es ist wirklich ungeheuerlich, daß es in der heutigen Zeit immer noch legal ist und auch gefördert wird, daß Ärzte regelmäßig von der Pharmaindustrie zu Kongressen eingeladen werden. Sie werden sogar in Fünfsterne-Hotels einquartiert. Diese Art der Einflußnahme ist noch immer sehr verbreitet. Das gilt jetzt nicht für den einfachen Arzt, wohl aber für die Elite. Für mich ist es ein Skandal, weil für die Kosten der Steuerzahler aufkommt. Das macht die Ärzte abhängig und beeinflußt auch die klinische Forschung.

Letztendlich beeinflußt es auch die Menschen in Deutschland. Die Ergebnisse dieser klinischen Forschung, die hauptsächlich von der Pharmaindustrie gesponsert wird, führen natürlich irgendwann zu einer Evidenz, in deren Folge Lizenzen für neue Medikamente erteilt werden, die in der Regel sehr teuer sind. Auf diese Weise wird letzten Endes das gesamte Gesundheitssystem der Privatwirtschaft unterworfen. In diesem Zusammenhang könnte man fast schon von einer Globalisierung sprechen. Da frage ich mich natürlich unwillkürlich, was es bedeutet, wenn man in einem Land, dessen Gesundheitssystem ruiniert ist, an einer klinischen Studie teilnehmen kann; wie kann es sein, daß ein Patient, der keinen Zugang zu einer Basisversorgung hat, auf einmal ein neues Medikament bekommt? Diese Medikamente haben in der Regel ein Nebenwirkungsprofil, das nicht ausreichend bekannt ist. Was passiert nun mit einem Menschen, bei dem sich schwere Nebenwirkungen einstellen? Das ist alles ungeklärt. Es ist ein verrücktes System mitten in der Krise.

SB: Wo sehen Sie die großen Unterschiede zwischen der Ökonomisierung auf Zypern und in Deutschland, wo Pharmafirmen ebenfalls mit Ärzten kooperieren?

TB: Hierzulande gibt es einen Pluralismus. Sicherlich ist das System in Deutschland kommerzialisiert, aber es gibt noch Ärzte-Organisationen und große Krankenhäuser und Kliniken, die dagegenhalten. Auf Zypern unter einer Monopolstellung zu arbeiten hat eine ganz andere Bedeutung, das ist miteinander nicht zu vergleichen. Die Ökonomisierung hat dort ein anderes Gesicht, weil sie als sozial verträglich, gar als Philanthropie der Banker präsentiert wird, als wäre es eine gute Tat. Und weil einiges in der Tat besser geworden ist im Vergleich zu früher, wo alles heruntergekommen war, sind viele Menschen immer noch sehr dankbar dafür. Das Ganze ist ein zweischneidiges Schwert. Aus meiner Sicht hat die Ökonomisierung zu einer vollkommenen Aufhebung der Autonomie unseres Fachbereichs geführt.

Wenn man unter einem großen Konzern, einer Bank oder einer Kooperation von Bank und Staat arbeitet, muß man erst einmal schweigen. Wenn es dann zu einer Krise kommt und man seine Meinung sagt, was ich öfter gemacht habe, dann bekommt man Ärger und es wird einem vermittelt, das nächste Mal gefälligst den Mund zu halten. Irgendwann wird es natürlich zu viel. Letztendlich muß man sich fragen, welche Konsequenzen diese Art der Grenzüberschreitung auf dem Gebiet der Gesundheit, die als Recht jedes Bürgers gilt, auf europäischer Ebene haben wird. Auch das gut funktionierende System in Europa wird dadurch destabilisiert, zumal es hier in Deutschland auch eine große Gesundheitsindustrie gibt, die im Augenblick im Vergleich zur angebotenen Qualität noch relativ kostengünstig ist.


Thanasis Bagatzounis - Foto: © 2015 by Schattenblick

Im Gespräch auf Kampnagel
Foto: © 2015 by Schattenblick

Eine Folge wird sicherlich sein, daß sehr viele Patienten aus dem Ausland hierherkommen werden, auch wenn es dann manchmal zu spät sein wird. Es geht um Geld und Macht. Zum anderen werden viele Ärzte und Krankenschwestern aus ihren Heimatländern auswandern, weil die Infrastruktur dort kaputt ist, um ihre Dienste in Deutschland anzubieten. Die großen Konzerne hier werden diesen Umstand letztendlich nutzen, um die Preise noch weiter zu drücken. Sie suchen nach qualifiziertem Personal, das bereit ist, für weniger Gehalt zu arbeiten. Viele Griechen wären dankbar, wenn sie hier die Hälfte vom Gehalt eines deutschen Arztes bekommen würden. Ich gehöre noch zu denjenigen, die sehr gut verdienen, und habe deswegen fast schon Gewissensbisse, aber das System ist eben so. Daran läßt sich nichts ändern.

Dennoch finde ich, daß man zum Beispiel offen über die humanitäre Katastrophe in anderen Ländern sprechen müßte. Ich habe enge Kontakte zu Kollegen in Rumänien, wo die Situation noch viel schlimmer ist, aber die Leute haben dort offensichtlich schon aufgegeben. Daß die Misere in Griechenland jetzt ans Licht gekommen ist, liegt sicherlich an der Natur der Griechen, die nicht so leicht aufstecken, was mich natürlich sehr freut.

SB: Sie haben in Ihrer Wortmeldung den Neoliberalismus als Ursache dieser Entwicklung kritisiert. Wie ließe sich die medizinische Versorgung Ihrer Ansicht nach besser organisieren?

TB: Ich bin zwar ein überzeugter Europäer, aber das heutige Europa kann man wirklich vergessen. Im Bereich des Gesundheitswesens muß ganz dringend etwas passieren; vor allem müssen Infrastrukturen in den Peripheriestaaten Europas geschaffen werden, die es den Ärzten, Krankenschwestern, Pflegern und auch Sozialarbeitern ermöglichen, ihren Landsleuten in angemessener Weise zu helfen. Dazu gehören natürlich auch anständige Arbeitsstellen, die ein ökonomisches Auskommen der Ärzte und Pflegeberufe sicherstellen. Sinnvoll wäre auch, wenn junge Ärzte aus Deutschland im Zuge ihrer Facharztausbildung für sechs oder zwölf Monate im europäischen Ausland arbeiten, um Erfahrungen zu sammeln, wie man in der Medizin auch mit weniger Mitteln, sozusagen unter Austeritätsbedingungen auskommen kann. Üblicherweise gehen viele Medizinstudenten dazu nach Afrika. In diesem Punkt müßte ein Umdenken stattfinden.

SB: Was halten Sie vom griechischen Modell der freiwilligen Solidaritätskliniken und der freiwilligen Arbeit?

TB: Davon halte ich sehr viel. Ich gehöre selbst als einer der wenigen Griechen dem Verein Elliniko hier in Hamburg an. Wir haben auch sehr gute Kontakte zu Dr. Giorgios Vichas, dem Arzt, der das Projekt in Griechenland mitbegründet hat. Ich komme aus Westmazedonien im Nordwesten Griechenlands. Dort habe ich mit einigen Bürgermeistern über meine Idee, in der Peripherie Infrastrukturen für die Krebstherapie aufzubauen, gesprochen. Das ist wichtig, damit die Leute nicht für jede Kleinigkeit in die Hauptstadt bzw. nach Saloniki oder gar ins Ausland fahren. Es gibt genügend qualifizierte Ärzte dort. Allerdings muß man auch sehen, daß Griechenland eine ganz andere Geographie mit vielen Inseln hat, die akut unterversorgt sind. Eigentlich müßte jede Insel einen Arzt haben oder zumindest, daß einer für zwei Inseln verantwortlich ist. Ein solches Modell wäre kein Luxus, sondern der Ausdruck eines Kulturerbes.

SB: Wir leben in einer Zeit, in der die Ressourcenfrage immer heftiger diskutiert wird. Im Zusammenhang mit dem Klimawandel wird auch eine Wachstumsreduktion gefordert. Nun wird in einem modernen Krankenhausbetrieb großer Aufwand an Material und Energie, von der Kleidung bis zu den Medikamenten betrieben, der im Widerspruch dazu steht, daß viele Menschen in anderen Teilen der Welt nicht einmal eine medizinische Basisversorgung haben. Wie ließe sich diesr Aufwand im Medizinbetrieb mit der Notwendigkeit zur Energieeinsparung kreuzen?

TB: Eben aus diesem Grund fordere ich die Wissenschaftler und klugen Köpfe in den Akademien immer wieder auf, eine öffentliche Diskussion darüber zu beginnen, was wir zuviel machen. In den 70er Jahren ist zum Beispiel der Krieg gegen den Krebs regelrecht entartet. Man macht auch heute noch auf diesem Gebiet zu viel. Krebs ist ein breites Spektrum von ganz aggressiven bis ganz harmlosen Krankheiten, und dennoch faßt man alles unter einem Begriff zusammen, der bei jedem Panik auslöst. Deswegen sage ich, macht nur das, was wirklich notwendig ist. Lediglich die klinische Forschung für die wirklich aggressiven Krebsarten sollte intensiviert werden. Im Gegenzug müßten die aggressiven Therapien bei den weniger gefährlichen Krebssorten deeskaliert werden. Dafür müßte man auch die Terminologie verändern.

Die meisten Wörter der Medizin kommen aus Griechenland. So gesehen haben wir die Chance verpaßt, altgriechische Begriffe für die weniger aggressiven Krebsarten einzuführen. Das machen jetzt die Amerikaner, aber aus kommerziellen Gründen. Meines Erachtens ist genug Platz für eine sinnvolle Umverteilung der Ressourcen vorhanden. Ich bin dabei, Investoren zu ermuntern, mit mir nach Griechenland zu fliegen, um dort mit den lokalen Bürgermeistern sinnvolle Projekte der Public Private Partnership zu gründen; aber alles auf fairer Basis und nicht in der Art des wilden Kapitalismus. Zu investieren, um sehr schnell Riesengewinne zu machen, ist natürlich der falsche Ansatz.

SB: Sehen Sie in Griechenland die Chance für die Verwirklichung einer sozialistischen Vision?

TB: Vor ungefähr zwei Monaten habe ich der taz ein Interview gegeben. Unter anderem wurde ich gefragt, was ich von der Politik Alexis Tsipras' halte. Ich antwortete: Ich finde sie sehr anständig. Was jedoch in den letzten Wochen passiert ist, hat mich depressiv gestimmt. Ich hatte gehofft, daß die Menschen auf den Straßen echten Widerstand leisten und auch andere motivieren würden mitzumachen. Für eines bin ich jedoch sehr dankbar, nämlich daß es zu keinem Blutvergießen gekommen ist. Ich sage immer wieder: Seid froh, der Jugoslawienkrieg oder die Diktatur in Griechenland, aber auch der Krieg in Zypern sind nicht so lange her. Wir können die Demokratie immer noch verteidigen und das, was passiert ist, analysieren. Nicht nur Ökonomen, sondern auch Leute aus der Agrarwirtschaft, dem Medizinbereich und der Wissenschaft sind aufgerufen, ihren Beitrag zu leisten, und warum nicht in fachübergreifenden Projekten? Man müßte auch viel stärker mittlere Unternehmen unterstützen, um Kooperativen zu gründen oder ein Krebskrankenhaus aufzubauen, und zwar unabhängig von irgendwelchen Medienmogulen, korrupten Politikern oder Geldern aus Europa. Europäische Fördergelder sind eine von vielen Möglichkeiten, aber dazu gehört auch das Know-how. Das ist alles nicht so einfach.

SB: Herr Bagatzounis, vielen Dank für das Gespräch.


Stand der Hamburger Solidaritätsgruppe Griechenland - Foto: 2015 by Schattenblick

Griechenlandsolidarität auf Kampnagel
Foto: 2015 by Schattenblick

Zur Krise der medizinischen Versorgung in Griechenland siehe auch:
BERICHT/014: Sparfalle Griechenland - Genötigt, vertrieben, ausgeliefert (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/europool/report/eurb0014.html


Fußnoten:


"This Is Not Greece" im Schattenblick
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BILDUNG UND KULTUR → REPORT:

BERICHT/037: Griechischer Wein - und wenn ich dann traurig werde ... (SB)
BERICHT/038: Griechischer Wein - vielleicht politisch? ... (SB)
INTERVIEW/029: Griechischer Wein - Der Mensch dem Menschen ...    Poka-Yio im Gespräch (SB)
INTERVIEW/030: Griechischer Wein - für Empathen ...    Ektoras Lygizos im Gespräch (SB)

16. September 2015


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang