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REZENSION/010: C. Heermann - Winnetous Blutsbruder (Karl-May-Biografie) (SB)


Christian Heermann


Winnetous Blutsbruder

Karl-May-Biografie



Viel ist über Karl May geschrieben worden, und nicht wenige meinten, über ihn und sein Lebenswerk urteilen oder sich ein genaues Bild von ihm machen zu können. Dabei wird meist außer Acht gelassen, wie schwierig es schon ist, das Leben und die Beweggründe von Zeitgenossen zu ergründen oder auch nur die eigenen letzten zehn Minuten genau zu rekapitulieren. Was längere Zeit zurückliegt, erfahren wir allein durch Überlieferungen, Dokumente, Berichte von Zeitgenossen und autobiographische Niederschriften, und so sehr wir uns bemühen, ihren Kern und ihre Wirklichkeit zu erfassen, mag es uns nicht gelingen. Das Überlieferte ist immer schon im Dienste eines bestimmten, selten offengelegten, Interesses interpretiert, auch der Willigste neigt dazu, den anderen im Licht der eigenen Geschichte zu spiegeln, und der Leser tut sein Übriges.

Von daher ist eine Biographie, so bemüht sie sein mag, grundsätzlich als vergeblicher Versuch zu werten, sich einem Menschen zu nähern. Dennoch hätte der Autor des im Karl May Verlag neu vorgelegten Werkes diese schwierige Aufgabe nicht besser bewältigen können, und Karl May seinerseits hätte sich wohl keinen zugewandteren, gewissenhafteren und faireren Biographen gewünscht als Christian Heermann. Mit viel Liebe zum Detail, den Zusammenhang immer im Blick, arbeitet dieser eine unüberschaubare Fülle biographischer und geschichtlicher, literaturwissenschaftlicher wie verlegerischer Anhaltspunkte zu einer durch und durch lesbaren und spannenden Fassung aus und bringt es so tatsächlich fertig, einen Menschen vor uns erstehen zu lassen, dem man mit Interesse und großer Offenheit begegnen möchte.

Christian Heermann gehört zu jenen Menschen, die Lebensumstände als bestimmend begreifen. Er bedenkt psychologische Komponenten, ist dabei jedoch in seinem stetig offenen und überzeugenden Bemühen vorsichtig genug, Karl May nicht als bestimmten Charakter festzulegen, wie es manchmal so unangenehm an modernen Biographien aufstößt.

In dieser Kürze ist es unmöglich, einen wirklichen Eindruck von Heermanns umfassendem Werk zu vermitteln oder auch nur die Akribie und den Fleiß erahnen zu lassen, mit dem der Autor sich seinem Thema widmet. So wird in diesem Rahmen lediglich der eine oder andere Aspekt beleuchtet.

Nach einer kurzen Darlegung der Vorgeschichte und der politischen wie wirtschaftlichen Verhältnisse, eröffnet ein erster ausgiebiger Blick auf Karl Mays Leben eine schwere, entbehrungsreiche und im Grunde einsame Kindheit. Eine Kindheit in einem Weberhaushalt, mit einem Vater, der mit allen Mitteln durchsetzen will, daß die Kinder es einmal besser haben als seine Generation. Doch, statt sich im Interesse des Kindes gegen eine Gesellschaft zu stellen, die sich für dieses als feindlich erweist, verfolgt er sein verständliches Ziel mit unerbittlicher Härte gegen das Kind. Sein Ansatz: der Junge muß lernen, das kindliche Spiel wird verboten. Nur, daß das Kind sein fremdgestecktes Anpassungsziel verfehlt, der junge Erwachsene Fehler begeht, die auf keine Nachsicht treffen und deren Konsequenzen er, da ihm der zur Offensive notwendige kritische und überlegte Ansatz fehlt, noch bitter zu tragen haben wird.

Über den Vater und seine Darstellung in Karl Mays Selbstbiographie schreibt Heermann: ""Mein Vater", heißt es in der Selbstbiografie, "war ein Mensch mit zwei Seelen. Die eine Seele unendlich weich, die andere tyrannisch, voll Übermaß im Zorn, unfähig, sich zu beherrschen. Er besaß hervorragende Talente, die aber alle unentwickelt geblieben waren, der großen Armut wegen.

... Ein Mann wird uns hier vorgestellt, talentiert, mit Ambitionen, die über den Handwebstuhl hinausreichen, aber schon frühzeitig zerschlagen werden. Der Vater verbittert zunehmend unter der aufgepressten monotonen Arbeit und neigt zu Wutausbrüchen, unter denen die Kinder leiden." (S. 49-50)

Während über die Mutter von ihm nur wenig zu erfahren ist, scheint die im Hause lebende Großmutter für ihn der Lichtblick gewesen zu sein: ""Ich war die ganze Zeit des Tages nicht bei den Eltern, sondern bei der Großmutter. Sie war mein alles. Sie war mein Vater, meine Mutter, meine Erzieherin, mein Licht, mein Sonnenschein, der meinen Augen fehlte. Alles, was ich in mich aufnahm, leiblich und geistig, das kam von ihr..."

Die Jahre der frühen Kindheit und möglichen Blindheit füllt die Großmutter mit einem Übermaß an Hinwendung aus. Sie lässt zahllose Märchen lebendig werden, die das Kind dann aus freien Stücken nacherzählt. Dabei entwickelt sich seine ungemein reiche Fantasie." (ebd. S. 44)

Die Schilderung des Lehrerseminars, das ihn nach großer eigener Mühe sowie Entbehrungen der Eltern auf den Beruf des Volksschullehrers vorbereiten soll, eröffnet weiteres Verständnis für seine Ausgangslage:

"Die Bildungsanstalt war von Fürst Otto Viktor gegründet und 1844 eröffnet worden, um "für das Schönburgische Lehrer zu gewinnen, wie er sie nach seinem Herzen haben wollte und gedachte wohl damit am sichersten, freisinnige Bestrebungen von seinem Ländchen abzuhalten". So jedenfalls steht es in einem Beitrag zum 25-jährigen Jubiläum in den Chemnitzer pädagogischen Blättern." (ebd. S. 66)
"Wie anderwärts gilt auch in Waldenburg jede vierte Lektion dem Religionsunterricht, ... "Aber es gab bei alldem Eines nicht, nämlich grad das, was in allen religiösen Dingen die Hauptsache ist: nämlich es gab keine Liebe, keine Milde, keine Versöhnlichkeit", schreibt Karl May in seiner Selbstbiografie. "Der Unterricht war kalt, streng, hart. Es fehlte ihm jede Spur von Poesie. Anstatt zu beglücken, stieß er ab..."" (ebd. S. 67)

Kein Anlaß für May, sich nicht freisinnigen Bestrebungen hinzugeben und auch nicht, sich von christlichem Gedankengut abzuwenden.

Biblisches Gedankengut und christliches Ethos bestimmen dann im zunehmenden Maße das Schaffen.
Ob im wilden Kurdistan ein Kampf zwischen den Yazidi (auch Jesidi; May schrieb Dschesidi) und Truppen des Paschas droht oder im Umkreis des Ölprinzen die Stämme der Navajos und Nijoras das Kriegsbeil ausgegraben haben - immer wieder wird versucht, Konflikte friedlich zu lösen, Blutvergießen durch List, Geschicklichkeit oder Drohung zu vermeiden. Karl May läßt seine Helden nur im Notfall oder in Notwehr auf Menschen schießen. Und nicht, um zu töten, sondern höchstens zu verwunden. Einstige Feinde versöhnen sich, Gefangene werden verschont, manchmal bestraft, nie der Rache ausgesetzt. (ebd. S. 189)

Mit der Schilderung der Umstände und Hintergründe von Werkentstehung, -veröffentlichung und Rezeption erweitert der Autor den Blick auf die Umgebung von Karl Mays Romanen, die Handlungsorte und -zeiten wie Kampf und Vernichtung der amerikanischen Urbevölkerung, Mexikos Freiheitskampf, Kurdistan und den Orient, aber auch Deutschland wie Mitteleuropa. Er stellt zeitgenössische Autoren Mays, die sich mit ähnlichen Themen befaßten, vor und liefert Hinweise auf mögliche Quellen und Anregungen, Personen und Handlungsstränge, die Karl May aus bereits erschienenen Werken gewonnen hat. Auch der weitere Verweis auf Mays tiefe Religiosität, Friedensgedanken und Menschheitsideal sowie sein entsprechendes Alterswerk fehlen natürlich nicht.

Darauf, wie sehr Karl May es aus seiner eigenen Position heraus vermochte, sich nicht nur durch gewissenhaftes Studium und Erarbeiten von Reiseberichten und Teilinformationen, sondern auch durch seine von Menschlichkeit geprägte Weltsicht Menschen und Umständen anzunähern, gibt es zahlreiche Hinweise. Im Gegensatz zu vielen seiner zeitgenössischen Autoren, die die ursprünglichen Einwohner Amerikas als blutrünstig schilderten und den Standpunkt der weißen Eroberer einnahmen, unternimmt er den Versuch, sich in ihre Lage zu versetzen.

Heermann dazu: "Das Erbe dieser Kollegen, Negativbilder zu den Apachen und ein lückenhaftes Informationsangebot bewältigt Karl May in bewundernswürdiger Weise. Zu seinen maßgeblichen Beweggründen zählen sicherlich die Erfahrung, dass abwertende Pauschalurteile immer fragwürdig sind und die Seelenverwandtschaft eines selbst Verfemten mit anderen Verfemten, ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl, humanistische Gesinnung wie auch die punktuellen positiven Aufschlüsse..." (ebd. S. 295)

"Trotz einer idealisierten Darstellung findet May zum Schicksal der Indianer bittere Worte:
"Ganz unstreitig gehörte diesen das Land, welches sie bewohnten, es wurde ihnen genommen. Welche Ströme Blutes dabei geflossen und welche Grausamkeiten vorgekommen sind, das weiß jeder, der die Geschichte der 'berühmten' Conquistadores gelesen hat."

" (ebd. S. 296, aus dem Vorwort Karl Mays zu Winnetou, Bd. I)

Im Gegensatz zu dem wilhelminischen Gesandten, der seinerzeit die Lage im Kurdengebiet erkunden sollte, findet Karl May, dem lediglich Berichte Dritter zur Verfügung stehen, neben seinen abenteuerlichen Ausgestaltungen, den Guten und den Bösen, einen Zugang zum kurdischen Volk und seinem Freiheitskampf.
Ali Bei erhob sich zum Zeichen, daß die Unterredung beendet sei. Der Kaimmakam machte eine Bewegung, ihn zurückzuhalten.
'Was wirst du beginnen, Bei?' - 'Du willst die Dörfer der Jesidi zerstören und die Einwohner töten, und ich, das Oberhaupt der Jesidi werde meine Untertanen zu beschützen wissen. Ihr seid ohne Kriegserklärung bei mir eingebrochen. Ihr verteidigt das mit Gründen, die Lügen sind. Ihr wollt sengen und brennen, rauben und morden. Ihr habt sogar meinen Unterhändler getötet, eine Tat, die gegen alles Völkerrecht ist. Daraus folgt, daß ich euch nicht als Krieger betrachten kann, sondern als Räuber behandeln muß. Räuber aber schießt man einfach über den Haufen. Wir sind fertig. Kehre zu den Deinen zurück. Jetzt stehst du noch unter meinem Schutz. Dann aber bist du vogelfrei.' (aus: "Durchs wilde Kurdistan")

Nun kann man Karl May wohl kaum als Chronisten bezeichnen, doch "bestätigt ihm der kurdische Orientalist und Religionswissenschaftler, Schriftsteller und Journalist Namo Aziz im Jahre 1992 "dass er eine erstaunlich treffende Charakterisierung des Landes in seinem Buch 'Durchs wilde Kurdistan'" gegeben hat, die noch dazu "wenig an Aktualität verloren" habe." (ebd, S. 240)

und

"Der deutsch schreibende syrische Schriftsteller Rafik Schami fokussiert es auf den Punkt: "Bei Allah, dieser Karl May hat den Orient im Hirn und Herzen mehr verstanden als ein Heer heutiger Journalisten, Orientalisten und ähnlicher Idiotisten."" (ebd. S. 241)

Obwohl Karl May - nicht zuletzt durch einen seiner Verleger kolportiert - als weitgereist galt und dieses Bild sowie das vom gelehrten Dr. May auch noch förderte, hat er zunächst die Orte seiner Romane nicht besucht. Beides wurde ihm übelgenommen, doch scheinen so betrachtet, seine Selbstdarstellungen eher eine Fortführung seiner Erzzählungen und ein Spaß, auf den hereinfällt, wer es sich sehnlich wünscht. Ein Vorwurf ist eher jenen zu machen, die so starke und eingleisige Erwartungen an den Autoren knüpften, daß er sich nicht selten vielleicht sogar gedrängt, aber mindestens veranlaßt sah, zu flunkern. Schade nur, daß May die öffentliche Anerkennung so wichtig war und er nicht gegen eine Gesellschaft opponierte, für die ein rechtmäßig erworbener Doktorhut und zur Schau getragene Bürgerlichkeit wie Besonderheit wichtiger sind, als der Mensch mit seiner Suche und seiner Frage nach dem Leben. Für ihn spricht, daß es ihm trotz Bemühens nie ganz gelungen ist, sich anzupassen und mit der Gesellschaft so zu versöhnen, daß es keine Unstimmigkeiten gab. Doch hat ihn das um so mehr aufgerieben.

Die Reisen fanden also erst später statt und verliefen lt. Heermann eher enttäuschend, da sich das erschriebene Fantasieland auf diesem Wege nicht eröffnete. Die Welt, die Karl May beschreibt, ist nicht paradiesisch, sondern die Geschichte, die jeder von uns - mehr oder weniger gelungen allerdings -, erzählt: die eigene Heldengeschichte, in der man in der Lage ist, die eigenen Ideen und Lebensvorstellungen umzusetzen, an Gefahren zu reifen, Herausforderungen zu meistern und Kontrolle auszuüben zum Wohle anderer. Er vermochte die Wirklichkeit nicht mit seinen Erzählungen zu besiegen, doch hat er sich diesen Traum erschrieben und viele haben ihn mitgeträumt. Wer sich gern Geschichten erzählen läßt, weiß, daß es sich um Geschichten handelt, und versucht allenfalls, die Gleichnisse zu deuten.

Welche Relevanz hat nun gemessen daran die sogenannte Wahrheit und Wirklichkeit für das eigene Leben, wenn man es verändern will? Vom Traum zur Tat fehlt ein Schritt, der hier jedem selbst überlassen bleibt, sonst schafft man sich in der Tat Fluchtliteratur. Im anderen Fall ist es die Möglichkeit, sich Gedanken zu machen, Karl Mays Menschlichkeit zum Anlaß, die die Welt nicht grundsätzlich infragestellt, aber zumindest einfordert, was versprochen wird: daß man dem anderen nicht schadet.

Es ist ein grausames Schicksal, daß der Schwächere dem Stärkeren weichen muß. Aber da es durch die ganze Schöpfung geht und in der ganzen irdischen Natur Geltung hat, müssen wir wohl annehmen, daß diese Grausamkeit entweder nur eine scheinbare oder einer christlichen Milderung fähig ist, weil die ewige Weisheit, die dieses Gesetz gegeben hat, zugleich die ewige Liebe ist. Dürfen wir nun behaupten, daß in Beziehung auf die aussterbende indianische Rasse eine solche Milderung stattgefunden hat? - Es war nicht nur eine gastliche Aufnahme, sondern eine beinahe göttliche Verehrung, die die 'Bleichgesichter' bei den Indsmen fanden. Welcher Lohn ist den Roten dafür geworden? (Aus dem Vorwort zu Winnetou I, von Karl May)

Fehlen soll nicht der Hinweis darauf, daß es trotz aller Schwierigkeiten, die das Kolportage- und Verlagswesen Karl May bereitet hat, seine Werke ohne verlegerische Tätigkeit und Lektorat in der heutigen Fassung nicht gäbe und sie wohl kaum den gleichen Erfolg hätten. Wieweit dies dem Autoren May gerecht wird, ist die eine Frage, die der Vermarktung - damals wie heute - noch eine andere.

Und das ein oder andere Wort zur Gestaltung der Biographie selbst muß noch verloren werden: übersichtlich, mit vielen erläuternden zeitgenössischen Photographien und Illustrationen. Ganz überraschend ist die Schrift, sie ist umbrafarben, passend zu den Bildern, hat einen großen Durchschuß, und das macht das Lesen angenehm. So mancher Fan ist in die Jahre gekommen, in denen er die Taschenbücher mit ihrer Miniaturschrift, die er in jungen Jahren an einem Tag verschlungen hat, nicht mehr so gut zu bewältigen vermag. Für seine Größe ist der als Klassiker aufgemachte grüne Band mit goldenem Aufdruck ungewohnt schwer, das spricht für die Qualität des Papiers, entspricht der Gewichtigkeit des Inhalts, und unbedingt zu erwähnen ist: Es ist seinen Preis mehr als doppelt wert.

Wer sich, was nach der Lektüre sicher nicht ausbleibt, für einige Daten und persönliche Anmerkungen des Autoren Christian Heermann interessiert, wird diese im kurzen Nachwort finden.

Also alles in allem ist dieses Werk dem Karl May Fan wärmstens zu empfehlen. Wer sich einfach nur einmal einen Überblick verschaffen möchte oder einen Einstieg, ist sicher überfordert. Der sei dann auch auf die zahlreichen Jubiläumsartikel verwiesen oder das Werk selbst, vielleicht "Durch die Wüste" oder "Winnetou".

'Und es ist wirklich wahr, Sihdi, daß du ein Giaur bleiben willst, ein Ungläubiger, der verächtlicher ist als ein Hund und widerlicher als eine Ratte, die nur Verfaultes frißt?' 'Ja.' (Durch die Wüste)


Christian Heermann
Winnetous Blutsbruder
Karl-May-Biografie
Karl May Verlag, Bamberg, Radebeul
576 Seiten, mit 126 s/w Abbildungen, 14,90 Euro
ISBN 3-7802-0161-5