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REZENSION/033: Wolf Biermann - Warte nicht auf bessre Zeiten! (SB)


Wolf Biermann


Warte nicht auf bessre Zeiten!

von Christiane Baumann



Die Story vom "tapferen Renegaten des Kommunismus"
Zu Wolf Biermanns Autobiografie Warte nicht auf bessre Zeiten!

Der 80. Geburtstag des Liedermachers Wolf Biermann wurde in den Medien ausgiebig gewürdigt. Auch der Deutschlandfunk ließ sich das nicht nehmen. In seiner Sendung Denk ich an Deutschland [1] war es Bundestagspräsident Norbert Lammert, der Biermann den staatlichen Ritterschlag zum Heine-Nachfolger erteilte. Biermann wäre das nur zu gern, aber mit dem Wollen ist es in der Kunst nicht getan, andernfalls wäre der Dichter Heine nun nachträglich als Staatsdichter nobilitiert. Es verwundert nicht, dass Wolf Biermann der politischen Elite in Deutschland als Aushängeschild für demokratische Standhaftigkeit dient, feiert er sich doch als "tapferer Renegat des Kommunismus" (S. 7). Dabei beruft sich Biermann auf seinen Vater Dagobert, der als Kommunist wegen seines Widerstands gegen die Nationalsozialisten verurteilt und schließlich als Jude in Auschwitz vergast wurde. Weder der Schuh noch die Schuhgröße passen, denn der Sohn hat das väterliche Erbe, die Idee von einer gerechteren, menschlicheren Gesellschaft, meistbietend auf dem Markt des Kapitalismus verhökert.

Biermann, 1936 in eine Hamburger Kommunistenfamilie hineingeboren, überlebte dort 1943 das Bombeninferno. Als er in der Schule zum wiederholten Mal sitzenzubleiben drohte, entschloss sich seine Mutter, ihn über ihre Partei-Kontakte - bis zu Margot Feist, der späteren Frau Honecker -, in die DDR umzusiedeln. Dort begann 1953 für den "Bohèmebolschewisten" (S. 141) ein neues Leben, das heißt: Er war als Kind eines Mannes, der in der DDR als "Opfer des Faschismus" (OdF) anerkannt war, privilegiert: Internat, Essen, Schulbesuch und -bücher - alles kostenlos plus 100 Mark monatlich obendrauf. In den 1950er Jahren war das in der DDR ein Vermögen, wofür Andere zwei Wochen täglich putzen gehen mussten. Biermann wurde obendrein Klassenbester. Doch in der Rückschau liest sich das anders. Da gibt es vor allem "stinkende" Tanzsäle, "Parteipropaganda", die den Bürgern alles Mögliche "einzublasen" (S. 87) versuchte und eine versuchte Stasi-Anwerbung. Es wird schnell klar, dass hier keine Autobiografie entstehen soll, sondern eine selbstherrliche "Abrechnung" mit der DDR. Dafür ist ihm jedes Mittel recht. Die in der DDR blieben, waren "hochkarätige Verbrecher" (S. 465) oder "Der Dumme Rest" (S. 464). Diffamiert er damit die vielen Menschen, die die Zerstörung von Berlin, Dresden oder Magdeburg im zweiten Weltkrieg erlebten und 1945 mit dem Anspruch antraten, ein anderes, neues Deutschland aufzubauen, mit dem sich ein solches Inferno nicht wiederholen würde, so übergeht er dabei geflissentlich, dass er die "Menschenbrechmaschine DDR" (S. 174), wie er sie nennt, freiwillig wohl nicht verlassen hätte, wäre er 1976 nicht ausgebürgert worden.

Der Arbeitersohn Biermann ging nach dem Abitur in der DDR seinen Weg: Studium der politischen Ökonomie, Studienabbruch und Regie-Assistenz am Berliner Ensemble bei Helene Weigel, zweites Studium, diesmal Philosophie und Mathematik. Alles mit staatlichem Stipendium, das er als "OdF"-Kind erhielt. Dann die Zeit im Kabarett Die Distel, wo er ab 1964 eine Abendgage von 100 Mark kassierte. Das war viel Geld, lag doch ein monatliches Lehrergehalt in den 1980er Jahren in der DDR gerade bei 600 Mark. Es liest sich wie Hohn, wenn Biermann schreibt, dass er die "Lektion im Arbeiter- und Bauernparadies" (S. 60) benötigte, um dem Kommunismus abzuschwören, war er doch nur eines Kommunisten Sohn. Zudem fragt man sich, warum blieb Biermann in der DDR, in diesem Staat der "Kulturbonzen" (S. 76), der unter der "Fuchtel des allmächtigen Diktators Josef Stalin" entstanden war, und machte nicht kehrt in Richtung Westen, der unter den "Fittichen der Westalliierten" (S. 49) erblühte? Ein Satz am Rande offenbart, wessen Geistes Kind sich erinnert: "Es war für mich trotz ungewohnter Widrigkeit eine goldene Zeit" (S. 66). Es brauchte, staatlich alimentiert, keine Tapferkeit, um zu bleiben.

Nach dem Mauerbau 1961, den Biermann begrüßte, begann er unterstützt durch Hanns Eisler, Songs zu schreiben. Fünf Gedichte von ihm erschienen 1962 in der Anthologie Liebesgedichte im Verlag Volk & Welt. Kein Wort über dieses literarische Debüt, dafür aber andernorts eine Aburteilung der Herausgeberin Gisela Steineckert als "gebieterische Matrone" (S. 105), die ihn übrigens 1964, im Jahr seiner Distel-Zeit, auch in ihre zweite Sammlung Nachricht von den Liebenden [2] mit vier Gedichten aufnahm. Biermann schwamm zunächst mit der Lyrikwelle, in der sich Anfang der 1960er Jahre in der DDR eine Lyriker-Generation vorstellte, die ihre Erwartungen an den Sozialismus nachdrücklich formulierte, dabei Kritik erkennen ließ und letztlich bedeutende Dichter wie Volker Braun, Heiner Müller oder Karl Mickel hervorbrachte. Biermann unterschlägt die elf Gedichte, die Gerhard Wolf 1964 in seiner Anthologie Sonnenpferde und Astronauten [3] präsentierte, was bei seiner grenzenlosen Eitelkeit und seinen akribischen Tagebuchnotizen verwundert, steuerte doch sein Gedicht Die Sonnenpferde sogar zum Titel bei. Er behauptet hingegen, er habe bis zum Frühjahr 1964 "nur ganze drei Gedichte" (S. 132) in der DDR veröffentlichen dürfen. Was in den Erinnerungen des "tapferen Renegaten" stört, wird eliminiert. Dass er 1966 in repräsentativen DDR-Lyrik-Sammlungen wie In diesem besseren Land [4] fehlte, nimmt nicht wunder, wollten sie doch literarisch Gültiges, Bleibendes, vorstellen. Biermann lässt also seine Lyriker-Karriere 1965 mit einem Verbot beginnen, was dann zum Totalverbot wurde, das er, wie er 1990 scherzte [5], hin und wieder unterlaufen habe. Bereitwillig gibt Biermann Auskunft, wovon er - ohne Arbeit - zehn Jahre in der DDR lebte: von seinen West-Tantiemen, die man ihm in Ost- und Westgeld auszahlte, denn schon 1965 war bei dem linken Verleger Klaus Wagenbach in Westberlin sein erster Band Die Drahtharfe erschienen. Weitere Bände und Langspielplatten folgten. Es ist geradezu abstoßend, wie sich Biermann über die in der DDR "eingebundenen Schriftsteller und alimentierten Maler" (S. 437) erhebt und ihnen attestiert, dass sie "alle mehr oder weniger verstrickt" waren, so wie er bis "zum radikalen Bruch 1965" (S. 437). Tatsächlich dauerte dieser "Bruch" bis 1976. Es stimmt: "... manchem Untertanen schmeckt ein Menschenrecht eben doppelt lecker, wenn er es als Privilegium genießen kann." (S. 437)

Als die DDR Wolf Biermann am 16. November 1976, nach Jahren der Überwachung durch die Staatssicherheit, ausbürgerte, geriet die DDR-Kulturelite in Aufruhr. Allerdings ging es dabei weniger um Biermann, sondern um den Akt an sich. Die sich solidarisierenden Künstler standen auf, um ihre künstlerische Freiheit zu verteidigen. Christa Wolf schrieb ein Jahr später von der "Bewältigung des Schocks dieses Jahres - Biermann-Ausbürgerung und die Folgen" [6]. Zu den Folgen gehörte, dass ein wichtiger Teil der Kulturelite das Land verließ, darunter Sarah und Rainer Kirsch, Jurek Becker, Manfred Krug, Angelika Domröse und Hilmar Thate. Bei Anderen wie Christa Wolf führte dieser Vorgang zur Befestigung des "Willens zum Hiersein" [7]. Dass es eine Zäsur im Kultur- und Geistesleben der DDR war, zeichnete sich in den darauffolgenden Jahren ab, und das allein hat Wolf Biermann jenen Ausnahmestatus gegeben, der ihn in der Bundesrepublik über die Zeiten trug.

Nicht nur Sprache und Stil dieser Memoiren zielen darauf, das Leben in der DDR als eines von "Lagerinsassen eingepfercht hinter Stacheldraht, Elektrozaun und Todesstreifen" (S. 198) zu denunzieren, seine ahistorischen Vergleiche sind platt, seine Argumentation demagogisch. So unterstellt er u.a., dass in der sowjetischen Besatzungszone von Anbeginn der Kommunismus aufgebaut werden sollte, was falsch ist, ging es doch zunächst um die Entnazifizierung und Demokratisierung des gesellschaftlichen Lebens, was sich in einschlägigen Dokumenten nachlesen lässt. Nicht zuletzt deshalb bemühten sich sowjetische Kulturoffiziere 1945 um einen Gerhart Hauptmann als Ehrenvorsitzenden für den Kulturbund, da man Identifikationsfiguren für diesen Demokratisierungsprozess gewinnen wollte. Erstaunlich, dass Biermann in einem Satz eingesteht, dass in der Bundesrepublik Nazirichter und "höhere Beamte des Dritten Reiches" nach 1945 "ohne Karriereknick" (S. 49) weitermachen konnten. Doch man vermisst die Empörung des Sohnes, dessen Vater in Auschwitz Opfer der Nazi-Schergen wurde. Man wundert sich überhaupt, wie er den skandalösen Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik, der einem ehemaligen NSDAP-Mitglied wie Kurt Georg Kiesinger den Weg ins Bundeskanzleramt ebnete, "durchwinkt".

Mangelt es den Memoiren einerseits an historischer Faktizität, so fällt andererseits der Umgang mit Zeitgenossen und Weggefährten dem Wunschdenken des "tapferen Renegaten" und seiner Hybris anheim. So erfährt man, dass sein Verhältnis zu seinem ersten West-Verleger Klaus Wagenbach, der aufgrund seiner politischen Ansichten in der BRD Repressalien erlebte, bereits 1973 "gestört" (S. 285) war. Wagenbach hatte in den 1960er Jahren den "Boykott der konservativen Presse" [8] zu spüren bekommen, weil er DDR-Autoren wie Stephan Hermlin und Wolf Biermann veröffentlichte. Aus gleichem Grund verlor er in der DDR zugesagte Lizenzen. Doch er hielt zu Biermann. Als 1973 sein Versuch einer kollektiven, solidarischen Verlagsarbeit scheiterte, es zur Spaltung des Verlages kam, "missbrauchte" Biermann, wie Wagenbach sich erinnert, als einziger den Autorenentscheid, "'um lieber beim Genossen Neven Du Mont und bei den Genossen vom amerikanischen CBS-Konzern'" [9] zu veröffentlichen. Geld anstatt Solidarität, dazu waren Biermanns Tagebücher offenbar nicht aussagefähig.

Biermann gebraucht den Begriff des "Bestiariums" - der DDR-Kulturpolitik, des DDR-Literaturbetriebs, des MfS, des Unrechtsstaates usw. - geradezu inflationär. Nun kann er sich keineswegs mit Franz Bleis Großem Bestiarium der modernen Literatur (1920) messen, das in die Geschichte eingegangen ist, auch nicht mit Fritz J. Raddatz' Bestiarium der deutschen Literatur (2012). Raddatz' Werk enthält aber eine tiefsinnige Biermann-Beschreibung: "Biermann, der Eichenprozessionsspinner. Raupe, die Deutschland in Angst und Schrecken versetzt ..." [10] Dass er bei so viel Spott in Biermanns selbstverliebten Memoiren fehlt, leuchtet ein. Schaut man in Raddatz' Tagebücher, so findet sich noch manch anderer Grund. Da ist von servilen Briefen Biermanns an den früheren Zeit-Feuilleton-Chef die Rede, in denen er um Veröffentlichung buhlte, und es gibt einen interessanten Gegenentwurf zu Biermanns pathetischer Schilderung seines letzten Besuches beim Freund und Dissidenten Robert Havemann in der DDR [11]. Wollte Biermann vielleicht doch, wie Florian Havemann behauptet, 1976 einfach nur in den Westen, weil er sich "nach dem großen Auftritt" [12] sehnte? Das zu klären, mag einer historisch-kritischen Betrachtung der DDR-Dissidenten-Bewegung vorbehalten sein.

Biermann hat sich an der DDR, oder besser, an sich selbst erschöpft. Es ist ihm bis zu diesen Memoiren gelungen, "immer nur die alten Ost-Wunden zu lecken" (S. 372), und es lebt sich gut davon. Sein Weltbild ist erstaunlich einfach: Selbst "Skins, Fremdenhass" gehören zum "schrecklichen Nachlass der DDR-Diktatur" (S. 463), vermutlich auch die rechtsextreme NPD oder die Rechtspopulisten der AfD, über die Biermann in seinen Memoiren kein Wort verliert. Vierzig Jahre in der Bundesrepublik haben ihn zu der Erkenntnis geführt, dass die bürgerliche Demokratie "das am wenigsten Unmenschliche" (S. 526) ist, was Menschen als Gesellschaftsmodell bisher erfunden haben. Damit legitimiert Biermann in seiner Wunschbiographie der politischen Standhaftigkeit Arbeitslosigkeit und soziale Armut, aber vor allem die Ursache der verheerenden Kriege in der Welt: Profit. Den Irakkrieg von 1990, in dem es um das Öl von Kuwait ging, begrüßte Biermann, was ihn nicht nur die Freundschaft mit Günter Grass kostete. Krieg ist und bleibt ein Verbrechen, weil er unmenschlich ist. Das hat die Linken in aller Welt immer geeint. Wen wundert es, dass der angekündigte Auftritt Wolf Biermanns zur Eröffnung der Festspiele 2017 im Magdeburger Dom, einem Ort des friedlichen Dialogs, für Unmut sorgte? Eine empörte Magdeburgerin bot eine Alternative: "Lasst Kinder- und Jugendchöre Friedenslieder singen, überlasst denen die Bühne, die mit uns allen über die Sehnsucht der Menschen nach Frieden und Gerechtigkeit nachdenken ...!" [13]

Der Dichter Heinrich Heine "dachte" an Deutschland und bekannte sich in dem von Biermann mehrfach zitierten Gedicht Enfant Perdu zum "Freiheitskrieg" der Menschheit. Heine musste ins Exil gehen, der Liedermacher Biermann wurde ausgebürgert - Rudolf Augstein kommentierte 1992 anlässlich der umstrittenen Büchner-Preis-Verleihung an Biermann diese Parallele mit den Worten: "Nur hat Heines Genie unter dem Exil nicht gelitten, allenfalls sein Charakter." [14]


Anmerkungen:

[1] Bundestagspräsident Norbert Lammert über Heine und Biermann. Deutschlandfunk, Denk ich an Deutschland, 13. November 2016

[2] Steineckert, Gisela (Hg.): Nachricht von den Liebenden. Berlin u. Weimar 1964

[3] Wolf, Gerhard (Hg.): Sonnenpferde und Astronauten. Halle/Saale. 1964.

[4] Endler, Adolf u. Karl Mickel: In diesem besseren Land. Gedichte der DDR seit 1945. Halle 1966.

[5] Görtz, Günter: Lieder, die man nicht mehr missen möchte. In: Neues Deutschland, 19. März 1990.

[6] Wolf, Christa: Ein Tag im Jahr. 1960-2000. München 2003, S. 217.

[7] Ebd.

[8] Wagenbach, Klaus: Der Verlag Klaus Wagenbach. In: Galli, Rita u.a. (Hg.): Ausgerechnet Bücher: einunddreißig verlegerische Selbstportraits. Berlin 1998, S. 102.

[9] Ebd., S. 103

[10] Raddatz, Fritz J.: Bestiarium der deutschen Literatur. Hamburg 2012, S. 13.

[11] Raddatz, Fritz J.: Tagebücher 1982-2001. Reinbek b. Hamburg 2012, S. 18.

[12] Interview mit Florian Havemann. In: Magazin stern, 60. Jg., 21. Januar 2008.

[13] Steinwerth, Regine: Biermann lädt mich aus. In: Magdeburger Volksstimme, 16. November 2016.

[14] Augstein, Rudolf: ...und nicht mal im Gefängnis. In: Magazin Der Spiegel, 46. Jg., 4/1992, 10.01.1992.

Wolf Biermann
Warte nicht auf bessre Zeiten!
Die Autobiographie
Berlin, Propyläen Verlag
544 Seiten
28 Euro
ISBN: 978-3-549-07473-2


5. Dezember 2016


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