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REZENSION/035: Edda Lechner - Jesus, Marx und ich - Wege im Wandel - Eine Achtundsechzigerin in der Kirche (SB)


Edda Lechner


Jesus - Marx - und ich

Wege im Wandel
Eine Achtundsechzigerin in der Kirche


Gottvertrauen ist Edda Lechners Sache nicht. Heute nicht mehr. Doch damals, für das Kriegskind Edda Groth, zu Beginn des 2. Weltkriegs geboren, bedeutet der Protestantismus dithmarscher Prägung nicht nur Halt und Orientierung, sondern auch die Möglichkeit, sich bereits als Jugendliche in kirchlichem Rahmen für andere zu engagieren.

Auch nach dem Abitur sieht Edda Groth im christlichen Glauben ihren Weg, sich für Arme und Benachteiligte sowie für den Frieden einzusetzen. Sie beschließt, Theologie zu studieren, stößt aber in diesem seinerzeit männlich dominierten Umfeld bald auf entsprechende Ressentiments. Schrecken kann sie das nicht, hat sie doch früh gelernt, Widrigkeiten aller Art als Herausforderung anzunehmen. Schließlich wird sie, als eine der ersten Frauen überhaupt, von der Evangelischen Landeskirche Schleswig-Holstein ordiniert und tritt ihre erste Stelle als Pastorin in der Simeon-Gemeinde in Hamburg-Bramfeld an.

Dort kommt sie schnell in Kontakt mit den Studierenden der 68er Bewegung und sieht in ihnen Menschen, die sich wie sie, wenn auch linkspolitisch verortet, gegen Hunger, Krieg und Elend positionieren. In ihre Gemeindearbeit integriert sie fortan die Forderungen, Inhalte, Protestformen und Gegenentwürfe der "68er" wie beispielsweise das Konzept einer antiautoritären Erziehung. Für Edda Groth besteht zwischen ihrem christlichen und politischen Engagement nicht der geringste Dissens. Einigen Funktionsträgern in Kirchenvorstand und Landeskirche allerdings beginnt die "Politisierung" ihrer Pastorin, so wie sie es sehen, sauer aufzustoßen.

Wenn in Simeon meine Gegner mich als zu politisch und zu wenig christlich angriffen, so ist das ein grundsätzlich falscher Vorwurf. Ich war nicht "zu politisch", sondern ihnen passte nur eine bestimmte Richtung nicht in den Kram: die linke, demokratische, vielleicht auch schon ansatzweise sozialistische Politik. (S. 132) 

Die in ihrer Gemeinde und besonders bei den Jugendlichen beliebte Pastorin, die sich einsatzfreudig aller Glaubens- und Lebensfragen annimmt, gerät mehr und mehr mit der Kirchenleitung in Konflikt. Auch dadurch befeuert, stellt sie sich Fragen, die allmählich ihr gesamtes Weltbild verändern. Ein besonders brisanter Konfliktpunkt ist dabei die "Gewaltfrage". In einem "Offenen Brief zur Frage der Zusammenarbeit mit Kommunisten in der Kirche" erklärt sie, daß sie sich "im Gegensatz zu den meisten Vertretern von Kirche und Gesellschaft, die die bestehende, gegen das Volk gerichtete Gewalt bewusst und unbewusst tolerieren", eindeutig auf den Standpunkt stellt, "dass alle Gewalt vom Volke auszugehen hat". (S. 333)

Diese Positionierung trägt ihr den Vorwurf des Amtsmißbrauchs seitens der Kirche ein. Zwar hält Edda Groth der Evangelischen Kirche Deutschlands zugute, daß sie gegenüber den mit Waffengewalt geführten Kämpfen von Befreiungsbewegungen in diktatorisch regierten Ländern eine gewisse Tolerierung aufbringt, dies jedoch nicht auf die Situation im eigenen Land überträgt:

So schweigt die Kirche über das, was sie doch weiß: dass die Bundeswehr nicht friedlich ruht und nur auf den Verteidigungsfall eines Angriffes von außen wartet, sondern fleißig Übungen zur Bürgerkriegssituation in der BRD, z.B. erobern einer von Arbeitern besetzten Fabrik, durchführt, dass der Bundesgrenzschutz ebenfalls auf diese Situation hin trainiert, dass Polizisten in "Zivil", z.B. in Rockerkleidung, gegen Demonstranten und streikende Arbeiter vorgehen, dass als Folge von verschärfter Ausbeutung am Arbeitsplatz zunehmend wieder Kinder geschlagen und bis zu tausend pro Jahr zu Tode geprügelt werden. (S. 335 f.) 

Davon abgesehen beginnt Edda Groth nun auch, ihr eigenes Engagement als Pastorin kritisch zu hinterfragen. Sie, die die unterdrückten und benachteiligten Kinder unterstützen, den sozial Schwachen zu ihrem Recht verhelfen und die Ausgebeuteten lehren will, sich zu wehren, sieht sich in ihrem Beruf mehr und mehr an der Aufrechterhaltung jener gesellschaftlichen Verhältnisse in der Bundesrepublik beteiligt, die es für sie doch zu bekämpfen gilt:

Ich habe jedoch erreicht, dass es denen, denen es - sagen wir mal - relativ gut geht, noch etwas besser geht, dass die, die oben oder wenigstens ziemlich oben stehen, nun noch einen weiteren Schritt voraus sind: kritisch, selbstbewusst, gebildet, urteilsfähig und bereit, sich im rechten Moment derjenigen zu erwehren, die ihnen Unrecht tun. Ich habe erreicht, dass die, die eine schlechte ökonomische Basis haben, noch zusätzlich ein schlechtes Gewissen bekommen, weil sie ihre Kinder "falsch" erziehen. Ich habe, um es deutlich zu sagen - Klassengegensätze verschärft, die Widersprüche verstärkt... Gerechtigkeit und Chancengleichheit verhindert. (S. 281) 

Aus diesen Erkenntnissen und der inzwischen herangereiften Überzeugung, daß "kein höheres Wesen uns retten wird", zieht Edda Groth schließlich den für sie einzig vertretbaren Schluß: sie erklärt öffentlich ihre Abkehr vom Glauben, bekennt sich zum Kommunismus und tritt aus der Kirche aus.

Daß sie mit dieser Zäsur auch ihren gut bezahlten Beruf aufgibt, ist ihr von vornherein klar - nicht jedoch, wie viele Steine ihr künftig im Hinblick auf nahezu jede Art bildungsadäquater Berufstätigkeit in den Weg gelegt werden würden. Das Berufsverbot trifft sie - wie auch viele andere 68erinnen und 68er in staatlichen wie kirchlichen Diensten - mit voller Härte. Trotz ihrer qualifizierten Ausbildung kann sich Edda Groth meistenteils nur mit schlecht bezahlten Jobs finanziell über Wasser halten. Dennoch, und das gilt bis heute, gibt sie ihre streitbare Haltung nicht auf. Edda Groth, inzwischen verheiratet und Edda Lechner, bleibt politisch aktiv: in verschiedenen Betrieben bei der Gründung von Betriebsräten, in Brokdorf beim Protest gegen Atomkraft, Demos gegen den Irakkrieg oder dem Aufbau der Partei DIE LINKE (die sie als Landeschefin für Schleswig-Holstein vertreten hat und in der sie heute noch mitwirkt).

Eingedenk des Schlußsatzes von Edda Lechner, "das einmal erkannte, entscheidende Ziel, in dieser Welt für Gerechtigkeit einzutreten, haben wir eindeutig jener Bewegung von 1968 zu verdanken", wäre es für manchen Leser interessant zu erfahren, wie sie die partiell durchaus kritische Bewertung der 68er Bewegung durch ihre Partei DIE LINKE beurteilt, in der es unter anderem heißt:

Aus der Forderung nach einer freien Gestaltung des Lebens ist der Zwang zu Flexibilität geworden. Aus dem Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben wurde der Zwang zur Selbstverwertung. In der Alternativkultur entwickelte Formen der Produktion prägen unter umgekehrten Vorzeichen als angeblich "flache Hierarchien" moderne Formen der Ausbeutung. [1]

Hätte die 68er-Edda-Groth angesichts solcher Erkenntnisse, genau wie damals als Pastorin für sich selbst, nicht auch da eine Zäsur für den einzig vertretbaren Schluß gehalten?

Edda Lechner gehört einer Generation an, die noch hautnah erfahren hat, was Krieg für die Zivilbevölkerung bedeutet, hat sie doch in ihrem kleinen Dorf "Bombenangriffe, Flugzeugabstürze und nächtliche Ausquartierungen" selbst erlebt. (S. 11) Schon aus diesem Grunde kann ihre Biografie nicht als repräsentativ für die Literatur der mit ihrer Eltern-Generation abrechnenden 68er/innen gelten. In einem durchaus positiven Sinne.

Heute, weit über den Eintritt ins Rentenalter hinaus, denkt sie immer noch nicht daran, die Hände in den Schoß zu legen und den Dingen ihren Lauf zu lassen. Unermüdlich nutzt sie ihr Renommee, ihre Fähigkeiten als politische Autorin und ihre Einflußmöglichkeiten als Mitglied der der Partei DIE LINKE, um all jene bei der Weiterentwicklung ihres Standpunkts zu unterstützen, die sowohl den Krieg als auch die Zeit der Protestbewegungen um 1968 nur als Historie kennen.

Einzig auf der letzten Seite ihres Buches läßt Edda Lechner der Kirche gegenüber, deren primäre Funktion für Staat und Bürger sie doch so eindrücklich vermittelt, für den mittlerweile an Lechnersche Unbeirrbarkeit gewöhnten Leser den etwas irritierenden Wunsch erkennen, sich dieser Institution verständlich zu machen:

Neuerdings hat uns erfreulicherweise auch die Kirche wiederentdeckt. So wurden wir von Stephan Linck anlässlich der Aufarbeitung der Kirchengeschichte nach 1945 zu einer Veranstaltung eingeladen, um unsere christlich-kommunistisch-atheistische Geschichte von unserer Sicht aus darzustellen. Das hat meine langjährige Absicht, zu diesem Thema ein Buch zu schreiben, beflügelt. (S. 414) 

Nichtsdestoweniger hat Edda Lechner mit "Jesus - Marx - und ich, Wege im Wandel" ein sachlich hochinformatives und aufgrund seiner mühelosen Nachvollziehbarkeit zugleich sehr gut lesbares Dokument politischer Zeitgeschichte vorgelegt. Die zahlreichen, unmittelbar auf den Text bezogenen Fotos, Dokumente, Illustrationen, Liedtexte und Gedichte tun ein Übriges, damit das Lesen zu einer leichtfüßig-aufschlußreichen Reise durch ihr protestbewegtes Leben wird.


Fußnote:

[1] https://archiv2017.die-linke.de/partei/weitere-strukturen/berufene-gremien/historische-kommission/erklaerungen-und-stellungnahmen/1968-ein-globaler-aufbruch/

16. April 2020


Edda Lechner
Jesus - Marx - und ich
Wege im Wandel
Eine Achtundsechzigerin in der Kirche
Reihe: Forum Religionskritik, Band 16
LIT Verlag, Berlin 2020
420 Seiten
34,90 Euro
ISBN 978-3-643-14197-2


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