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VERLAG/089: Zum 125jährigen Bestehen des Verlags J.H.W. Dietz (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2007

"Empor zum Licht!"
Zum 125jährigen Bestehen des Verlags J. H. W. Dietz

Von Peter Brandt


Was wäre Heinrich Dietz ohne das piktografische Schriftsystem der Sumerer? Der Autor nimmt das Jubiläumsdatum zum Anlass, die wichtigsten Entwicklungsphasen der Schriftkultur noch einmal Revue passieren zu lassen. Erst mit der Erfindung des Buchdrucks Mitte des 15. Jahrhunderts konnten Texte in großer Menge vervielfältigt werden. Das Lesen-Können und Lesen-Wollen dehnte sich langsam aus. Es dauerte aber mit der Literalisierung der breiten Volksschichten bis weit ins 19. Jahrhundert. Dann kam Heinrich Dietz.


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Der badische Staatsminister von Bodman sprach 1910 in der Ersten Kammer des Großherzogtums von der Sozialdemokratie als einer "großartigen Arbeiterbewegung zur Befreiung des vierten Standes", ein im wilhelminischen Deutschland vermutlich einmaliger Vorgang. Die SPD war damals mit den badischen Nationalliberalen in eine feste, semi-parlamentarische Regierungszusammenarbeit eingebunden (ohne selbst an der Regierung beteiligt zu sein), in den so genannten Großblock, der die Fantasie so mancher Zeitgenossen beflügelte: War es nicht möglich, auf diesem Weg die innen- und verfassungspolitischen Blockaden im Deutschen Kaiserreich aufzuweichen? Ein Reformbündnis von Bassermann bis Bebel?

Bodmans zitierte Hochachtung vor der Sozialdemokratie verweist auf die zivilisatorische Mission der Arbeiterbewegung. 'Wissen ist Macht! Bildung für alle!' Ferdinand Lassalles Vision der Verschmelzung von Wissenschaft und Arbeiterklasse. "Empor zum Licht", heißt die Festschrift des DIETZ-VERLAGS. Wer Gelegenheit hatte, noch Menschen persönlich kennen zu lernen, die sich vor 1933 teils autodidaktisch, teils mit Hilfe der gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen, dann auch kommunistischen Bildungseinrichtungen eine politische und darüber hinaus eine klassische Bildung aneigneten, konnte eine Ahnung von der kulturellen Leistung der alten Arbeiterbewegung erhalten. Gewiss war vieles an dieser Bildungsbeflissenheit konventionell-bürgerlich. Doch die hyperkritische Analyse der "bürgerlichen" Inhalte von Arbeiterbildung seitens linker Intellektueller, auch Historiker - von Kritikern, denen in der Regel alles das in die Wiege gelegt wurde, was die bildungshungrigen Arbeiter früherer Epochen sich unter größter Mühe aneignen mussten - ist kritisch zu betrachten.

In diesen Zusammenhang gehört die Geschichte des DIETZ-VERLAGS im ersten halben Jahrhundert seiner Existenz. Die geradezu heroische Rolle von Heinrich Dietz ist von vielen seiner Mitkämpfer im Nachhinein überzeugend gewürdigt worden. Seit rund zehn Jahren liegt mit der Arbeit von Angela Graf auch eine wissenschaftliche Biografie vor. Der Weg zur Wiederbelebung des Verlags nach 1945 bzw. 1961 war mühsam. Seitdem ist Beachtliches, teilweise Großes geleistet worden, nicht zuletzt auf dem erst seit den 60er Jahren systematisch erforschten Feld der Geschichte der Arbeiter und Arbeiterbewegung, sowie in der Demokratiegeschichte und der Zeitgeschichte allgemein. Das ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE ist ein Leuchtturm; im politisch-publizistischen Bereich ist die NEUE GESELLSCHAFT/ FRANKFURTER HEFTE sowie die INTERNATIONALE POLITIK UND GESELLSCHAFT hervorzuheben, ebenso die der soliden politischen Bildung dienenden "Lern- und Arbeitsbücher".

Wenn in der Unübersichtlichkeit heutiger gesellschaftlicher Verhältnisse die politische Wirkung, sogar die Überlebensfähigkeit eines der Sozialdemokratie verbundenen Verlags weniger deutlich auszumachen ist als zu Zeiten der klassischen Arbeiterbewegung, dann liegt das zunächst an Tendenzen, mit denen alle programmatisch orientierten Verlage bzw. alle Verlage überhaupt konfrontiert sind. Hier müssen die neuen computergestützten Medien, in erster Linie das Internet, erwähnt werden. Jedoch haben Erfahrungen gezeigt, dass die gedruckten Medien bei vermehrter Nutzung elektronischer Medien keinesfalls überflüssig werden. Zweitens muss man die mit den erwähnten technischen Neuerungen untrennbar verbundene Kommerzialisierung und marktkapitalistische Globalisierung auch und gerade dieses Wirtschaftszweigs erwähnen.

Dazu kommt noch etwas Drittes: Die modernen konsumkapitalistischen Gesellschaften des Westens haben mit der Zeit eine große Fähigkeit entwickelt, Kritik und sogar Provokation zu ertragen. Hier soll auch auf das angespielt werden, was Herbert Marcuse einst mit dem problematischen Begriff der "repressiven Toleranz" zu erfassen meinte.

Menschen, die aus der DDR-Diktatur in die westdeutsche liberale Ordnung verschlagen wurden, mussten bitteres Lehrgeld bezahlen, etwa Wolf Biermann oder Rudolf Bahro, die vom Westen aus dem Sozialismus in Deutschland neue Impulse geben wollten, sie haben sich letztlich entweder angepasst oder sind als esoterische Sektierer abgestempelt worden. Sie kamen aus Verhältnissen, wo das Aussprechen, gar das Veröffentlichen unerwünschter Meinungsäußerungen schon als solches eine ungeheuere Sprengkraft besaß, in Verhältnisse, wo man fast alles sagen und schreiben durfte, ohne dass es unbedingt Folgen hatte.

Die akademische Disziplin Geschichtswissenschaft ist durch den Gebrauch der Schrift definiert. Das Selbstverständnis, wie auch unser ganzes Alltagsleben, sind vom Schriftgebrauch geprägt, vom Schreiben und vom Lesen hauptsächlich gedruckter Mitteilungen.


Wesentlich ältere Schriftkultur

Es ist heute bei Archäologen und Historikern unumstritten, dass die Schriftkultur der Menschheit wesentlich älter ist, als lange Zeit angenommen. Damals ging man davon aus, das piktografische Schriftsystem der Sumerer - das aus einigen Tontafeln besteht, die Angaben zum Warenverkehr enthalten - hätte um 3200 v. Chr. am Anfang gestanden. Durch die Kombination einer genaueren Anwendung von Radiokarbonmessungen und der Baumringaltersbestimmung ist es in den vergangenen Jahrzehnten gelungen, zu einer deutlich veränderten Abfolge der frühesten Schriftkulturen zu gelangen. Das betrifft alt-ägyptische Schriftzeichen aus der prädynastischen Epoche, als Ägypten noch in zwei Reiche geteilt war, die auf in Gräbern gefundenen Siegeln identifiziert werden konnten. Sie sind, wenn auch nicht wesentlich, älter als die sumerischen.

Über Jahrtausende war der Schriftgebrauch ein höchst elitäres Phänomen. Seit der Entstehung skribaler Hochkulturen im Zweistromland und am Nil lag das Schriftmonopol in den Händen einer kleinen, spezialisierten Schicht professioneller Schreiber oder/und der Herrschaftsträger.

Solange Wissen nur handschriftlich gesichert und über die Herstellung von Kopien verbreitet werden konnte, blieb dies auf eine sehr kleine Bevölkerungsgruppe begrenzt. Erst die Erfindung des Buchdrucks Mitte des 15. Jahrhunderts machte es technisch möglich, Texte in großer Menge zu vervielfältigen. Der inzwischen erreichte Grad der Marktverflechtung und der Verdichtung von Kommunikation, die Einflüsse der Renaissance bzw. des den Gebrauch der Muttersprache anstelle des Lateinischen fördernden Humanismus sowie andere emanzipatorische Strömungen erzeugten zusammen einen gesellschaftlichen Resonanzboden, der einen ersten Schub bei der Ausbreitung der Schreib- und Lesefähigkeit begünstigte.

Hinzu kam, namentlich im deutschsprachigen Mitteleuropa, nicht zuletzt derjenige religiöse - und das hieß zu dieser Zeit: auch politische - Umbruch, der als Reformation bezeichnet wird und der auch von massiven sozialen Unruhen begleitet war. Stets diente die Drucktechnik über das neue Medium der Flugschrift zum Transport der rebellischen Ideen. Das gilt auch für die berühmte Antwort des jungen Augustinermönchs und Theologieprofessors Martin Luther aus Wittenberg vom 17. und 18. April 1521, der - von Kaiser Karl V. gebannt - vor dem Wormser Reichstag seine "leren und buecher ..., so ain zeit her von [ihm] ausgegangen sein" widerrufen sollte, aber auf die Gefahr hin, wie Johann Hus ein Jahrhundert früher, als Ketzer verurteilt und hingerichtet zu werden, standhaft blieb. Man schätzt, dass Luthers Worte in rund 500.000 Exemplaren kursierten.


Luthers Streit um gedruckte Worte

Bei Luthers Verteidigung seiner Position stand das Verständnis der von ihm ins Deutsche übersetzten Bibel im Mittelpunkt, über das er zum breiten Publikum, an dessen eigenes Urteil appellierend, predigte, eine ungeheure, die Autorität der kirchlichen Hierarchie angreifende Herausforderung. In Worms bekannte sich der Reformator zu seinen selbst verfassten Texten im originalen Wortlaut und distanzierte sich von böswilligen oder wohlmeinenden Verfälschungen des Wortlauts oder der Auslegung, für die er die Verantwortung ablehnte. Luther und seine Gegner führten somit nicht zuletzt einen Streit um gedruckte Worte, die fast rauschhaft verkündet, breit erörtert, begeistert aufgenommen oder kompromisslos verdammt wurden.

Nachdem es also um 1500 zu einer ersten Ausdehnung des Lesen-Könnens und des Lesen-Wollens gekommen war, dann im 17. Jahrhundert durch den Dreißigjährigen Krieg wohl erhebliche Rückschritte zu verzeichnen waren, setzte im 18. Jahrhundert, vor allem seit der Jahrhundertmitte im Zeichen des aufgeklärten Absolutismus, ein zweiter, jetzt nicht mehr unterbrochener Alphabetisierungsschub ein, der nach und nach bis in die Unterschichten durchschlug.

Manches blieb längere Zeit eher programmatisch, so die Einführung der allgemeinen Schulpflicht durch den preußischen König Friedrich Wilhelm I. im Jahr 1717 (unter der Maßgabe, dass geeignete Räume zur Verfügung stünden). Es ist unverkennbar, dass der Alphabetisierungsgrad in den deutschen Staaten durchgehend relativ hoch war und dass dort erheblich früher als anderswo der Analphabetismus praktisch eliminiert war. Auch im späten 18. und im 19. Jahrhundert spielten politische Faktoren eine verstärkende Rolle, so die radikale Aufklärung und die Französische Revolution, die anti-napoleonischen Befreiungskriege, die bürgerlich-liberale und eben auch die frühe sozialistische Arbeiterbewegung.

Im Zuge der mit der so genannten Leserevolution dieser Jahrzehnte eng verbundenen Vereinsbewegung schossen seit den 1770er Jahren "Lesegesellschaften" aus dem Boden, deren unmittelbarer Zweck sowohl die gemeinsame Anschaffung der auch für Angehörige des gehobenen Bürgertums häufig kaum erschwinglichen Literatur als auch die Diskussion des Gelesenen war: vor allem Periodika, Sachbücher und Nachschlagewerke, weniger Belletristik. Die Gründung der Lesegesellschaften war Teilprozess eines allgemeineren Vorgangs, der u.a. die Kommerzialisierung und quantitative Ausweitung der Buchherstellung, des Buchhandels und des Zeitungs- und Zeitschriftenwesens sowie die Veränderung des Leseverhaltens der Menschen umfasste. Während am Beginn des 18. Jahrhunderts weniger als 600 deutschsprachige Bücher erschienen, waren es 1764 bereits über 1.300, 1800 fast 4.000, 1870 über 10.000 und am Ende des 19. Jahrhunderts rund 24.000.

Schon im 16./17. Jahrhundert befürworteten und förderten manche Schreib- und Lesefähige die Literalisierung der Mittel- und Unterschichten. Dabei ging es ihnen in der Regel um die Vertiefung der Bibelkenntnis und die bessere Einübung christlich-konfessioneller Grundregeln durch Lektüre von Gebets-, Gesangs- und Anstandsbüchern. Dazu kam durch die Aufklärung das Bemühen von Volkspädagogen um praktische Belehrung, etwa über moderne agrarische Anbaumethoden, und um moralische "Verbesserung" der "niedrigen Klassen" nach dem eigenen Maßstab. Ihre Entsprechung fanden diese pädagogischen Ansätze in Anstrengungen der Betroffenen selbst oder besser gesagt: der Energischsten und geistig Regsten unter ihnen, schreiben und lesen zu lernen, wie sie in autobiografischen Mitteilungen einfacher Arbeiter als wesentlicher Handlungsimpuls aufscheinen.

Es liegt auf der Hand, dass die Literalisierung der breiten Volksschichten eine große Hürde in deren Lebensformen fand. Dazu gehörte die Umgangssprache dieser Sozialgruppen. Die deutsche Hochsprache war um 1800 ein bürgerlich-nationales Projekt, das gegen den, weitgehend das Französische nutzenden, Adel, die lateinische Messe im Katholizismus und vor allem die dialektverhafteten Unterschichten in Stadt und Land durchgesetzt werden musste. Auch die materielle und personelle Ausstattung des Volksschulwesens war bis weit ins 19. Jahrhundert sehr bescheiden. Zudem fand die vermeintliche "Lesewut" Minderjähriger und sozial Abhängiger viel Kritik bei Eltern und Erziehern, bei Vertretern der Obrigkeit und der Kirchen, bei Arbeitgebern und bei Anhängern einer elitären Bildungsidee. Weil indessen ökonomische und staatliche Interessen zunehmend auf vollständige Alphabetisierung gerichtet waren, konnten solche Vorbehalte allenfalls verzögernd, doch nicht nachhaltig hemmend wirken.


Regelmäßiges Vorlesen

Erwähnt werden sollten aber noch die Zwischenformen der halb-literaten, halb-oralen Kommunikation, wie sie lange den Gesamtprozess der Literalisierung begleiteten. Alle irgendwie schriftbezogenen Verständigungsformen wie das Vorlesen, aber auch der Gesang, die Katechese und die Predigt beeinflussten die daran Teilnehmenden im Sinne einer zumindest partiellen Durchbrechung der tradierten, für die Masse der Bevölkerung noch eng begrenzten Daseinsform und die stetige Erweiterung des gedanklichen Horizonts. Im Übrigen beschränkte sich das regelmäßige Vorlesen nicht unbedingt auf Kinder und Analphabeten. Abschließend soll das Beispiel der deutschen Zigarrenarbeiter angeführt werden, deren frühe gewerkschaftliche und politische Aktivierung - seit Mitte des 19. Jahrhunderts - neben strukturellen Gründen und bestimmten Traditionen verschiedentlich auch mit der verbreiteten und vielfach geduldeten Sitte des Vorlesens von Schriften der Arbeiterbewegung, in der Regel Zeitungen, während der Arbeitszeit in Verbindung gebracht worden ist.

Auszüge aus einem Vortrag bei der Festveranstaltung zum 125jährigen Jubiläum des Verlags J. H. W. DIETZ NACHF. in Bonn am 14. Februar 2007.


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2007, S. 15-19
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Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Juli 2007