Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → HÖRBUCH

REZENSION/007: Lisa Tetzner - Die schwarzen Brüder (Hörspiel) (SB)


Hörspiel von Heidi Knetsch und Stefan Richwien


Die schwarzen Brüder

Nach dem gleichnamigen Roman von Lisa Tetzner



Wir sitzen in einem Zug auf der Fahrt nach Mailand und folgen dem Erzähler zurück in die Vergangenheit. Als armes Tessiner Bauernkind wurde er von seinem Vater in höchster Not für ein halbes Jahr zur Arbeit als Kaminfegerjunge nach Mailand verkauft. Für Giorgio beginnt eine bittere und gefährliche Zeit als Sklave, ohne Rechte, dessen einziger Wert darin besteht, daß man ihn zur Arbeit den engen, rußig- heißen Kamin hochzwingen kann. Doch gibt er dem Vater dafür keine Schuld:

Mit hängenden Schultern kam mein Vater zurück. Ich müsse ein halbes Jahr in Mailand arbeiten. Wie er das sagte! Kaum angeschaut hat er mich. Mein Vater war kein schlechter Vater. Wer arm ist, hat keine Wahl.

Die eindringliche Warnung seiner Freundin Anita schlägt er in den Wind:

"Giorgio, weißt du überhaupt, was das für eine Arbeit ist? Du sollst in Mailand Kamine fegen. Ich weiß es vom alten Baretta."
"Kamine fegen, was ist da so schlimm dran?"
"Schon so viele Tessiner Buben sind nach Mailand verkauft worden. Aber die meisten sind nicht wiedergekommen."
"Wieso nicht wiedergekommen?"
"Weil die Arbeit so schrecklich ist! Giorgio, zum Sterben ist ein halbes Jahr lang genug. Geh nicht! Versprich's mir."

Die Rahmenerzählung, also die Zugfahrt, wird von der Handlung abgelöst, in die man bald so vertieft ist, daß man meint, dabei zu sein. Giorgio macht sich im Alter von gerademal 13 Jahren allein und zu Fuß auf den Weg und begegnet Alfredo, der auch nach Mailand unterwegs ist, und den ein Geheimnis umgibt. Sie werden Freunde.

"Und du, warum mußt du nach Mailand?"
"Das, das darf keiner wissen."
"Warum?"
"Weil - es ist ein Geheimnis dabei. Nicht einmal dir kann ich's sagen. Aber laß uns trotzdem Freunde sein."
"Aber wir sind doch schon Freunde, oder?"
"Richtige Freunde werden wir erst durch einen Handschlag und einen Schwur. Schlag ein!"
"Und was sollen wir schwören?"
"Wir schwören, daß wir von heute an wie zwei Brüder zusammenhalten und uns treu bleiben bis an unser Lebensende."

Auf dem Weg per Schiff von Locarno nach Italien geraten sie in einen Sturm, 16 Jungen ertrinken. Mit letzter Kraft retten Giorgio und Alfredo den Mann mit der Narbe, der sie gekauft hat, und es ihnen schlecht danken wird, denn in Mailand versteigert er die beiden dennoch meistbietend als Gehilfen an Kaminkehrer weiter. Er weiß genau, welches Schicksal sie erwartet; zu viele Jungen sind schon durch diese Arbeit gestorben, und krank werden alle.

Giorgios Meister scheint ein relativ freundlicher Mann, vermag jedoch als einer, der nicht davor zurückscheut, sich ein Kind als Arbeitssklaven zu halten, nur kurz über seine eigentlichen Interessen hinwegzutäuschen. Seine Freundlichkeit besteht in seiner Feigheit und darin, daß er den Jungen zu lebensbedrohlicher Plackerei und Hunger nicht auch noch zusätzlich schlägt. So ist er lediglich die Sorte Schinder, die ihre Opfer besser instandzuhalten und zu nutzen weiß als andere. Seine Frau ist um so offener hartherzig, grausam und geizig dazu und ihr Sohn, den sie verhätschelt, nicht weniger bösartig.

Wir erleben hautnah mit, wie Giorgio, der nicht weiß, wie ihm geschieht, zum ersten Mal, noch am Tag seiner Ankunft, nach kurzen Erklärungen hoch in den engen Kamin muß. Der Meister gibt ihm noch den Rat, die Augen zu schließen. Zum Teil mit bloßen Händen soll der Junge den Ruß abkratzen, der ihm sofort in Nase und Mund dringt und auch in die Augen, als er diese versehentlich öffnet.

Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und schloß die Augen. Das erste Eisen hatte ich gleich ertastet und zog mich dran hoch. So eng war der Kamin, daß ich kaum atmen konnte. Aber das Schlimmste war der Ruß. Er stürzte unablässig auf mich herab, bei jeder Bewegung. Schon hatte ich Ruß in der Nase, in den Ohren. Dann machte ich die Augen auf, um das zweite Eisen zu finden, Sofort hatte ich Ruß in den Augen, als würde mir jemand Nadeln in die Augen stechen.

Zweimal muß er, der kaum noch Luft bekommt, nach oben steigen. Nach beendeter Arbeit, zurück auf der Straße, überkommt ihn der Schwindel. Das ist nun Tag für Tag sein Los. Zu essen erhält Giorgio kaum. Abgesehen davon, daß man möglichst wenig in ihn hineinstecken will, müssen Kaminkehrersklaven klein und mager bleiben, weil sie sonst nicht mehr in den Schlot passen. Für die Nacht wird er in einen engen Verschlag gesperrt. Nur die totkranke, bettlägerige Tochter des Hauses hat ein Herz. Sie freundet sich mit ihm an und versorgt ihn heimlich mit dem, was sie eigentlich für sich erhält, außerdem läßt sie ihn aus dem Käfig.

Als wäre das alles nicht hart genug, gibt es auch noch die "Wölfe", eine Jugendbande Gutgenährter, die es auf die jungen Kaminkehrer abgesehen hat. Doch diese wissen sich zu wehren. Als "schwarze Brüder" schützen sie sich gegenseitig vor den Überfällen durch die Wölfe, Alfredo ist der Anführer. Und das, wie natürlich auch die Themenwahl überhaupt, ist Tetzner- und Held-typisch. Wer in Not ist - und besonders gilt ihre Sorge Kindern und Jugendlichen - vermag es, sich dadurch, daß er sich mit anderen zusammentut, auf sie baut und ihnen die Treue hält, wirksam zur Wehr zu setzen. Die Autoren haben es in keiner Weise nötig, eine heile Welt zu zeichnen. Die Verhältnisse unter Menschen, die bestehende gesellschaftliche Ordnung mit ihren Raubgesetzen, stellen sich bei ihnen in ihrer ganzen Härte, Grausamkeit und Mißachtung, jedoch keinesfalls als unabänderlich, dar. Über die daraus zu ziehenden Schlüsse mag man sich uneins sein, doch weisen die beiden eine Richtung, die mit der vorherrschenden bricht.

Um nicht zuviel zu verraten, sei hier nur noch erwähnt, daß die Sache für Giorgio gut ausgeht, schließlich haben wir ihn als Erzähler vor uns. Er findet Beistand und kann mit zwei anderen Jungen, allerdings unter großen Gefahren und mit zum Teil sehr unerwarteter Hilfe, fliehen. Natürlich kann die Geschichte nicht wirklich gut enden, denn da ist noch das Schicksal der anderen Jungen, die nicht entkommen konnten. Und diese wird man nicht einfach vergessen. So ist es insgesamt eine ernste und traurige Geschichte, die nachdenklich stimmt, viel Gelegenheit für Gespräche bietet und auch dafür, weiter zu denken als an dieser Stelle angedeutet wird. Von ihrer Aktualität hat sie nichts eingebüßt, denn viele Kinder heute leben und sterben unter den gleichen erbarmungslosen Bedingungen; daß der Mensch den Menschen ausbeutet, und der andere lebt, wo der eine stirbt, hat sich höchstens qualifiziert.

Dieses Hörspiel ist insgesamt ein erfreulicher Anlaß, sich neben dem Genuß der wirklich spannenden Geschichte, ein paar Gedanken über den eigenen Tellerrand hinaus zu machen. Produktion und Regie werden dem zugrundeliegenden Stoff gerecht. Eine, wie heute eher übliche, verflachende Bearbeitung hat nicht stattgefunden, und es fehlt der erhobene Zeigefinger, der den Raum, Fehler einzugestehen und zu korrigieren, nicht läßt. Man kann sich freuen, daß die Autoren Heidi Knetsch und Stefan Richwien sich nach Charles Dickens Raritätenladen wieder einem klassischen Stoff und gerade diesem zugewendet haben; Christiane Ohaus' Name ist nicht nur durch ihre Regie der Kinder- /Jugendhörspiele "Der Raritätenladen" und "Geh' nicht auf den Eulenhügel" bekannt geworden.

Der Erzähler ist geschickt eingesetzt und vermag seine Stimmung so gut zu vermitteln, daß man sich mit ihm gemeinsam und wie durch ein Fenster in die Handlung hineingezogen fühlt. Man vergißt, daß Giorgio eigentlich schon erwachsen ist und der Hölle in Mailand entronnen. Die handelnden Personen bekommen miteinander zu tun, und sie machen eine Entwicklung durch. Die Erlebnisse prägen sie, und sie ziehen unterschiedliche Schlüsse aus dem Erlebten; so mancher entdeckt doch noch sein Herz, und das bringt einfach auf eine ganze Menge Ideen.

Auch die Musik zum Hörspiel ist passend und gut eingesetzt: Obwohl sie mit starken rythmischen und klanglichen Elementen arbeitet, begleitet und unterstreicht sie das Geschehen und führt, manchmal fast nur erahnbar im Hintergrund eingesetzt, kein Eigenleben; dennoch hat sie Wiedererkennungswert.


1942 ist das Buch erschienen, das die Grundlage zu diesem Hörspiel bildet. Es basiert auf Ereignissen vor unserer Zeit im Tessin; bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts wurden dort Jungen armer Familien zu Sklavendiensten verkauft. Die Idee zu dem Projekt hatte die Märchensammlerin und Kinderbuchautorin Lisa Tetzner, die sich gemeinsam mit ihrem Mann Kurt Kläber (Pseudonym Kurt Held) im Tessiner Exil befand. Auf das Schicksal der Tessiner Bauernjungen, die in Mailand als Kaminkehrergehilfen geschunden wurden, war sie im Rahmen ihrer Nachforschungen in alten Chroniken gestoßen. Das Buch schrieben die beiden gemeinsam, doch erschien es nur unter Lisa Tetzners Namen, weil ihr Mann auch in der Schweiz mit Schreibverbot belegt war.

Lisa Tetzner hatte ihren Mann nach eigener Schilderung 1919 kennengelernt, während sie als Märchenerzählerin durch den Thüringer Wald und seine Ortschaften wanderte. Er war zu jener Zeit Mitglied der Wandervogelbewegung, der KPD und des Spartakusbundes und nicht unbeteiligt an den bewaffneten Auseinandersetzungen. In den 20er Jahren galt er als einer der führenden Vertreter der kommunistischen Literaturbewegung in Deutschland und ist dem Kampf gegen die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse immer treu geblieben. Gemeinsam setzten sie das Wanderleben fort. Die Flucht in die Schweiz 1933 gelang nur knapp dank der intensiven Bemühungen seiner Frau; bereits einen Tag nach dem Reichstagsbrand hatte man ihn als offenen Gegner der Nationalsozialisten verhaftet. Abgesehen von ihrem Interesse an Märchen, arbeitete Lisa Tetzner in leitender Position beim Kinderfunk und veröffentlichte eine Reihe weiterer sozial engagierter Jugendromane. 1948, nach Jahren unsicheren Emigrantenschicksals in der Schweiz, erhielten sie und ihr Mann die Schweizer Staatsbürgerschaft.


Es sei noch darauf hingewiesen, daß der Sauerländer Verlag das Buch "Die schwarzen Brüder" in zwei Versionen - einmal mit Illustrationen des Züricher Grafikers Hannes Binder - neu herausgegeben hat und daß es gleichfalls als Taschenbuch im Carlsen Verlag erschienen ist.

Auch die weiteren Bücher - soweit noch erhältlich - von Kurt Held ("Die rote Zora und ihre Bande", "Giuseppe und Maria") und Lisa Tetzner sind zu empfehlen.


Hörspiel von Heidi Knetsch und Stefan Richwien
Die schwarzen Brüder
Nach dem gleichnamigen Roman von Lisa Tetzner
Regie: Christiane Ohaus
Mit Ulrich Pleitgen, Raiko Küster, Andreas Pietschmann,
Horst Mendroch, Hildegard Krekel u.a.
RB/NDR/BR 2002
Als Hörbuch im Patmos Verlag erschienen
2 CDs, 104 Minuten, 15,90 Euro
ISBN 3-491-24087-5