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REZENSION/027: Barbara Barberon-Zimmermann - Polen hören (SB)


"Polen hören"


von Barbara Barberon-Zimmermann



Über zwanzig Titel präsentiert der Silberfuchs-Verlag in seiner Sachhörbuch-Reihe "Länder hören - Kulturen entdecken", und der interessierte Hörer steht vor der berühmten Qual der Wahl. Kennt man jedoch erst einmal eines dieser Bücher, stellt sich einem längst nicht mehr die Frage nach der Auswahl eines Weiteren, sondern vielmehr nach der Reihenfolge, in der man sie, am liebsten alle gleichzeitig, hören möchte.

Die Ländergeschichte über Polen von Barbara Barberon-Zimmermann ist eine Produktion dieser Serie, und die Einschätzung nach einem ersten 80-minütigen Gesamtdurchlauf ist allerdings denkbar ungünstig für das Vorhaben, eine Rezension zu verfassen: Als hätte man einen Schatz geborgen, den es zu behüten gilt, möchte man Stillschweigen bewahren. Kurzum: "Polen hören" ist ein Geheimtip, "geschrieben in Erinnerung an meinen Vater - in und mit dessen Bibliothek dieses Buch entstanden ist", so die Autorin.

In zwanzig Kapiteln wird dem Hörer die Geschichte Polens von den Ursprüngen bis in die Gegenwart nahegebracht, wobei der Schwerpunkt entsprechend der Philosophie des Silberfuchs-Verlags auf dem kulturellen Bereich liegt und die politischen Ereignisse eher beiläufig behandelt werden:

Durch die Herausgabe von Hörbüchern, die Musik- und Kulturgeschichte(n) spannend und unterhaltsam erzählen, wollen wir unsere Begeisterung für die faszinierenden Kulturen der Welt mit neugierigen Hörerinnen und Hörern jeden Alters teilen. Es gilt, das uralte Geheimnis der Kunst und ihre wunderbare Wirkung auf den Menschen gemeinsam zu entdecken!
(Polen hören/Cover: Zitat der Verlagsleiterinnen Corinna Hesse & Antje Hinz)

Diesem Motto folgend beginnt Barbara Barberon-Zimmermann nicht etwa mit einer Jahreszahl für den ersten historischen Nachweis der Etablierung eines polnischen Staates, sondern so: Am Anfang war eine Legende. Nämlich die des Urvaters Lech, der einst, aus dem Slawenland kommend, ein Land voller Wälder durchquerte, umgeben von einer Stille, die nur vom Schrei der Vögel oder dem Heulen eines Wolfes durchdrungen wurde. Auf einer Lichtung entdeckte Lech den Horst eines Adlers und beschloß, an diesem Ort eine Siedlung zu gründen mit dem Namen Gniezno (= Gnesen), in Anlehnung an das polnische Wort 'gniazdo' für Nest.

Die Legende vom Urvater Lech gilt in der Geschichtswissenschaft als nicht belegbar, die des Adlers sehr wohl: Er erhielt seinen Platz auf dem polnischen Nationalwappen.

Mit diesem Auftakt befindet man sich gewissermaßen mitten im Herzen Polens, dort, wo alles begann. Wer weiß, vielleicht ist gerade die Legende von Lech das Geheimnis des Fortbestands des Polnischen; denn was es nachweisbar nicht gibt, läßt sich auch nicht zerstören.

Seit Urzeiten mußte Polen sich gegen seine Nachbarn zur Wehr setzen. Schon in der ältesten in Latein geschriebenen Chronik Polens des Benediktinermönchs Gallus Anonymus (12. Jhd.) steht geschrieben:

Zwar ist das Land sehr bewaldet, dennoch reich an Gold und Silber, Brot und Fleisch, Fisch und Honig. In dieser Hinsicht verdient es den Vorzug vor anderen, das es, obwohl umgeben von so vielen christlichen und heidnischen Völkern, die es oft alle auf einmal oder einzeln überfallen, doch niemals durch niemanden in Gänze unterjocht wurde.
(Polen hören/Kapitel 2)

Und so ging es fortlaufend weiter: Den Einfällen der heidnischen Pruzzen folgte die Bekämpfung des ursprünglich zu Hilfe gerufenen Deutschen Ordens. Es kam zu Auseindandersetzungen mit den ukrainischen Kosaken, mit Rußland im Osten, mit Schweden im Norden und mit Völkern des Osmanischen Reichs im Süden.

Die andauernden Bedrohungen von außen hinterließen auch im Inneren des Landes ihre Spuren. Der zu einer Einheit zusammengewachsene polnisch-litauische Adel, der lange Zeit für Stabilität gesorgt hatte (polnisch-litauische Union 1569-1795), versuchte, die außenpolitischen Verwicklungen zu seinen eigenen Gunsten zu nutzen, was über eine gewisse Strecke auch 'funktionierte', jedoch mit verheerenden Folgen. Tatsächlich nämlich ließen die benachbarten Großmächte Polen immer mehr zum Spielball ihrer Politik werden. Die bis dahin berüchtigte Einigkeit und Wehrhaftigkeit des polnischen Volkes war ins Wanken geraten:

Wie hatte es dazu kommen können, daß ein in jeder Hinsicht so begabtes Volk eine solche intern verlogene und lethargische Seinsform auf sich ziehen konnte. Alle kletterten in einem völligen Durcheinander chaotisch nach oben und dünkten sich in den fiktiven Werten ihrer Herkunft und des Reichtums. Bei uns, vor dem Hintergrund dessen, was solch eine Unzahl von Menschen für irgend etwas Beliebiges geadelt wurde, vor allem für Speichelleckerei und Zukreuzekriechen wurden die Tradition und die Atmosphäre großer Taten, abgesehen von einem reinen Drauflossäbelmut, entwertet.
(Polen hören/Kapitel 7, "Der verfluchte Samarte", Essay von Stanislaw Witkiewicz)

Diese und viele andere Gründe führten schließlich zu den verhängnisvollen Teilungen Polens in den Jahren 1772, 1793 und 1795 unter Beteiligung von Preußen, Rußland und Österreich.

Mein Vaterland. Nun bist du doch gefallen. Einst warst du ruhmreich, trugst den Herrscherstab, dein Adler schlug von Meer zu Meer die Krallen. Heut' fehlt die Handbreit Erde für dein Grab, die Erde, fett vom schönen Blut der Polen erquickt den wilden Reiter und sein Ross, doch Kinder, Ihrem Hunger nur befohlen, legt man der Herren Sprache in den Schoß. Ein hartes Urteil wurde da gesprochen. Die einen feiern. Polen ist zerbrochen.
(Polen hören/Kapitel 8, "Klagelied eines Samarten" von Franciszek Karpinski)

Für 123 Jahre verschwand Polen vollständig von der politischen Landkarte Europas. Fremdherrschaft, Aufstände und härteste Strafmaßnahmen beherrschten das Volk. Und selbst mit der Rückgewinnung der Souveränität nach dem Ersten Weltkrieg kehrte alles andere als Ruhe und Ordnung ein: Unruhen, Grenzkriege, Gebietsaufteilungen, häufig wechselnde Regierungen und die Weltwirtschaftskrise bestimmten das Dasein. Doch es sollte noch schlimmer kommen. Die Bilanz des Zweiten Weltkriegs: Flucht, Vertreibung, sechs Millionen Tote und ein verwüstetes Land.

Es ist kaum zu glauben, aber während all dieser Zeiten wurde das Land "doch niemals durch niemanden in Gänze unterjocht". Mehr als einmal stand das polnische Volk im Laufe seiner Geschichte vor dem Nichts. Und mehr als einmal stellt man sich als Nicht-Pole die Frage: Wie haben die Menschen es dennoch geschafft, jedesmal von neuem wie ein 'Adler aus seinem Nest' daraus hervorzukommen?

Das Hörbuch gibt keine Antworten, es verschafft dem Hörer vielmehr einen Zugang und eine Menge an Ideen zum Verständnis eines Volkes, das zeitlebens mit dem Druck der sie umgebenden Mächte zurechtkommen mußte, zurecht kam, und aus schier aussichtslosen Situationen heraus Wunderbares hervorbrachte. "Oftmals waren künstlerische Ausdrucksformen - ob Musik, Literatur, Malerei oder später Theater und Film - die eigentlichen Träger der nationalen Identität". (aus dem Grußwort zum Hörbuch von Professor Wladyslaw Bartoszewski)

Es kommen viele Namen darin vor, die einem bekannt und vertraut sind, und gewiß auch viele, die man bis dahin noch nicht kannte. Man erfährt zum Beispiel

- von einem gevierteilten König, der sich auf wundersame Weise wieder zusammensetzte;

- vom altiranischen Steppenvolk der Samarten, die der polnische Adel als seine Vorväter ausmachte, wobei man es historisch nicht so genau nahm. Man schwelgte in sentimentalen Erinnerungen an vermeintliche Ruhmestaten und feierte sich als große Helden;

- von einem in Litauen geborenen Dichter, dessen Nationalepos, der Befreiung Polens gewidmet, durchsetzt ist mit litauischen und auch weißrussischen Sprachelementen, und der nichtdestotrotz als polnischer Nationalheld gefeiert in der Gruft der Könige auf dem Königshügel in Krakau seine letzte Ruhestätte fand;

- von einem Theaterstück mit einem beinahe-finalen Befreiungsschlag, das in einer Gespenstervorstellung endet;

- von einem Klavier, das aus dem Fenster geworfen... und dann zu einem Gedicht wurde;

- von einem toleranten Polen als 'Land ohne Scheiterhaufen'. Religionsverfolgte fanden seinerzeit Aufnahme nach dem Motto eines polnischen Königs 'Sum rex populorum sed non conscientiarum';

- von einer im Exil lebenden Wissenschaftlerin, die einer strahlenden Erfindung zu Ehren Ihrer Heimat den Namen 'Polonium' verlieh;

- vom Wasser der Weichsel, das eine solche Anziehungskraft und einen solchen Zauber auslöst, daß jeder, der ihm einmal erlegen ist, diesen Fluß bis an sein Ende lieben muß;

- von deutschen Dichtern, die begeisterte Lieder über den polnischen Freiheitskampf schrieben - als Solidaritätsbekundung und aufgrund eigener, unerfüllter Wünsche und Hoffnungen;

- von einem Meister der Gedankensplitter, der die Zufallsgemeinschaften der Warschauer Cafés sein Zuhause nannte. Er schrieb seine Notizen in Sudelhefte, auf Schnipsel, Zettelchen, Servietten, auf alles, was ihm unter die Finger kam... und hinterließ Tausende davon, nachzulesen im 'Großen Buch der unfrisierten Gedanken';

- von einem Regisseur, der nicht nur phantastische Filme produzierte, sondern sich auch ebensolche Gedanken machte. Fast könnte man das folgende Zitat von Roman Polanski sinnbildlich übertragen auf die Tradition der polnischen Kultur. Wo sprichwörtlich der Boden unter den Füßen fehlt, kommt etwas Anderes, Neues, Unerwartetes zum Tragen:

Soweit ich zurückdenken kann, ist in meinem Leben die Grenze zwischen Phantasie und Wirklichkeit hoffnungslos verwischt gewesen. Ich habe lange gebraucht um zu erkennen, das gerade dies der Schlüssel zu meinem Dasein ist. Er hat mir mehr als genug Enttäuschung, Konflikte, Leiden und Katastrophen gebracht. Er hat mir aber auch Türen geöffnet, die sonst für immer verschlossen geblieben wären.
(Polen hören/Kapitel 18)

10. Dezember 2013


"Polen hören" - das Hörbuch
Autorin: Barbara Barberon-Zimmermann
Sprecher: Rolf Becker
Grafik: Roswitha Rösch
1 CD, 80 Minuten Spielzeit
Mit zahlreichen Musikbeispielen,
künstlerisch gestaltetem Beiheft,
Zeittafel und farbigen Abbildungen.
Hörbuchreihe "Länder hören - Kulturen entdecken"
Silberfuchs-Verlag 2010
ISBN: 978-3-940665-18-8
Hörproben zum Hörbuch: www.silberfuchs-verlag.de