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BUCHBESPRECHUNG/074: "Revolution oder Evolution. Das Ende des Kapitalismus?" von Tomáš Sedláček / David Graeber (Klaus Ludwig Helf)


Tomáš Sedláček / David Graeber: Revolution oder
Evolution. Das Ende des Kapitalismus?

von Klaus Ludwig Helf, 27. Februar 2015


In dem vorliegenden Band führt Roman Chlupatý mit den beiden renommierten und prononcierten Kapitalismuskritikern David Graeber und Tomáš Sedláček eine Diskussion; Themen sind v.a. die aktuelle Entwicklung des ökonomischen Systems, der Konsumismus in der westlichen Welt und die ungleichen Handelsbeziehungen zwischen armen und reichen Ländern. Tomáš Sedláček war u.a. ökonomischer Berater des tschechischen Präsidenten Václav Havel und des Finanzministers der Tschechischen Republik, Chefvolkswirt bei der Tschechoslowakischen Handelsbank AG, ist Professor an der Karls-Universität Prag für Wirtschaftsgeschichte und -philosophie und arbeitet als Kolumnist. David Rolfe Graeber ist US-amerikanischer Ethnologe und Anarchist; er lehrt an der London School of Economics and Political Science; aus der Perspektive des Ethnologen kritisiert er die Fundamente des ökonomisch-gesellschaftlichen Systems, das den Menschen zu sinnentleerter Beschäftigung zwinge.

Graeber beschäftigt sich intensiv mit der Kunstfigur des homo oeconomicus in den Wirtschaftswissenschaften und in der Verhaltensforschung; er ist politischer Aktivist und einer der Initiatoren der Occupy-Wall-Street-Bewegung. Der Journalist Roman Chlupatý moderiert das Gespräch in sieben Kapiteln zu den Themen Markt, Systemkrise und Systemveränderung, Chaos und Occupy-Bewegung. Der Ökonom Tomáš Sedláček ("Die Ökonomie von Gut und Böse") und der Ethnologe David Graeber ("Schulden: Die ersten 5000 Jahre") kommen zu jeweils unterschiedlichen Einschätzungen darüber, ob die Marktwirtschaft die richtige Lösung für die Probleme unserer Zeit bietet. Bei dem Gespräch geht es vor allem darum, sich von der Ideologie zu verabschieden, dass der Markt ein neutrales, quasi naturgesetzliches Gebilde sei.

Tomáš Sedláček sieht als selbsternannter Reformkapitalist durchaus demokratische Chancen im Kapitalismus, der das beste existierende Wirtschaftssystem sei; dieser müsse aber von Grund auf reformiert werden. Sedláček verweist auf die "große Nähe" zwischen Volkswirtschaft und Religion oder dem irrationalen Mythos, so z.B. das Maximierungstheorem oder die "unsichtbare Hand": "Die unsichtbare Hand des Marktes, die vollkommene Rationalität - die haben wir im echten Leben noch nie kennen gelernt. Wir sind noch nie einem homo oeconomicus begegnet, aber jeder von uns ist einer" (S.63). Der Occupy-Aktivist Graeber meint: "Man kann das politische System nicht als Wächter des Wirtschaftssystems betrachten und schon gar nicht als eine Art neutrales Feld ... Sich am politischen System zu beteiligen und zu versuchen, es zu verändern, wäre ... unsinnig ... Der einzig gangbare Weg besteht ... darin, eine Art radikale Gegenposition zu beziehen, und genau das haben wir getan" (S. 32/33).

Aber worin diese Gegenpositionen konkret bestehen und wie diese politisch umgesetzt werden sollen, wird leider im Laufe der Disputation bei keinem der beiden Kritiker klar. Auf die berechtigte Nachfrage, was Occupy an konkreten Lösungen zu bieten habe, antwortet Graeber ausweichend: "Wir bieten Visionen. Was wir nicht anzubieten haben, sind politische Vorschläge. Diese können nur in den institutionalisierten Strukturen realisiert werden, zu denen wir eine Alternative zu entwickeln versuchen" (S. 115). Diese Unentschiedenheit der beiden Disputanten ist umso bedauerlicher, als diese in der Analyse der wirtschaftlichen und sozialen Situation durchaus hellsichtige Ergebnisse herausarbeiten.

Der Diskussions-Band ist insgesamt sehr lesenswert und informativ und bringt politische und ökonomische Zusammenhänge aus unterschiedlichen Perspektiven auf den Punkt. Die Reflexionen haben ein beachtliches Niveau und regen zu kreativen Lösungen an, vor allem wird deutlich, dass es Zeit wird, sich von der Illusion zu verabschieden, der Markt sei ein neutrales, quasi naturgesetzliches oder gar religiöses Gebilde fernab menschlicher Einflüsse und Interessen, vielmehr dass Wirtschaft und Wissenschaften wieder ethische Werte und ein bewusstes Eingreifen brauchen. Der Band zeigt auch deutlich, warum die Occupy-Bewegung politisch gescheitert ist.

Tomáš Sedláček / David Graeber
Revolution oder Evolution. Das Ende des Kapitalismus?
Gespräch mit Roman Chlupatý
Carl Hanser-Verlag, München 2014
gebunden
144 Seiten
15,90 Euro

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Quelle:
© 2015 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. September 2015

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