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BUCHBESPRECHUNG/086: "Lärm und Wälder" von Juan S. Guse (Roman) (Klaus Ludwig Helf)


Juan S. Guse
"Lärm und Wälder"

von Klaus Ludwig Helf, November 2015


Juan S. Guse (*1989) ist ein Autor mit deutsch-argentinischen Wurzeln; er studiert Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaften an der Universität Hannover. Im Jahr 2012 gewann er den 1. Preis beim Berliner Literaturwettbewerb für seine Erzählung «Pelusa«, ein Auszug aus seinem jetzt vorliegenden Debütroman. Diesem ist ein Motto vorangestellt von Louis-Ferdinand Céline «Man fürchtet sich nie genug«, das als roter Leitfaden den ganzen Roman bedrohlich und bedrohend durchzieht.

Schauplatz ist die «Gated Community« Nordelta, ein exklusives, scharf bewachtes und kontrolliertes Reichenghetto an der nördlichen Peripherie von Buenos Aires, das auch in der Realität seit 1999 existiert, aber wenig mit dem fiktiven Ort gemein hat. Neue Bewohner-Interessenten sollen im Werbe-Prospekt der Community-Betreiber mit dem folgenden Angebot gelockt werden: "Genieße jeden Tag an einem Ort, umrandet von Grünflächen, in dem die Bequemlichkeiten der Großstadt mit der Intimität und Sicherheit eines Dorfes vereint werden" (S. 73). Seit zehn Jahren lebt hier auch Hector mit seiner Frau Pelusa, seinem Stiefsohn Henny und seinem Sohn Ignacio. Hector hatte seine Eigentumswohnung im siebzehnten Stock eines Hochhauses der Großstadt verkauft und zog mit Pelusa und Henny nach Nordelta, was sie rückblickend schon "Hunderte Male beim Abendessen" als die "beste Entscheidung ihres Lebens" (S. 74) bezeichneten. Diese Aussage ist umso erstaunlicher, als wir die gesamte Familie und auch ihr soziales Umfeld in einem permanenten Zustand der Paranoia, Hysterie, der sozialen Kälte und Leere, der Kontrolle und Bedrohung und des Einmauerns und Abschottens nach außen erleben müssen; diese eisige Atmosphäre, die Angst vor Gewalt und Zerfall zerfrisst die Menschen und zerfleddert die Gemeinschaft. So fürchtet sich Hector nachts vor Einbrechern und wilden Tieren trotz der allumfassenden und ständig erweiterten zentralen Bewachung.

Aufgeschreckt von einem Feueralarm in seinem Hochhausbüro in der Stadt gerät er in rasende Panik, fast in Selbsthass, als er feststellt, dass er seinen Überlebens-Rucksack, seinen Leatherman und seine Waffe im Auto hat liegen lassen: "Hectors Körper versteinert. Der Lärm der Sirenen umschlingt ihn wie ein Würgegriff. Dann ist er hellwach, klar und bereit? Vielleicht kommt es doch schneller als erwartet, der große Aufstand, die Eskalation der Gewalt? Würde er überleben, wenn er das Gebäude jetzt unbewaffnet verließe?" (S. 19). Er macht sich schwarze Gedanken über sein Überleben und das seiner Familie, muss aber schließlich doch über sich und seine chaplinesk aufgeregte Hilflosigkeit lachen. Der Feueralarm habe ihn doch zur Einsicht gebracht, wie unvorbereitet er eigentlich sei und wie oberflächlich seine Alarmbereitschaft: "Es kann einen jeden Moment treffen und wenn man nicht seine Automatismen draufhat, und nicht die Ruhe behält, wird man keinen einzigen Tag überleben" (S. 22). Als Hector wieder beruhigt und entschlossen aus dem Fenster hinausschaut, erschrickt er und spürt die Gefahren einer sich anbahnenden Katastrophe:

"Und wenn er dann auch noch in die eingestürzten Gesichter der Passanten blickt, denen der Schweiß am ganzen Körper runterläuft, deren Kleidung schon ganz klamm ist und deren Haut abstoßend talgig, wenn er beobachtet, wie sie zusammengedrängt in den Supermärkten der Chinesen Schlange stehen, in den Konditoreien ihre Körbe mit Gebäck füllen oder sich um den Zeitungskiosk an der Ecke sammeln, dann sehen sie alle so aus, als hätten sie eine dreiwöchige Schiffsfahrt in den Tropen, voller Fieber und Infektionen, hinter sich. Und wenn er dann auch noch die in der Luft liegende Spannung spürt, dann weiß Hector ohne jeden Zweifel, dass etwas Katastrophales aufzieht, von unterhalb der Realität." (S. 22/23)  

Die einst von Hector und Pelusa ersehnte Geborgenheit und Sicherheit finden sie auch hier in Nordelta nicht:

"Nachts verändert sich Nordelta, die Stimmung und das Wetter. Die Menschen werden leise und lassen ihre Fernseher bei voller Lautstärke zum Einschlafen laufen, um den Krach vor ihren Türen nicht zu hören. Denn wenn die Bewohner in ihre Häuser verschwinden, wird das feuchte und wilde Land hochgespült, heraufbeschworen wie eine Schlange. Obwohl die Fenster geschlossen sind, dringen die Geräusche in alle Häuser". (S. 45)  

Nachts kommen die Erdkröten aus ihren Löchern, riesige Schwarz-Enten landen auf künstlichen Seen, Ungeziefer zerfrisst die Gartenmöbel, Rost nagt an den Sockeln der Häuser, tausende von Hunden hocken im Gestrüpp, in den Ästen der Bäume, auf den Dächern und auf den Stromleitungen, Hühner torkeln umher, die aussehen wie augenlose Kadaver - ein unheimlicher, surrealer Ort; die Zivilisation scheint zu bröckeln.

Hector und sein Freund Alvaro begeistern sich für das «Preppen«, für die Vorbereitung auf ein Leben nach der Zivilisation. Die Verwaltung der Community lehnt zwar einen Club für Prepper in Nordelta ab, doch eine kleine Truppe von Freunden veranstaltet regelmäßig Treffen in Alvaros Haus, um über politische Entwicklungen, die neuesten Trends der Szene sowie die effektivsten Methoden zur Einlagerung von Lebensmitteln oder Möglichkeiten der Selbstverteidigung zu sprechen. Im Gegensatz zu vielen Preppern aus ihrem Umfeld und in den internationalen Netzwerken glauben sie nicht, dass Epidemien oder eine Naturkatastrophe das Ende der Zivilisation auslösen werden, sondern ein ökonomischer Kollaps, der zum Zusammenbruch der öffentlichen Versorgung, Sicherheit und Infrastruktur und zu einem Ende des Lebens führen werde: "Die Zeichen dafür seien überall. Das Zeitalter, in dem die Intelligenz die treibende Kraft der Menschheit gewesen ist, würde enden und eine neue Zeit beginnen, in der nur körperlich vorbereitete Menschen mit den nötigen Instinkten überlebten, in der alle Büro- und Wissenschaftsidioten erfrieren, verhungern oder von Raidern ausgenommen werden würden. Daran glauben sie, jeden Tag." (S. 76/77) Schließlich zieht Alvaro mit seinem gesamten Familien-Clan in sein Bug-Out-Haus; die Leute in Nordelta hätten eine Scheißangst, sagt er, aber noch mehr davor, alles hier hinter sich zu lassen und rät deshalb seinem Freund Hector:

"Entweder du verlässt mit deiner Familie Nordelta oder du verbarrikadierst dich in deinem Haus. Bloß einfach so weitermachen, als fliege uns nicht gerade die Scheiße um die Ohren, das darfst du nicht ... Jetzt beginnt unsere Zeit. Wir zwei gehören nicht mehr zu den tragischen Helden, die nachträglich erfahren, dass sie selbst ihr Schicksal bereitet haben. Wir beide wissen es schon vorher. Wir müssen alles selber machen. Es kommt darauf an, das Hoffen zu verlernen." (S. 261)  

Von überall scheint Gefahr zu drohen, von außen, von innen - sie wird nicht konkret benannt, ist aber ständig präsent; die Natur ist bizarr verformt, ebenso die Menschen. Juan Guse portraitiert eine Welt, in der sich Realität und Fantasie verschlingen und verknoten zu einer Paranoia, zu einem alles verschlingenden Wahn. Das Unheimliche - real oder imaginär - scheint durch alle Ritzen und Poren zu kriechen - niemals strahlt die Sonne; ein magischer Realismus vermischt die Grenzen zwischen Realität und Phantasie. Alle in Nordelta bereiten sich auf das Ende der Zivilisation vor; jeder auf seine Art. Nach Alvaros Auszug baut Hector den Swimmingpool hinter seinem Haus in einen Schutz-Bunker um - eine beklemmende und doch auch urkomische Situation, wie er Pelusa beim hektischen Bohren und Hämmern seinen Bau-Plan erklärt und wie er mit seinem Stiefsohn Henny beim Umräumen der Not-Konserven rumschreit. Henny zieht nachts trotz seiner Hand- und Augenprothese mit einem Luftgewehr durch die Siedlung und schießt auf Karnickel; in seinem Labor quält und seziert er Tiere als naturwissenschaftliche Experimente für sein Weltraumprojekt:

"Die Erwachsenen, die Nachbarn, Hector und alle anderen, selbst seine Mutter, haben den Verstand verloren, die Kontrolle über ihren Geist. Man muss sich doch nur diesen Ort hier ansehen. Es liegt an ihm, er allein kann seine Familie in ein besseres Leben hineinführen ... Er muss dieses Raumschiff bauen." (S. 295)  

Pelusa vergräbt sich in eine Welt der frommen Heilsbücher und Erbauungs-Filme und unterstützt eifrig ihre Schwester bei der Gründung einer freichristlichen Gemeinde in Nordelta, um das Seelenheil vor und nach der zu erwartenden Katastrophe zu retten. Neben den surrealen, bedrückenden, exzentrischen und bizarren Eindrücken gibt es auch urkomische Dialog-Situationen zwischen Hector und Pelusa und zwischen den Gesprächs-Partnern in der «Servicehotline Nordelta« , die das neurotische Innenleben der Bewohner von Nordelta entblößen: gegenseitige Beschuldigungen des Diebstahls, Entführung von Haustieren, Lärmbelästigungen bei Nacht, Gras in der Garage, ein Mann verwechselt sein Haus mit einem anderen und legt sich versehentlich bei einer fremden Frau an den Pool.

Die Konstruktion des Romans ist verzwickt und schwer zu durchschauen, da ein ständiger Perspekitvenwechsel erfolgt, zwei parallel laufende Handlungsstränge miteinander verwoben sind und das Vexierspiel von Realem und Fantastischem kaum zu unterscheiden ist - ein Spannungsbogen lässt sich da kaum aufbauen. Die sprachliche Komposition mäandert zwischen glasklarer, nüchterner und karger Prosa, dialogischer Witzigkeit und Schlagfertigkeit und poesievoller Verspieltheit. Man muss sich Zeit lassen, um den Roman zu bewältigen - aber es lohnt sich.

Juan S. Guse
Lärm und Wälder
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015
317 Seiten
19,99 Euro

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Quelle:
© 2015 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. November 2015

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