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BUCHBESPRECHUNG/105: Ein Krimi der Mathematik (Sachbuch) (Spektrum der Wissenschaft)


Spektrum der Wissenschaft 5/16 - Mai 2016

Wissenschaftsgeschichte
Ein Krimi der Mathematik

Rezension von Heinz Klaus Strick


Erbittert fochten Gottfried Wilhelm Leibniz und Isaac Newton darum, wer die Differenzial- und Integralrechnung entdeckt habe. Eine Debatte, die bis ins 19. Jahrhundert ausstrahlte.


Der neueste Band der Springer-Buchreihe »Vom Zählstein zum Computer« sei allen empfohlen, die sich allgemein für die Geschichte der Wissenschaften und speziell für die der Mathematik interessieren, und wird dem umfassenden Anspruch seines Untertitels »Geschichte - Kulturen - Menschen« in jeder Hinsicht gerecht. Dem Autor Thomas Sonar, Professor für Technomathematik an der TU Braunschweig, ist ein wunderbares, sehr gut lesbares Buch gelungen. Schon äußerlich besticht es mit seiner ansprechenden Gestaltung, vor allem mit seiner unglaublichen Fülle an meist farbigen Bildern. Dazu gehören Porträts, Dokumente, Briefmarken mit den Konterfeis von Wissenschaftlern und anderes.

Sonar hat bereits in seinem vorangegangenen Werk »3000 Jahre Analysis« bewiesen, dass er die Geschichte des Prioritätsstreits kenntnisreich und ausgewogen beschreiben kann. Mehr als 70 Seiten hatte er damals den Kontrahenten Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) und Isaac Newton (1643-1727) sowie ihrer Auseinandersetzung gewidmet. Nicht nur deshalb ist die Angabe des Verlags, das vorliegende Buch stelle »... erstmalig die Geschichte des berühmten Prioritätsstreits [...] um die Entdeckung der Differenzial- und Integralrechnung ...« dar, irreführend. Sonar selbst nennt allein im Vorwort drei lesenswerte Publikationen, die in den zurückliegenden Jahrzehnten zu diesem Thema erschienen sind.

Zweifellos aber ist das neue Werk als außergewöhnlich zu bezeichnen. Es handelt sich um ein spannendes und souverän geschriebenes Buch mit elf Kapiteln nebst Epilog und Nachwort.

Zunächst führt der Autor in die wesentlichen mathematischen Grundlagen ein. Knapp erläutert er dabei den entscheidenden, revolutionären Schritt von der Idee der »Indivisiblen« (Unteilbaren) zu jener der »Infinitesimalen« (beliebig Kleinen). Er lässt Newton zu Wort kommen mit dessen berühmtem Spruch »Wenn ich weiter sehen konnte, so deshalb, weil ich auf den Schultern von Riesen stand«, und belegt diesen, indem er die politische Lage Englands im 17. Jahrhundert umreißt und wichtige Vorgänger Newtons porträtiert: die Mathematiker John Wallis etwa (1616-1703) und Isaac Barrow (1630-1677). Sodann beschreibt Sonar ausführlich die zeitgenössischen politisch-kulturellen Entwicklungen in Frankreich und den Niederlanden und widmet sich den »Riesen« Blaise Pascal (1623-1662) und Christiaan Huygens (1629-1695).

Zunächst pflegten Leibniz und Newton noch freundliche Korrespondenz miteinander, wurden dann aber in einen Streit hineingerissen, der sogar nach ihrem Tod weiterging

Nach diesen einleitenden Kapiteln schreitet der Autor zu den eigentlichen Protagonisten fort. Wir erfahren, wie Newton in seinen »Wunderjahren« 1664 bis 1666 die Theorien zur Fluxionenrechnung und zum Licht entwickelte und wie zeitgleich der Jurist und Diplomat Leibniz zur Mathematik fand. Zunächst pflegten die beiden noch freundliche Korrespondenz miteinander, wurden dann aber durch andere in einen Streit um die Entdeckung der Differenzial- und Integralrechnung hineingerissen, den sie mit außergewöhnlicher Härte ausfochten. Dass dieser »Krieg« sogar nach ihrem Tod weiterging und bis ins 19. Jahrhundert hinein die Entwicklung der Wissenschaften prägte, legt Sonar ebenso detailliert wie kenntnisreich dar.

Im Epilog schildert der Autor, wie sich seine eigene Meinung über die beiden Kontrahenten im Lauf seiner Recherchen zum Buch verändert hat, und appelliert an die Forschenden von heute, ohne Geheimniskrämerei, Vorurteile und Eifersüchteleien für den Fortschritt der Wissenschaften zu sorgen.

Das Buch präsentiert sich sehr leserfreundlich. Selbst wenn man die Lektüre länger unterbrechen muss, findet man schnell wieder hinein - mit Hilfe zeitlicher Übersichten und zusammenfassender Abschnitte am Ende der einzelnen Kapitel. Sonar belegt seine Darstellungen mit umfangreichen Zitaten in den Originalsprachen und deren akribischer Übertragung ins Deutsche. Freude bereiten auch die letzten 50 Seiten mit hilfreichen Literaturhinweisen, einem ausgezeichneten Abbildungsverzeichnis sowie einem ausführlichen Personen- und Sachregister.


Rezensent Heinz Klaus Strick ist Mathematiker und ehemaliger Leiter des Landrat-Lucas-Gymnasiums in Leverkusen-Opladen.


Thomas Sonar
Die Geschichte des Prioritätsstreits zwischen Leibniz und Newton
Geschichte - Kulturen - Menschen

Springer Spektrum,
Berlin und Heidelberg 2016
596 S., € 49,99


Der Artikel ist als PDF-Datei mit Abbildungen abrufbar unter:
http://www.spektrum.de/pdf/88-94-sdw-05-2016-pdf/1407677


© 2016 Heinz Klaus Strick, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg

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Quelle:
Spektrum der Wissenschaft 5/16 - Mai 2016, Seite 91
URL: http://www.spektrum.de/pdf/88-94-sdw-05-2016-pdf/1407677
Herausgeber: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Mai 2016

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