Schattenblick → INFOPOOL → BUCH → MEINUNGEN


BUCHBESPRECHUNG/187: Bahrke, Haubl, Plänkers (Hg.) - Utopisches Denken ... (Sachbuch) (Klaus Ludwig Helf)


Ulrich Bahrke, Rolf Haubl, Tomas Plänkers (Hg.)

Utopisches Denken - Destruktivität - Demokratiefähigkeit
100 Jahre Russische Oktoberrevolution

Von Klaus Ludwig Helf, Februar 2020


Seit der Antike wurde utopisches, visionäres Denken schon oft totgesagt, aber die Nachrufe waren jedes Mal verfrüht. Solange es Menschen gibt, werden sie sich eine Gesellschaft ohne Ungerechtigkeit, Gewalt, Druck, Arbeitszwang und Zerstörung der Natur wünschen. Sie werden sich wegen der Schere zwischen dem Wirklichen ihres Alltags und dem Möglichen ihrer Träume empören, werden sich Utopien als Visionen und Sehnsuchtsorte eines gelingenden Lebens ausmalen. So gehört bis heute trotz überwiegend negativer oder zumindest ambivalenter Beurteilung die "Russische Oktoberrevolution von 1917" zweifellos zu den welthistorischen Mega-Ereignissen. Sie hat zu den umwälzensten Transformationen der Moderne Anstöße gegeben und zu grundlegenden sozialen und politischen Veränderungen geführt. Ob sie eine gescheiterte Utopie einer kommunistischen Gesellschaft oder nur eine totalisierte Form einer repressiven Herrschaft war, muss sicher gründlich analysiert werden, vor allem die Spätfolgen und was man aus der Geschichte lernen kann und muss. Ein wichtiger Beitrag zu dieser Aufarbeitung insbesondere aus psychoanalytischer und psychosozialer Perspektive liegt jetzt im Psychosozial-Verlag vor.

Aus Anlass des 100. Jahrestages der Russischen Oktoberrevolution veranstaltete das Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt am Main vom 3. bis 4. November 2017 eine Tagung zum Thema "Utopisches Denken - Destruktivität - Demokratiefähigkeit". Die Vorträge der Veranstaltung kann man im vorliegenden Band studieren. Nach einem einführenden Essay des Mit-Herausgebers Ulrich Bahrke folgen zehn Beiträge mit Literaturangaben, dann die Kurzbiografien der Herausgeber und der Autorinnen und Autoren: Angelika Ebrecht-Laermann, Dietrich Erben, Harald Freyberger, Gerd Koenen, Tomas Plänkers, Sabine Richebächer, Karolina Solojed, Johano Strasser, Ina Verstl und Heinz Weiß.

Obwohl der Sieg der Bolschewiki sich bald in eine brutale Gewaltherrschaft transformierte, hatte die mit ihr - zumindest in der Theorie - verbundene kommunistische Utopie einer klassenlosen, gerechten und ausbeutungsfreien Gesellschaft über Jahrzehnte hinweg weltweit eine faszinierende Attraktion. Millionen von Menschen folgten ihr begeistert oder opferten ihr sogar ihr Leben. Darunter auch Psychoanalytiker, obwohl Freud selbst das "russische Experiment" ähnlich wie die christliche Nächsten- und Feindesliebe skeptisch bis ablehnend beurteilt hat als eine der "haltlosen Illusionen" der Menschheit, da die psychologischen Voraussetzungen völlig fehlten und die Potenzen menschlicher Aggression und Destruktivität verleugnet würden.

Im Rückblick auf die Oktoberrevolution und ihre Folgen behandelte die Tagung die folgenden Fragen, die auch wegen der Verführungskraft politischer Erlösungslehren hochaktuell sind: Warum ist utopisches Denken für Menschen attraktiv? Muss sich dieses zwangsläufig totalitär entwickeln? Warum ordneten sich auch viele Intellektuelle den Strategien einer kommunistischen Partei unter? 'Frisst jede Revolution ihre Kinder'? Was folgt auf den Bruch mit der Illusion einer verheißungsvollen Utopie? Welches sind die psychischen Voraussetzungen für eine demokratisch verfasste utopische Zielvorstellung? Wie kann utopisches Denken jenseits totalitärer Zwangsverfassung avantgardistisch und freiheitlich entwickelt werden? Das Gedenken an die Opfer der grausamen Bilanz von Millionen Toten und Traumatisierten in vielen Teilen der Welt soll weiterhin wachgehalten werden, ebenso die Trauer um die verlorene und verratene Utopie.

In den Beiträgen geht es unter anderem um die Psychoanalyse im Sowjetischen Russland, die psychischen Spätfolgen der Russischen Oktoberrevolution und der Chinesischen Kulturrevolution und um die traumatischen Folgen politischer Repression in der DDR. Der Artikel von Ina Verstl beschäftigt sich literaturpsychologisch mit den "Lebenslinien des linken Antikommunisten" George Orwell. Johano Strasser analysiert die destruktiven und konstruktiven Aspekte von Utopien aus historischer, philosophischer und sozialwissenschaftlicher Perspektive.

Karolina Solojed kommt in ihrem Beitrag zu erschreckenden Ergebnissen für die Perspektiven einer demokratischen Zukunft der aktuellen "gelenkten Demokratie" in Russland. Die Aufarbeitung der stalinistischen und auch der post-stalinistischen Gewalttaten und Repressalien sei fast unmöglich, da es sowohl bei den Eliten als auch in der Bevölkerung an der Motivation dazu fehle. Das Schweigen der Täter in Russland ginge bislang immer mit dem Schweigen der Opfer einher. Es sei mehreren Generation unbekannt gewesen, dass die ehemaligen Verhafteten nach der Freilassung die Schweigepflicht unterschrieben hätten: "Je mehr diese Zeit in die Ferne rückt, desto mehr verliert Stalin an Schrecken. Es ist sogar umgekehrt. Laut einer aktuellen Umfrage des soziologischen Lewada-Zentrums (2017) geben 46 Prozent der Russen an, Stalin mit "Begeisterung", "Respekt" oder "Sympathie" zu begegnen" (S. 62). Neuere empirische Untersuchungen über die Vorstellungen junger Menschen in Russland über die Vergangenheit würden belegen, dass sie diese häufig verkennen beziehungsweise idealisieren würden:

"Sie haben aber kein utopisches Zukunftsbild und betrachten ihre eigene Zukunftsperspektiven eher als unklar, was einen großen Unterschied im Vergleich mit den sowjetischen Menschen zeigt." (S. 61/62) 

Im Anschluss an Hanna Segal versucht Heinz Weiß das pathologische Moment der sowjetischen Herrschaft zu identifizieren. Die Hoffnung auf Veränderung sei umgekippt und transformiert worden in die "omnipotente Phantasie einer sich realisierenden Utopie":

"Anstelle der Anerkennung der Wirklichkeit tritt eine zeitlose, idealisierte Welt, die zwar vor Angst, Verfolgung und Depression bis zu einem gewissen Grad Schutz gewährt, Entwicklung und Veränderung aber dauerhaft blockiert." (S. 73) 

Die Ideologie biete ein geschlossenes, pathologisches Überzeugungssystem, um diesen "seelischen Rückzugsort" gegenüber inneren Widersprüchen und der Außenwelt abzudichten. Jewgeni Samjatin habe bereits 1926 in seinem Roman Wir den dystopischen Ausgang des russischen Experiments vorweggenommen. Auch wir sollten uns heute fragen - so Heiz Weiß -, ob wir im Zeitalter von globaler digitaler Revolution, Perfektion, permanentem Wachstum und permanenter Beschleunigung

"... nicht manchmal in einem Zustand angekommen sind, der sich als realisierte Utopie ausgibt, dessen dystopische Folgen wir in Form von virtuellen Ersatzwelten, Identitätskrisen, globaler Ungleichverteilung, Fluchtbewegungen und Klimawandel aber bereits auf uns zukommen sehen." (S. 79) 

In ihrer biographischen Skizze über George Orwell weist Ina Verstl nach, dass dieser trotz vieler Meinungsänderungen zeitlebens immer ein "Feind des Kapitalismus" und Anhänger eines demokratischen Sozialismus geblieben sei, auch wenn er sich schon früh in seinem politischen Leben zu einem entschiedenen Gegner des "realen Kommunismus" entwickelt habe. Sie exemplifiziert das an seinen erfolgreichen und bekannten Romanen Neunzehnhundertvierundachtzig und Animal Farm. Beide würden nach wie vor bewusst verfälschend für anti-sozialistische und anti-utopistische Propaganda instrumentalisiert werden:

"Animal Farm kritisiert nicht die Ideale der Revolution oder des Sozialismus, sondern die Art und Weise, wie sie usurpiert und missbraucht wurden." (S. 175) 

Neunzehnhundertvierundachtzig sei "eindeutig eine Dystopie mit satirischen Elementen", eine humanistische Satire, bei der das terroristische Element einseitig übertrieben und absichtlich verzerrt dargestellt werde, um das Spannungsfeld von Utopie und Dystopie zu verdeutlichen, eine aufrüttelnde Anklage gegen totalitäre Tendenzen und Machtmissbrauch. Im Gegensatz zur Anti-Utopie impliziere die Dystopie das Moment der Hoffnung - diese sei im Roman aufgezeigt, der im Haupttext als auch im Nachtrag in der Vergangenheitsform geschrieben sei: Die Welt von 1984 ist vorbei und überwunden. George Orwell habe an die Utopie und an die Revolution geglaubt, seiner Meinung nach existierten zwei Typen von Revolutionären:

"Die einen wollen die menschliche Natur ändern, weil sich damit die Probleme der Gesellschaft lösen werden. Die anderen, wie er selbst, wollen die Verhältnisse ändern - die Gesellschaft fairer und demokratischer gestalten." (S. 183) 

In einem Essay über Charles Dickens (1940) habe Orwell geschrieben: "Das zentrale Problem, wie die Macht vor Missbrauch geschützt werden kann, bleibt ungelöst". Orwells Utopie sei vor allem eine ethische Vision und kein parteipolitisches Strategie-Programm. Es orientiere sich an dem Leitbild traditioneller Werte von Kameradschaft, Solidarität, Anständigkeit und Patriotismus. Man solle die Welt nicht perfekt, sondern besser machen u.a. mit Verstaatlichung von Grund und Boden, Bergwerken, Eisenbahnen, Banken und großen Industrien sowie mit einer Beschränkung der Einkommen und einer Reform des Bildungswesens (Orwell 1941).

Johano Strasser argumentiert in seinem Beitrag gegen die "generalisierende Denunzierung der Utopien", wie sie vor allem nach 1989 in Mode gekommen sei. Heute werde weithin akzeptiert - so Strasser - dass das utopische Moment in der Politik stets den Keim des Totalitarismus enthalte. Dies lasse sich weder aus der Geschichte des utopischen Denkens noch vom Begriff der Utopie her schlüssig und eindeutig begründen. Vielmehr mache der Neoliberalismus mit seiner radikalen Ökonomisierung der Lebenswelten und der damit einhergehenden Vermarktung des Humanismus als neue totalitäre Bedrohung es geradezu notwendig, neue geistige Utopien zu entwickeln. Im Laufe der Geschichte sei oftmals im Namen utopischer Verheißungen großes Unheil über die Menschen gebracht worden, es sei aber falsch zu glauben, alles könne von selbst ins Lot kommen, ohne die Träume von einer besseren Welt:

"Und auch heute ist es meiner Meinung nach wieder so, dass die Not der Zeit uns zwingt, alle utopischen Kräfte anzuspannen, um Pfade zu entdecken, die in eine menschenwürdige Zukunft für uns und unsere Kinder führen. (S. 25) 

Aktuell stünden sich zwei gegensätzliche Typen von Utopien gegenüber. Einmal eine neue neoliberale Utopie des globalisierten Kapitalismus mit der grenzenlosen Steigerung des ökonomischen Wachstums, der maßlosen Produktion und Konsumption mit der Folge der Zerstörung der Biosphäre und der Verelendung der "unterentwickelten Massen", der Ökonomisierung aller Lebensbereiche einschließlich des psychischen Raums, verbunden mit einer technokratischen Vision einer wissenschaftlich-technischen-ökonomischen Reproduktion der Lebenszusammenhänge im Anthropozän. Im Gegensatz dazu müsse eine neue sozial-freiheitliche Utopie gegen den globalisierten Kapitalismus mit seiner Wachstums- und Zerstörungsdynamik entwickelt werden. Strasser bietet dazu einige nachdenkenswerte Eckpunkte für die aufgeklärte Utopie einer neuen Freiheit an:

"Wo die Hoffnung stirbt, die Träume von einer besseren Welt verdorren, ist auch die Gegenwart dem Verfall preisgegeben. Nicht nur um einer lichteren Zukunft, sondern vor allem um der Gegenwart willen, können wir auf das 'Prinzip Hoffnung' nicht verzichten." (S. 32) 

Der vorliegende Band gibt ernüchternd klare Einsichten über das Scheitern der Oktoberrevolution, bietet aber auch viele Anregungen für visionäre, freiheitliche Utopien.

Ulrich Bahrke, Rolf Haubl, Tomas Plänkers (Hg.)
Utopisches Denken - Destruktivität - Demokratiefähigkeit
100 Jahre 'Russische Oktoberrevolution'
Psychosozial-Verlag, Gießen 2018
Broschur
215 Seiten mit zahlreichen Abbildungen
30,80 EURO

*

Quelle:
© 2020 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Februar 2020

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang