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BUCHBESPRECHUNG/197: Raul Zelik - Wir Untoten des Kapitals (Sachbuch) (Klaus Ludwig Helf)


Raul Zelik

Wir Untoten des Kapitals.
Über politische Monster und einen grünen Sozialismus.

Von Klaus Ludwig Helf, Dezember 2020


Der Literatur- und Sozialwissenschaftler Raul Zelik nutzt die in Literatur, Kino- und Serien-Filmen und Computerspielen wieder aus den Gräbern entflohene popkulturelle Figur des Zombies als Metapher für seine kritische Diagnose. Der globalisierte Finanz- und Konsum-Kapitalismus mache uns alle zu Zombies, zu politischen Monstern, zu seelen- und willenlos herumgeisternden Untoten. Nur ein "grüner Sozialismus" könne uns noch retten. In der Covid-19-Krise werde die "ganze Absurdität und Zerbrechlichkeit" unseres Wirtschaftssystems deutlich. Während einerseits Billionen Dollars und Euros für die Rettung der Banken und Finanzmärkte zur Verfügung stünden, kollabiere das schlank gesparte Gesundheits- und Bildungssystem: "Fast überall zeugen leergeräumte Regale davon, dass es mit den Selbstheilungskräften des Marktes in Krisenmomenten nicht allzu weit her ist; die Schlangen vor den Waffengeschäften in den USA geben einen Hinweis darauf, was geschieht, wenn jede*r in den Mitmenschen erster Linie Konkurrent*innen sieht" (S. 9). Die Pandemie sei ein Scheideweg, sich für ein "Projekt des Lebens oder für eines der beschleunigten gesellschaftlichen Zerstörung" zu entschließen. Die heutigen Demokratien seien bedroht von einer Renaissance des Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus und der Fremdenfeindlichkeit, von dem Aufstieg von Autokraten, vom Verlust von Zivilcourage und politisch-gesellschaftlichem Interesse und nicht zuletzt vom Fehlen politischer Visionen. Aus ökologischen und sozialen Gründen stießen unsere Produktions- und Lebensweisen an ihre Grenzen. Es sei höchste Zeit, über radikale gesellschaftliche Gegenentwürfe und strategische Transformationen nachzudenken, die über den Kapitalismus, aber auch über den Sozialismus in seinen bisherigen Ausprägungen wie in China, Jugoslawien und in den ehemaligen sowjetkommunistischen Systemen hinausweisen.

Raul Zelik ist Sozialwissenschaftler, Schriftsteller und Übersetzer, publiziert regelmäßig über die sozialen Konflikte in Lateinamerika, lehrte bis 2013 als Professor an der Nationaluniversität Kolumbiens in Medellín, veröffentlichte mehrere Romane und einen Gesprächsband mit Elmar Altvater, produziert regelmäßig Hörfunk-Features und ist seit 2016 Mitglied im Bundesvorstand der Partei Die Linke.

Nach dem Vorwort folgen fünf Kapitel, ein "Epilog 1989" und eine Danksagung. Belege der wichtigsten Quellen sind als Fußnoten aufgeführt; auf eine Literaturliste wird verzichtet. Die Spätmoderne sei eine "eigenartige Epoche". Einerseits seien Selbstbestimmungsdiskurse das "Mantra unserer Gesellschaft", die Leitideologie des Individualismus dulde keine Kritik; andererseits folgten immer mehr Abläufe in unserem Leben einer Logik, auf die wir keinen Einfluss zu haben scheinen und die unseren Interessen diametral widersprächen:

"So wie sich einst die Fabrik den Arbeiter einverleibte, werden nun auch alle anderen Bereiche unseres Lebens vom ökonomischen System kolonisiert. Wir arbeiten nicht mehr, um leben zu können, sondern leben, um die Produktion zu erhöhen. Wir lernen nicht, um die eigene Persönlichkeit zu entfalten, sondern um 'Humankapital' für die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt zu bilden. Im Mittelpunkt unserer Gesellschaft steht nicht das gute Leben, sondern die Wertsteigerung" (S. 23/24).  

Raul Zelik geht der Frage nach, wie ein grüner, sich aus der Gesellschaft heraus entwickelnder Sozialismus aussehen könne. Dieser habe zwar mit den wachstums- und konsumkritischen Bewegungen viele Gemeinsamkeiten und Schnittstellen, stelle aber auch immer die Frage nach der Verschränkung von Naturverhältnissen, Konsummodellen und Lebensweisen mit den akuten Klassen- und Herrschaftsverhältnissen.

Mit Vegetarismus, Veganismus, Flugscham, individueller Selbstfindung und ähnlichen Programmen könne man keine radikale, wachstumskritische und sozial ausgleichende Politik durchsetzen, sondern stärke und modernisiere lediglich den ausbeuterischen Kapitalismus, der uns alle zu willfährigen Zombies mache. Erfolgversprechend dagegen wirke nur ein grüner, demokratisch-egalitärer Sozialismus, der machtstrategisch und prozesshaft durch eine komplementäre Verschränkung von Reform und Revolution, von parlamentarischer, institutioneller Arbeit mit außerparlamentarischen Bewegungen:

"Während der Sozialismus des 20. Jahrhunderts den Effizienzbegriff der kapitalistischen Gesellschaften übernahm und sich damit nur auf bereits verlegten Gleisen bewegen konnte, müsste ein neuer, grüner Sozialismus 'Ökonomie' in erster Linie als Sorge um das Leben, Mensch und Gemeinschaft verstehen" (S. 239).  

Zelik orientiert sich bei seinem Transformations-Konzept vor allem an Karl Marx und Rosa Luxemburg ('Revolutionäre Realpolitik'), Antonio Gramsci und Karl Polany, Ernst Bloch, André Gorz und Elmar Altvater. Und aktuell am 'Neosozialismus', dessen zentrale Ideen in einem Sammelband von Klaus Dörre und Christine Schickert im Jahre 2019 - unter Beteiligung von Zelik - zusammengetragen wurden.

Zelik plädiert für einen Sozialismus, der nicht nur von der Übernahme der politischen und ökonomischen Macht ausgeht, sondern das Gesellschaftliche in den Mittelpunkt rückt. Wirtschaftsdemokratie sei von "zentraler Bedeutung", da die Eigentumsfrage als zentraler Hebel für die Befreiung aus der Fremdbestimmung wirke. Weitere Kernprojekte der emanzipatorischen Transformation sind: Ergänzung der liberalen, repräsentativen Demokratie um rätedemokratische Elemente, "Infrastruktursozialismus" mit Genossenschaften, Allmende und Care-Ökonomie und ein 'linker Green New Deal' - insgesamt ein öko-sozialistisches Projekt, das über Wachstumskritik, 'Wellness-Ökologie' und 'Identitätspolitik' hinausgeht.

Zelik fordert eine Politik mit substanzieller Gleichheit und Gleichwertigkeit aller Menschen durch demokratisches Teilen und Umverteilen, da eine ökologische nicht ohne soziale Nachhaltigkeit zu erreichen sei. Nach einer scharfsinnigen Analyse und Diagnostik der gegenwärtigen Krisen entwickelt Raul Zelik eine umfassende, emanzipatorische Transformationsstrategie als visionäres Programm für eine Ablösung des Kapitalismus durch einen grünen Sozialismus.

Der vorliegende Band ist trotz der "Schwere und Tiefe der Gedanken" und der sozialwissenschaftlichen und philosophischen Argumentationsketten und vieler Exkurse unterhaltsam zu lesen wegen des feuilletonistischen Stils, der klaren und anschaulichen Darstellung und der vielen Illustrationen aus Literatur und Film. Der Autor versteht es, den Kern der linken Theorie- und Strategiedebatten und der positiven und negativen Praxiserfahrungen seit dem 19. Jahrhundert exemplarisch herauszufiltern, quellenmäßig zu belegen und auch die Erfahrungen aus Lateinamerika und den USA einzubinden. Raul Zelik hat ein anregendes und produktives Programm für ein neo-sozialistisches, ökologisches Projekt geschrieben, das zum Nachdenken, Streiten und Handeln geradezu herausfordert. Er hat den Wiedergänger Sozialismus erfrischend und überzeugend zum Leben erweckt.

Raul Zelik
Wir Untoten des Kapitals. Über politische Monster und einen grünen Sozialismus
Suhrkamp Verlag Berlin 2020
Taschenbuch, 328 Seiten, 18,00 EUR

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Quelle:
© 2020 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Dezember 2020

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