Schattenblick → INFOPOOL → BUCH → MEINUNGEN


BUCHBESPRECHUNG/254: Michael Andrick - Im Moralgefängnis. Spaltung verstehen und überwinden (Klaus Ludwig Helf)


Michael Andrick

Im Moralgefängnis
Spaltung verstehen und überwinden

von Klaus Ludwig Helf, April 2024


Seit den Debatten um die 'Willkommenskultur' von Angela Merkel in den Jahren 2015/16 und beschleunigt während der Corona-Pandemie kann man in Deutschland feststellen, dass sich die Diskussionskultur und der Umgang miteinander dramatisch verändert. Das soziale Klima wird zunehmend rauer, ausgrenzender und aggressiver, wie man auf allen Kommunikations-Kanälen bei den aktuellen Themen wie Ukraine-Krieg, Flüchtlinge, Klima, Gender, Cancel Culture oder Bürgergeld verfolgen kann.

Wir befinden uns offenbar in einer ständigen, moralisch aufgeladenen Erregungs-, Empörungs- und Eskalationsspirale, in einer Polarisierungsdynamik, die sich nicht nur auf die Interaktionen in den 'sozialen Medien' beschränkt, sondern auch im Alltag manifest ist. Sachbezogene, faire und abwägende Diskussionen finden kaum noch statt, vom Mainstream abweichende Meinungen und Haltungen werden, ohne zu hinterfragen als moralisch minderwertig abqualifiziert und in die 'Tonne getreten'. Moralisch aufgeladene Schmähbegriffe wie 'Corona-Verharmloser', 'Impf-Nazi', 'Verschwörungstheoretiker', 'Alters-Rassist', 'Lumpen-Pazifist' oder 'Putin-Versteher' finden wir mittlerweile auch in den selbsternannten Leit- und Qualitätsmedien. Diese tragen wenig zu einer differenzierenden Debatte bei, indem sie sie sich oft unkritisch auf regierungsnahe Positionen zurückziehen und sich auf normierende Meldungen und Sprachregelungen festlegen.

Im vorliegenden Band analysiert der Philosoph Michael Andrick die offensichtlichen Spaltungstendenzen in unserer Gesellschaft und deren Auswirkungen, wie es dazu kam und wie wir diese Entwicklung umkehren können. Die private und öffentliche Diskussion - so Andrick - sei derart verformt, dass ein "... zwangloser Austausch unterschiedlicher Ansichten zur selben Sache fast unmöglich wird und eine Atmosphäre von Angst und Misstrauen dominiert. Wir sitzen dann in einer selbsterbauten Zwingburg, die ich das Moralgefängnis nenne - auch deshalb, weil wohl jeder am liebsten aus dieser unangenehmen Lage ausbrechen würde" (S. 12). Geistige Offenheit und Toleranz kämen in unserer Gesellschaft zunehmend abhanden, die Diskussionskultur sei vergiftet, moralische Verurteilungen träten an die Stelle der Verständigung über das Gemeinwohl.

Michael Andrick ist Philosoph, Manager, Kolumnist (u.a. Berliner Zeitung, Welt, Freitag, DLF-Kultur, Cicero) und Publizist. Sein Band Erfolgsleere - Philosophie für die Arbeitswelt (2020) analysiert das Leben und Funktionieren in der Industriegesellschaft.

Nach einer Einleitung folgen in dem Band sechs Kapitel: Gemeinsam durch die Angst / Spaltung lebt vom Mitmachen / Kulturvirus Moralin / Das Regime des Moralismus / Volkserziehung im Moralgefängnis / Bedrohung und Befreiung. In den ausführlichen Anmerkungen können die zitierten Quellen geprüft werden. Andrick gelingt es nachvollziehbar und anschaulich anhand zahlreicher Beispiele und Diskussionen, die Muster und Mechanismen der moralisierenden Einschüchterungen zu identifizieren als ein "Regime des Moralismus". Moralisierung sei eine Zweckentfremdung der Moral - so Michael Andrick. In Analogie zur Medizin sei Moralin ist ein "kulturelles Virus", das das soziale Leben der Menschen so schädige wie ein biologisches Virus den Körper. Den Wirkmechanismus von Moralin zu erkennen, sei grundlegend für die Behandlung der "Erkrankung".

Menschen in Berufen mit öffentlicher Reichweite wie Journalisten, Politiker, Lehrer, Entertainer, Professoren, Künstler und Verbandsfunktionäre prägten - so Michael Andrick - mit ihren Äußerungen und Aktivitäten die Kultur eines Landes maßgeblich und seien für die diskursive Verbreitung des Moralin verantwortlich. Dabei werden Kulturtechniken verwendet wie gegenseitiges Abkanzeln, Stigmatisieren, Umstrittenmachen, Vorabmarkieren von Gesprächspartnern, aber auch gedanken- und sprachpolizeiliche Initiativen und das Operieren mit Kontaktschuld-Fantasien wie 'Putin-Freund Schröder'. Sogar eigene Institutionen seien gegründet worden wie 'Faktenchecker-Agenturen', Demokratieförderinitiativen und staatliche Gesinnungsmeldestellen.

Dies alles schaffe eine feindselige, paranoische Atmosphäre der moralisierenden Einschüchterung, der Sprachlosigkeit und gegenseitiger Entfremdung, geprägt von Skepsis, Misstrauen und Angst - ein "Moralgefängnis", aus dem wir uns selbst und mutig befreien müssen - und auch können: "An uns liegt es, konsequent gleichen Respekt für alle Bürger einzufordern, ihn selbst zu gewähren und dort zu widersprechen und zuwiderhandeln, wo wir ihn verletzt sehen. Ist das unser oberster Grundsatz, dann können wir keine sozialzerstörerische Moralisierung und Demagogie mehr dulden, nicht bei anderen und nicht bei uns selbst" (S. 159).

Die einzelnen luziden Argumentationsketten, die Michael Andrick aus Philosophie, Psychologie und Soziologie zusammenführt, um seine Gesellschaftsanalyse des Krisenmodus zu unterfüttern, können im Rahmen dieser Besprechung nicht dargestellt werden. Es soll aber auf seine bedenkenswerten Ausführungen über die psychologischen Muster totalisierender Tendenzen in Politik und Kultur hingewiesen werden, die er im Anschluss an Matthias Desmet (Die Psychologie des Totalitarismus) und Hannah Arendt (Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft) entwickelt. Der perfekte Nährboden für eine Massenformierung der Bevölkerung durch ein soziales Regime des Moralismus sei bereits evident vorhanden (u.a. Vereinzelung, Sinnverlust, nervöse Reizbarkeit, Aggression). Noch hätten wir es nicht mit einem ausgebildeten totalitären Staat zu tun und eine Umkehr sei möglich.

Demokratie brauche rechtliche Gleichheit, politisch unabhängige Justiz, Gedanken- und Redefreiheit, von Politik und Wirtschaft unabhängige Medien, sowie freie, gleiche und geheime Wahlen zur Kontrolle und Ablösung der Mächtigen, Pluralismus der Meinungen ohne Gesinnungsdiktat, offene, sachorientierte statt moralisierte und personalisierte Debattenkultur, gegenseitiger Respekt: "Nur in einer funktionierenden Demokratie können wir uns in Würde wirksam selbst regieren und ein gewisses Zutrauen in die Garantie unserer Grundrechte haben" (S. 148).

Der Band von Michael Andrick ist eine aufrüttelnde und fundierte Analyse des grassierenden Moralismus in unserer Gesellschaft, ein Warnruf gegen totalisierende Tendenzen und gleichzeitig ein Mutmacher für gegenseitigen Respekt, offenen und direkten Meinungsaustausch.


Michael Andrick
Im Moralgefängnis
Spaltung verstehen und überwinden
Westend-Verlag, Frankfurt/Main 2024
kartoniert, 160 Seiten, 18,00 Euro

*

Quelle:
© 2024 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 12. April 2024

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang