Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → REDAKTION

NACHRUF/001: Lutz Schulenburg - Wie viele lernen ihn nicht mehr kennen? (Edition Nautilus)


Eine Trauercollage


Edition Nautilus trauert um Verleger Lutz Schulenburg

2. Mai 2013




Heute haben wir die traurige Nachricht zu überbringen, dass unser Verleger Lutz Schulenburg gestern, am 1. Mai 2013, nach kurzer schwerer Krankheit verstorben ist. Seit nahezu vierzig Jahren war Lutz Schulenburg als Verleger der Edition Nautilus eine feste, wenn auch subversive Größe in der Verlagswelt. Er wird fehlen.

Am 21. April 1953 in der Hamburger Vorstadt Bergedorf als zweites von drei Kindern geboren und in einer Arbeiterfamilie aufgewachsen, war er bereits mit 14 Jahren aktiv in der örtlichen sozialistischen Schüler- und APO-Gruppe. Die Schule brach er ab, ebenso eine Lehre als Dekorateur - doch seit der Lehrzeit ist er aktiv in der anarchistischen Bewegung, was ihm sogar einen Ausschluss aus der Gewerkschaft eintrug und ihn in der nach-68er-Zeit mit Pierre Gallissaires zusammenbrachte, mit dem er 1971 die anarchistische Theorie-Zeitschrift MAD (später umbenannt in Revolte!) gründete. Es folgte eine zweite, inoffizielle Lehrzeit, diesmal in Sachen Verlagsbuchhandel, beim Spartacus Buchvertrieb im Keller unter dem Abaton-Kino in Hamburg. 1972 begann das Trio Schulenburg, Gallissaires und Hanna Mittelstädt mit der Buchproduktion, am 1. April 1974 wurde ein Gewerbeschein beantragt für den MAD-Verlag, der 1976 aus juristischen Gründen in Edition Nautilus umbenannt wurde. Als Verleger bewies er immer wieder das richtige Gespür für Perlen im Büchermeer.


Kurzer biographischer Abriss

Lutz Schulenburg
Geboren 1953 in Hamburg Bergedorf; aufgewachsen, als zweites von drei Kindern, in einer Arbeiterfamilie. Glückliche Kindheit in den Straßen, den Schrottplätzen und Brachflächen der Vorstadt.
Als leistungsschwacher Schüler die Pädagogik-Anstalt als düsteren Ort autoritärer Demütigung erlebt.
Ab Mitte 1968 aktiv in der örtlichen sozialistischen Schülergruppe (AUSS) und der APOGruppe Bergedorf (Demokratisches Zentrum).
Lernte dort neben vielen wunderbaren (+wunderlichen) Menschen im »AK Reproduktion« die spätere Krimi-Autorin Doris Gercke kennen.
Ende 1969, beim Versuch, nach Kuba zu kommen, in München gestrandet. Einige Wochen im linken Milieu unterwegs, unter Trebegängern, Gammlern, Ausreißern aus Heimen, rebellischen Schülern usw. Mit Hilfsjobs über Wasser gehalten (Verkauf der Abendzeitung, Hilfsarbeit auf einen Schrottplatz und in einer Wäscherei).
Nach einer großen Polizeirazzia als »Streunender Jugendlicher« kurzzeitig in »Stadelheim« und dem Jugendarrest »Schwere Reiterstraße«.
Rückführung in die »Elterliche Obhut«.
Entlassung aus der Schule wg. »unentschuldigter Abwesenheit«.
Beginn einer Lehre als Dekorateur.
Seit der Lehrzeit aktiv in der anarchistischen Bewegung; als gewerkschaftlicher Jugendvertreter wg. anarchistischer Umtriebe unter den Mitgliedern des Ortsverbandes und im Zuge der Agitation unter den Lehrlingen verschiedener Hamburger Kaufhäuser.
Ausschluss aus der Gewerkschaft durch die gewerkschaftliche Bürokratie.
Kriegsdienstverweigerung, Anerkennung erst nach förmlicher Gerichtsverhandlung; Ableistung des Zwangsdienstes im Sozialamt Hamburg-Barmbek. Vorzeitige Entlassung wg. Leistungs-Sabotage.
1971: Zusammen mit Pierre Gallissaires Gründung einer anarchistischen Theorie-Zeitschrift (»MAD - Materialien, Dokumente, Analysen«); später umbenannt in »Revolte!«
Als Mitglied der deutschsprachigen Delegation zum »Anarchistischen Weltkongress« 1971 in Paris (zugleich Erinnerung an 100 Jahre Commune, 50 Jahre Kronstadt). Anschließend Teilnahme mit Hamburger Genossen an der Kampagne für »Freie Strände« in Südfrankreich, Kollektive Ausweisung durch den regionalen Präfekten. Nach Genf ins CIRA (Centre international de recherche sur l' anarchisme).
1972 /1973: Nach Hilfsjob bei der Post eine zweite »Lehrzeit« in Sachen Verlag-Buchhandel im »Spartakus Buchvertrieb« / Association Verlag, in Hamburg, im Keller unter dem Abaton-Kino.
Ab 1972 dank des Hinzukommens von Hanna Mittelstädt Beginn der Buchproduktion; zunächst als MAD-Verlag, ab 1976 Umbenennung des Verlags (aus juristischen Gründen) in Edition Nautilus.
Seither als Verleger und Herausgeber (u.a. Zeitschrift »Die Aktion«) in Hamburg tätig.
2009 Umzug von Verlag + Wohnung von Bergedorf nach Bahrenfeld in Hamburg-Altona.


Verlagsporträt: Edition Nautilus

Am 1. April 2009 feierte die Edition Nautilus Geburtstag: 35 Jahre beweglich im Büchermeer - und noch nicht ein Mal untergegangen. Jahrzehntelang gelang das ohne finanzielle Absicherung, während vieler kleineren und größeren Krisen. Seit dem überraschenden Erfolg mit dem Krimi-Debüt Tannöd von Andrea Maria Schenkel engagieren wir uns nicht weniger, aber entspannter, um aus dem Meer an Manuskripten und Ideen immer wieder Perlen herauszufischen.

Über ihr politisches Engagement sind Hanna Mittelstädt, Lutz Schulenburg und Pierre Gallissaires vor mehr als 30 Jahren mehr zufällig als absichtsvoll in die Verlegerei hineingerutscht: zunächst durch die Herausgabe einer Zeitschrift und diverser Flugschriften unter dem Label MAD-Verlag, Materialien, Analysen, Dokumente, der sich nach einer Klage des gleichnamigen Satireblatts in Edition Nautilus umbenannte. »Ein Gedicht kann genauso revolutionär sein wie ein theoretischer Text.« Getreu dieser Devise wurden neben Schriften der Anarchisten und Situationisten auch solche der Dadaisten und Surrealisten veröffentlicht.

Bald fanden auch die ersten Autobiografien, u.a. von Jacques Mesrine, Charles Mingus, Billie Holiday und Franz Jung, sowie unerschrockene Prosa junger Autoren wie Franz Dobler, Ingvar Ambjørnsen, Anna Rheinsberg und Sean McGuffin Eingang ins Programm. Parallel dazu wurde die Werkausgabe von Franz Jung in Angriff genommen und 1997, nach 16 Jahren und zwölf Bänden, vollendet. Diese förderungsfreie Edition ging sehr zu Lasten der Verlagsökonomie aus, die in der Edition Nautilus stets um einige wenige Verkaufserfolge herum organisiert werden muss, etliche Jahre lang etwa um den zweisprachigen Silvester-Dauerbrenner Dinner for one, der inzwischen neben dem Original in sechs regionalen Bearbeitungen lieferbar ist. Nicht ganz so erfolgreich, aber ebenso unverzichtbar ist Die Aktion, eine der letzten streitbaren Zeitschriften für Politik, Literatur und Kunst. Als »gut gelaunt und ein bisschen anarchistisch« charakterisierte der Reporter des Bergedorfer Wochenblatts das Verlagskollektiv, das nach der Veröffentlichung dreier Bücher von Karl-Eduard von Schnitzler plötzlich auch der Lokalpresse ein Porträt wert war.

Diese absichtsvolle programmatische Grenzverletzung, keineswegs die erste im Lauf der Verlagsgeschichte, ermöglichte u.a. die Herausgabe von Abel Paz' großer Durruti-Biografie. Ein erfreulich zahlreiches Lesepublikum eroberten auch die Bücher von Wiglaf Droste, Subcomandante Marcos, Inge Viett, Paco Ignacio Taibo II, vor allem seine Che-Guevara-Biografie, sowie einige Titel aus der »Kleinen Bücherei für Hand und Kopf«, inzwischen auf 60 Bände angewachsen, etwa die Grotesken von Kurt Schwitters oder die Aphorismen von Francis Picabia. Dessen Aphorismus »Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann« gibt nach wie vor ein zuverlässiges Verlagsmotto ab.

Im März 2004 wurde der Edition Nautilus auf der Leipziger Buchmesse der Kurt-Wolff-Preis überreicht. Sie wurde damit für ihr anspruchsvolles literarisches Programm, für ihre Künstlerbiografien und die Herausgabe der Franz Jung Werke geehrt. Der Verlag erhielt für sein außergewöhnliches Programm außerdem zweimal den Verlagspreis der Freien und Hansestadt Hamburg (Kulturbehörde) 1993 und 2002.

Im neuen Jahrtausend konnte das Nautilus-Programm die Folge der Roten Ziegel um zwei Kompendien der Basisbewegungen erweitern: Wir sind überall - weltweit. unwiderstehlich. antikapitalistisch und den berühmten Wälzer von Horst Stowasser: Anarchie. Mit Michael Warschawski und Mahmood Mamdani holte die Edition Nautilus zwei hochkarätige internationale Kritiker an Bord. Beiträge zur Zeitgeschichte der BRD liefern u.a. die Zeugnisse ehemaliger Protagonisten des bewaffneten Kampfes: Karl-Heinz Dellwo, Inge Viett, Gabriele Rollnik.

Die Krimisparte des Programms wurde einst begründet mit der "Schwarzen Trilogie" Léo Malets und dann durch Ingvar Ambjørnsen und Robert Brack vielseitig fortgesetzt. Vor einigen Jahren startete die handliche Kleinformatreihe Kaliber .64, in der namenhafte Autoren wie Friedrich Ani, Frank Göhre, Susanne Mischke und andere Kleinode des Genres präsentieren. Und ein Krimi war es auch, der dem Verlag dann seinen zahlenmäßig bisher größten Erfolg einbrachte.

Eines Tages bot Andrea Maria Schenkel ihr Manuskript Tannöd zur Publikation an. Der Krimi überzeugte das Verlagsteam, wurde kostendeckend kalkuliert und erschien im Februar 2006 in einer Auflage von 2800 Exemplaren. Das Risiko sollte gering bleiben, schließlich hatte noch nie jemand etwas von der Autorin gehört. Das sollte sich schnell ändern. Das Krimidebüt von Andrea Maria Schenkel zog weite Kreise, und ein Jahr nach der Veröffentlichung landete es auf der Spiegelbestseller-Liste, wo es wochenlang Platz 1 besetzte, bis ihr zweiter Krimi, Kalteis, ihn auf Platz 2 verdrängte. Für beide Krimis wurde sie mehrfach ausgezeichnet, und Tannöd wurde in mehr als 20 Sprachen übersetzt.

Durch diesen fast märchenhaften Erfolg konnte das inzwischen gewachsene Verlagsteam aus den drei Büroräumen über einer Einkaufspassage in der Bergedorfer Fußgängerzone in ein ehemaliges Fabrikgebäude in Hamburg-Bahrenfeld ziehen. Hier werden jetzt die Autoren Abbas Khider, Jochen Schimmang und Ingvar Ambjørnsen gepflegt, das Flugschriftenformat widmet sich internationalen Themen zur gesellschaftlichen Krise (Paul Mattick, Boris Kagarlitzki...). Erfolgreiche Kreise zogen die Bücher Fleischmarkt von Laurie Penny und Pussy Riot! mit Texten der gleichnamigen Punk-Band, und besonders kontrovers diskutiert wurde Der Kommende Aufstand des Unsichtbaren Komitees.

Unsere aktuell wichtigsten Krimiautoren sind Matthias Wittekindt mit Schneeschwestern und Marmormänner sowie Robert Brack mit seiner Trilogie über die Journalistin Klara Schindler, deren letzter Ermittlungsauftrag die Auflärung des Reichtagsbrands in Berlin 1933 war.

Alle Kraft voraus arbeiten wir seit fast 40 Jahren an unserem Programm, das sich darin treu geblieben ist: es ist unkonventionell, eigenwillig und kämpferisch.

*



Quelle:
Edition Nautilus
Schützenstraße 49a, 22761 Hamburg
Telefon: 040/721 35 36, Fax: 040/721 83 99
E-Mail: presse@edition-nautilus.de
Internet: www.edition-nautilus.de

veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Mai 2013