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BERICHT/003: Idionomie kritischer Theoreme - Besinnung, Aufklärung, Fortbeginn ... (SB)


Werner Pirker "Dialektik der Konterrevolution"

Buchpräsentation in Berlin-Mitte am 9. Juli 2014



Am 13. Januar 2014 verstarb in Berlin ein politischer Kommentator, der in einer anderen Gesellschaft weit über die marxistische Linke, aus der sein Publikum vor allem bestand, hinaus bekannt gewesen wäre. Zahlreiche seiner in der Tageszeitung junge Welt verfaßten Kommentare, Hintergrundsanalysen wie auch bissigen Interventionen in der Rubrik "Der Schwarze Kanal", in der er die blindwütige Irrationalität journalistischer Herrschaftsapologie aufs Korn nahm, verschafften ihm einen treuen Kreis von Leserinnen und Lesern.

Als Moskau-Korrespondent des ehemaligen KPÖ-Zentralorgans Volksstimme erlebte Werner Pirker das Ende der Sowjetunion aus nächster Nähe mit, und das betraf ihn nicht nur als Zeitzeugen, sondern vor allem als in der Tradition der Oktoberrevolution stehenden Marxisten. Die sich vor seinen Augen entfaltende Konterrevolution begriff er als eine zivilisatorische Katastrophe, die ihn dazu veranlaßte, die analytische Durchdringung des Umschlags sozial emanzipatorischer und revolutionärer Bewegungen in Träger und Apologeten neoliberaler Herrschaft mit gebotener Unnachgiebigkeit zu vollziehen.

Sein aus einem historischen Scheitern, das von den vermeintlichen Siegern der Geschichte mit der Behauptung ihres Endes unumkehrbar gemacht werden sollte, erwachsender Zorn machte ihn immun gegen die Verführung, das Angebot der postmodernen Linken auf Versöhnung mit dem gesellschaftlichen Grundwiderspruch von Kapitalverhältnis und Klassenherrschaft anzunehmen. In ein Arrangement mit den herrschenden Interessen einzutreten, um es als Autor wie Mensch leichter zu haben, lag dem von Wien aus deutsche Verhältnisse kommentierenden Österreicher fern. Um streitbar festzuhalten an dem einmal erreichten Stand gesellschaftlicher Auseinandersetzung und kritischer Widerlegung ihrer vermeintlichen Wahrheiten, bedurfte und bedarf es allerdings keines besonderen Anlasses. Als Insasse der neoliberalen Arbeitsgesellschaft und Spaltprodukt der sozialdarwinistischen Zertrümmerung noch nicht verwertbar gemachter Kollektivität, als notgedrungener Verbraucher ihrer privatwirtschaftlich angeeigneten Lebensgrundlagen und zwangsrekrutierter Fußsoldat imperialistischer Landnahme hat der Mensch an einem niemals Mangel - an Gründen, über den Schatten seiner kapitalistischen Vergesellschaftung zu springen.

Gerahmtes Porträt auf Ständer vor rotem Hintergrund - Foto: 2014 by Schattenblick

Werner Pirker
Foto: 2014 by Schattenblick

Unter dem wegweisenden, den unabgeschlossenen Charakter ideologischer Vereinnahmungsstrategien antizipierenden Titel "Dialektik der Konterrevolution" wurde nun eine Auswahl repräsentativer Texte in Buchform zusammengestellt, die Werner Pirker für die junge Welt verfaßte. Der Wiener Promedia-Verlag, der bereits sein furioses, zusammen mit Werner Langthaler verfaßtes Pamphlet für einen neuen Antiamerikanismus "Ami go home" herausgab, gehört zu den wenigen Adressen im deutschsprachigen Verlagswesen, die einem antiimperialistisch denkenden und argumentierenden Autor noch Sichtbarkeit und Stimme verleihen. Arnold Schölzel, Chefredakteur der jungen Welt, und sein Stellvertreter Stefan Huth, der für die Auswahl der Texte verantwortlich zeichnet, stellten das Buch in einer Veranstaltung der jW-Ladengalerie vor.

Für Schölzel stand Pirker für eine Tradition des revolutionären Demokratismus und Sozialismus, die zunichte zu machen das tiefere Ziel jener "Unterdrückungs- und Weltordnungskriege" ist, die im Namen von Freiheit und Demokratie geführt werden und im Ergebnis das Gegenteil dessen hervorbringen. "Die Diskrepanz zwischen totalem Entzug individueller und kollektiver Selbstbestimmung von der Totalüberwachung bis zur rechtsstaatlich legitimierten Folter wirkt grotesk wie selten zuvor, und es war eine der leichteren Übungen für Werner, die je nachdem schafsköpfigen oder schuftigen Adepten der heiligen Dreifaltigkeit von Kapitalismus, parlamentarischer Demokratie und Wertegemeinschaft vor sich herzutreiben."

Dies wiederum habe ihn "zu ernsteren Fragen, zu grundlegenden theoretischen Problemen" geführt: "Wie sieht die radikal zu Ende gedachte revolutionäre Demokratie aus, wie steht es in ihr mit dem Staat, was ist in ihr mit den Klassen und deren Kampf mit der Gesellschaft überhaupt? Wer von der Politik reden will, darf von der Gesellschaftsformation, dem Klassenkampf, den Macht- und Eigentumsverhältnissen, also dem Ganzen der Verhältnisse einer gegebenen gesellschaftlichen Phase nicht schweigen. An dieser Frage trennten sich stets die Wege von denen, die zum historischen Materialismus und auf die Seite der Arbeiterklasse übergingen, die den Sozialismus, und zwar einen notwendig staatlich verfaßten, zum Ziel der Revolution erklärten, und jenen, die die soziale Frage immer wieder für irrelevant erklärten und erklären."

Auf dem Podium der jW-Ladengalerie - Foto: © 2014 by Schattenblick

Arnold Schölzel, Stefan Huth
Foto: © 2014 by Schattenblick

"Der Weg in die Postdemokratie"

Die soziale Frage war für Werner Pirker von den gesellschaftlichen Machtverhältnissen nicht zu trennen. So kritisierte er die parlamentarische Demokratie in seinem 2005 verfaßten Text "Der Weg in die Postdemokratie" in ihrem Übergang von der bürgerlichen, in der europäischen Verfassungstradition stehenden Gesellschaft zur liberalen, die Marktwirtschaft zum zentralen Regulativ verabsolutierenden Demokratie nach US-amerikanischem Vorbild. Daß im Namen dieser Demokratie von der Kommandohöhe zivilisatorischer Suprematie ethisch begründete Aggressionskriege geführt werden, der gegenüber keine andere Form der Demokratie Bestand haben kann, ist für Pirker bereits Merkmal ihres postdemokratischen Charakters.

"Das bedeutet nicht nur, daß der Westen die 'weltweite Verbreitung der Demokratie' zum imperialistischen Programm gemacht hat und damit die 'Demokratie' in einen begrifflichen Zusammenhang mit der Unterwerfung der Nationen unter sein Machtregime stellt. Das hat auch dramatische Auswirkungen auf den inneren Zustand bürgerlich-demokratisch verfaßter Ordnungen, in Deutschland als freiheitlich demokratische Grundordnung (FDGO) bezeichnet. Es ist nicht bloß eine Frage der Semantik, daß das, was früher - vor allem in Abgrenzung zur 'kommunistischen Diktatur' - als 'die Demokratie' bezeichnet wurde, nun ohne das Attribut 'liberal' nicht mehr auszukommen meint. Der Begriff 'Demokratie' erfährt vielmehr einen realen Bedeutungswandel. Verhielt sich die klassische bürgerliche Demokratie gegenüber den antisystemischen Kräften zweideutig, in der Regel dem Herrschaftsprinzip der repressiven Toleranz folgend, so kennt die 'liberale Demokratie' in ihrem ultimativen Anspruch, das 'Ende der Geschichte' (Francis Fukuyama) darzustellen, keine Zweideutigkeiten und keine 'falsche Toleranz' mehr."
(S. 188 f)

Fernab davon, daß die bürgerliche Demokratie die Abschaffung bourgeoiser Klassenherrschaft, obwohl im Grundgesetz zumindest nicht explizit ausgeschlossen, als realpolitische Möglichkeit akzeptiert hätte, bot sie den Lohnabhängigen und Versorgungsbedürftigen ein Mindestmaß an politischer Repräsentation zur Vermittlung ihrer Interessen. Diese Möglichkeit der politischen Einflußnahme wurde mit der Agenda 2010 wirksam eingeschränkt, ohne daß dazu eine verfassungsrechtliche Veränderung der politischen Voraussetzungen der herrschenden Vergesellschaftungsform erforderlich war. Für Pirker stellte die Modernisierung der Arbeitsgesellschaft nach dem Prinzip des "Förderns und Forderns" einen Paradigmenwechsel in den gesellschaftlichen Gewaltverhältnissen dar, und das nicht nur, weil das "Fördern" in Anbetracht des objektiven Mangels an angemessen bezahlter Lohnarbeit bloße Symbolpolitik ist.

"Der Sozialabbau wird begleitet von einer ideologischen Großoffensive, die auf die moralische Züchtigung der subalternen Klassen zielt, denen mangelnde Einsicht in komplexe ökonomische Zusammenhänge, freches Anspruchsdenken, das Festhalten an überkommenen Privilegien, wenn nicht gar Altersgeiz auf Kosten der nachwachsenden Generationen vorgehalten wird. Es war die sozialdemokratische Reformagenda, die den asozialen Diskurs erst richtig zur Hochform auflaufen ließ. Indem die Schröder-Regierung das soziale Bewußtsein nachhaltig desavouierte, delegitimierte sie sich nicht nur selbst als Partei, der mehr als jeder anderen die Fähigkeit zur Versöhnung von Wirtschafts- und Sozialpolitik zugetraut worden war. Sie wurde damit auch zum Katalysator der Degenerierung einer Demokratie, die sich des Zwanges zum Sozialkompromiß entledigt hat."
(S. 190)

Es ist kein Widerspruch, sondern entspricht dem Zwang zur Befriedung sich stetig verschärfender sozialer Antagonismen, daß sich die liberale Demokratie als Hort der Freiheit zum universellen Zivilisationsmodell aufschwingt, während diese Freiheit den Bevölkerungen derjenigen Staaten, die angeblich aufgrund ihrer zivilisatorischen und demokratischen Defizite mit Krieg überzogen werden, zur tödlichen Falle gerät. Was dieser Tage gleich an mehreren Schauplätzen zur Machtprobe eines imperialistischen Programms zu eskalieren droht, das die Durchsetzung eigener Wert- und Ordnungsvorstellungen im Kurzschluß seiner Selbstevidenz zum Beweis eigener Deutungshoheit erhebt, zerstört auch die verbliebenen grund- und bürgerrechtlichen Schutzgarantien, die der systematisch vereinzelte Mensch noch den Imperativen seiner Verfügbarkeit für Staat und Kapital entgegenzusetzen hat. Nicht ganz zufällig wird der Aufmarsch gegen Rußland als Katalysator einer europäischen Einigung propagiert, deren Stand an der außenpolitischen Handlungsfähigkeit der Union bemessen wird. Daß diese "mit einer Stimme" sprechen müsse, ist nicht nur eine Erfordernis der militärischen Durchsetzung ihrer Interessen, sondern soll die neoliberale Marktwirtschaft als Grundlage ihrer angestrebten Stärke auch nach innen zum Primat allen Lebens und Sterbens erheben.

Was Werner Pirker besonders traf und dementsprechend unmißverständlich zur Sprache kam, war die Wandlung vieler Linker zu Protagonisten des Krieges und der sozialen Zerstörung. Wie sich eine rechts gewendete Linke darauf verstand, ihr Tun für die Sicherung herrschender Interessen fruchtbar zu machen und dennoch den Anschein zu erwecken, weiterhin emanzipatorische Ideale zu verfolgen, analysierte Pirker als Ergebnis jener Totalitarismustheorie, die die Rechtfertigung nazistischer Kontinuitäten in Personal und Politik der Nachkriegszeit mit der Dämonisierung des sowjetischen Kommunismus als linkes Pendant des NS-Regimes betrieb. Heute, da keine alten Nazis mehr zu schützen sind, erfüllt diese Legitimationsideologie vor allem den Zweck, den hegemonialen Neoliberalismus von den Schlacken der menschlichen Verluste zu befreien, die seinem Funktionsprinzip der "kreativen Zerstörung" geschuldet sind.

Seinen Eliten eine Waffe des Gesinnungsverdachtes in die Hand zu legen, die sich entschieden gegen das Wiedererstarken sozialrevolutionärer und antikapitalistischer Bewegungen richtet, war in Pirkers Augen das Programm einer rechten Gegenaufklärung, die den Antifaschismus gegen seine antikapitalistische Herkunft wendete, um - unangreifbar für jede Kritik an der eigenen Grausamkeit - kapitalistische Herrschaft konsequent praktizieren zu können. Während neofaschistische Pogrome an Roma, Flüchtlingen und Migrantinnen dem Staat als Legitimationsvorlage für die Verschärfung der Lebensbedingungen besonders verletzlicher Minderheiten dienen, dem rechten Rand also durchaus der Zutritt zur Mitte der Gesellschaft gewährt wird, werden Linke, die sich aus antikapitalistischer Position entschieden gegen Rassismus und Faschismus stellen, als "Feinde der Freiheit" unter den Verdacht fundamentaler Staatsfeindlichkeit gestellt.

Als fortschrittlich erscheint auch die neoliberale Individualisierungspolitik, deren sozialstrategischer Kehrwert darin besteht, die Freiheit zur Selbstbestimmung in ein gesellschaftliches Schuldverhältnis zu verwandeln. Dem Menschen wird angelastet, für alle Mängel und Nöte selbst verantwortlich zu sein, weil er die medizinaladministrativen und gesundheitspolitischen Maßgaben zum Erhalt seiner Arbeitskraft nicht befolgt habe. Die Bezichtigungslogik der sogenannten Risikogesellschaft enthebt den einzelnen jedes historischen und materialistischen Zusammenhangs seiner sozialen Situation, um ihn als Ware Arbeitskraft verwertbar zu machen oder als Kostenfaktor auszusteuern. Längst überwunden geglaubte Formen sozialrassistischer Stigmatisierung angeblich unwerten, weil unproduktiven Lebens feiern Urständ in Form behindertenfeindlicher Eugenik, der humangenetischen Evaluation individueller Leiblichkeit als Gesundheits- und damit Kostenrisiko oder der Normierung des Körpers auf angebliche Idealmaße. Seine Einspeisung in den Markt biologischer Dienstleistungen nötigt Frauen zur sogenannten Leihmutterschaft oder bringt arme Menschen in den Ländern des Südens dazu, reichen Kunden ihre Organe zu verkaufen. Die Propagierung aktiver Sterbehilfe bahnt einem sozialökonomischen Lebenswert den Weg, der das vorzeitige Ableben nicht mehr auf die Konsequenz tatsächlicher Selbstbestimmung begrenzt, sondern als Zwang gesellschaftlicher Selektion zur Anwendung bringt.

Stefan Huth liest vor - Foto: © 2014 by Schattenblick

Beispielhafte und unerschrockene Kritik an herrschenden Verhältnissen
Foto: © 2014 by Schattenblick

"Neoliberaler Rechtsextremismus"

Warum die liberale Freiheit, die Ware Arbeitskraft dem Meistbietenden verkaufen zu dürfen, in ihrer Armut und Not erzeugenden Wirkung immer weniger durch sozialpolitische Garantien aufgefangen wird, ohne daß dies zu einer wirksamen gesellschaftlichen Gegenbewegung führt, analysierte Pirker 2007 im Rahmen einer Rezension des von Peter Bathke und Susanne Spindler herausgegeben Buches "Neoliberalismus und Rechtsextremismus in Europa". Den "Neoliberalen Rechtsextremismus", so der Titel seines Textes, charakterisierte er als eine Ideologie des entfesselten Marktes, die die politische Form einer "Diktatur der Besten" angenommen habe. Während Liberalismus und Rechtsextremismus im gesellschaftlichen Diskurs als einander gegensätzliche Antipoden politischer Herrschaft dargestellt werden, fragten die Autorinnen und Autoren dieses Buches nach dem Grund dafür, daß der hegemoniale Neoliberalismus vom Anschwellen rechtsradikaler Ideologien und Strömungen in der EU begleitet wird.

Die Wesensverwandtschaft zwischen entfesselter Marktlogik, die immer mehr Bereiche menschlicher Daseinsvorsorge und natürlichen Lebens dem ausschließlichen Interesse der Kapitalakkumulation unterwirft, und dem in rechter Ideologie dominanten Kult der Stärke von Volk und Nation erschließt sich schon aus dem sozialdarwinistischen Elitedenken, das die Menschen zum Zwecke besserer Beherrschbarkeit gegeneinander ausspielt. Immer offener werden sie danach beurteilt, ob sie es zu etwas gebracht haben oder zu den gesellschaftlichen Verlierern gehören. Die Legitimation des Gewinners als Träger gesellschaftlichen Verantwortungsbewußtseins, als in seinem Eigennutz geradezu uneigennütziger Funktionär des Gemeinwohls (S. 197) degradiert alle nicht den Funktions- und Eigentumseliten zugehörigen Menschen zu Nutznießern eines nur bedingt von ihnen erwirtschafteten Reichtums. Die Stigmatisierung bloßer Leistungsempfänger als Konsumenten von anderen erbrachter Arbeit lenkt erfolgreich davon ab, "daß die einen nur gewinnen können, weil die anderen verlieren müssen" (S. 197).

Wo der Neoliberalismus postuliert, daß gesellschaftliche Entscheidungsprozesse und individuelle Freiheiten Ergebnisse eines Marktgeschehens sind, denen sich der Mensch zu seinem eigenen Wohl unterwirft, da rekurriert der Faschismus auf das "Konstrukt des Völkischen", das "unter Ausblendung der Klassenwidersprüche und der aggressiven Verneinung der Klassensolidarität die Möglichkeit einer - im Rahmen der Nation - kollektiven Willensbildung" (S. 197) suggeriere. Wo der Primat des Marktes über Erfolg und Scheitern in der kapitalistischen Gesellschaft mit der Wucht quasi naturgesetzlicher Gewalt entscheidet, schließt der Faschismus Menschen nach rassistischen und biologistischen Kriterien ein und aus.

"Faschismus und Neoliberalismus sind Erscheinungen völlig unterschiedlicher Epochen. Der Faschismus entstand als äußerste Reaktion auf den Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion und die revolutionären Bestrebungen in Europa. Die mystische Anrufung einer Arbeit und Kapital vereinigenden 'Volksgemeinschaft' zielte auf die Verdrängung von Klassenbewußtsein. In seinem Wesen eine terroristische Diktatur des Kapitals (Georgi Dimitroff) entsprach der Faschismus dem Bedürfnis der Wirtschaftseliten, auf die Herstellung der Volkssouveränität gerichtete Bestrebungen der Massen präventiv, das heißt durch die Ausschaltung der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie abzuwehren. Der Faschismus - allen voran der deutsche - war aber auch die Herrschaft der 'reaktionärsten, chauvinistischsten, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals' (Dimitroff). Sein Griff zur Weltherrschaft folgte dem offen rassistischen Programm der Unterwerfung 'minderwertiger Völker' und gipfelte im antisemitischen Vernichtungswahn. Es war ein Programm der außerökonomischen Selektion.
Der Neoliberalismus war anfangs, das heißt in den Jahren, als eine Margaret Thatcher gegen die Gewerkschaften wütete, ebenso wie der frühe Faschismus als 'konservative Revolution' bezeichnet worden. Sein Aufstieg begleitete den Untergang des staatlich organisierten Sozialismus. Dieser hatte über Jahrzehnte dem imperialistischen Drang nach Expansion Grenzen gesetzt. Der entfesselte Kapitalismus setzte zum zweiten Mal zum Siegeszug um die Welt an. War der klassische Faschismus eine exzessiv staatsinterventionistisch geprägte Form der Herrschaft des Großkapitals, was auch in einer terroristisch erzwungenen, auf die Mobilisierung aller inneren Ressourcen zum Welteroberungskrieg gerichteten 'Sozialpartnerschaft' (Volksgemeinschaft) seinen Ausdruck fand, so ist der von allen sozialen Anpassungszwängen an das sozialistische Gegenmodell befreite neoliberale Kapitalismus auf die Geltendmachung seiner ureigensten Systemeigenschaften gerichtet. Liberalisierung, Privatisierung und Deregulierung sind die Leitsätze des neoliberalen Programms. Es beinhaltet in seinem Kern die Aufkündigung des sozialstaatlichen Gesellschaftsvertrages."
(S. 198 f)

Pirker bringt die "Dialektik der Konterrevolution" auf den Begriff einer Ideologiekritik, die sich ihrer materialistischen Basis nicht enthebt, indem sie von gesellschaftlichen Gewaltverhältnissen abstrahiert und jegliche Herrschaftskritik in die apersonale Sphäre einer postmodernen Ontologie der Macht verweist. So wenig Herrschaft ohne Beherrschte auskommt, so wenig kann die Frage der Macht im Sinne der Überwindung faschistischer, kapitalistischer oder rassistischer Gewalt entwickelt werden, wenn sie als Ausdruck subjektloser Praktiken und Diskurse frei nach Foucault in den Beziehungen eines Ensembles von Handlungen oder Feldes von Möglichkeiten verortet wird. Die Machtfrage nicht zu stellen und dennoch zu glauben, am großen Werk der Befreiung des Menschen teilzuhaben, beschreibt die Dynamik der Vereinnahmung einer radikalen Linken für die Interessen derjenigen, deren Herrschaft sie einst zu brechen behaupteten. Um dem absehbaren Scheitern ihrer revolutionären Ideale zu entkommen, wendeten sie sich einem Liberalismus zu, der die emanzipatorischen und humanistischen Werte ihrer politischen Herkunft von den materiell konstitutiven Faktoren ihrer Verwirklichung trennt, um im Ergebnis bei humanitären Kriegen, bei grünem Kapitalismus, bei der Forderung nach mehr Soldatinnen in der Bundeswehr oder einem Antifaschismus zu landen, der sich ausschließlich an Nazis abarbeitet, um sich mit der Herrschaft von Staat und Kapital nicht anlegen zu müssen.

Die Stunde der in den Führungseliten aller westeuropäischen Regierungen anzutreffenden Ex-Linken schlägt insbesondere dann, wenn der Neoliberalismus das Versprechen auf allgemeinen Reichtum und individuelle Freiheit immer weniger einzulösen in der Lage ist. Da seine marktregulative Funktionsweise und die ahistorische Negation jedes gesellschaftlichen Ziels über die Optimierung der Produktivität und Kapitalallokation hinaus sakrosankt sind, kann die neuerliche Hinwendung zu einem vermeintlich vom Verwertungsprimat nicht korrumpierten Nationalismus nicht ausbleiben. In dem Dilemma, auf den Kapitalismus als Garanten eigener Reproduktion nicht verzichten zu wollen und seine destruktiven Auswirkungen auf die eigene Lebensrealität zu fürchten, treibt die rechte EU-Opposition Blüten, deren Gleichsetzung mit antikapitalistischer EU-Kritik unter Linken Wunder eilfertiger Affirmation wirkt. Indem der postmoderne Antifaschismus zwar neofaschistische Bewegungen bekämpft, den Sozialrassismus der bürgerlichen Mitte aber weitgehend ignoriert, könnte die sich ideologiekritisch gebende Unterminierung sozialrevolutionärer Proteste und das Ankommen einst rebellischer Jugendlicher in den herrschenden Verhältnissen selbst dann, wenn deren Reichtumsversprechen nur noch ein Schatten seiner selbst ist, nicht besser funktionieren.

"Die Umkehr der Werte, wie sie der Faschismus betrieb, findet im Neoliberalismus seine Neuauflage. Was sich aber in der Naziideologie als einfache Negation darstellte, erfolgt im neoliberalen Diskurs als 'Negation der Negation': Man bemächtigt sich humanistischer Werte, um sie ins Gegenteil zu verkehren.
Die Ersetzung des Klassenparadigmas durch das zivilgesellschaftliche zeigt, wie sehr die Elite des 'antineoliberalen' Lagers selbst Teil der neoliberalen Hegemonie ist. Für Antonio Gramsci war die Zivilgesellschaft eine vorgeschobene Bastion kapitalistischer Machtentfaltung, von den Beherrschten verinnerlichte Herrschaft. Den Neo-Gramscianern erscheint sie als ihr ureigenstes Territorium, als Gegenmacht von unten, wenn nicht gar als neues revolutionäres Subjekt. In Wahrheit ist sie die neoliberale Entsprechung der 'Volksgemeinschaft'. Weniger terroristisch, aber um so effektiver: Unterdrückung im liberalen Konsens."
(S. 201)

Die Effizienz dieser hochentwickelten Form von Widerspruchsregulation erwächst gerade daraus, daß "die Verwerfungen, die nach Widerstand schreienden Widrigkeiten des Systems (...) gleichzeitig auch seine Stärke ausmachen. Es sind die verinnerlichten Vorgaben der Konkurrenzgesellschaft, die solidarischen Widerstand möglichst niedrig halten" (S. 200). Die Feindseligkeit und Isolation der Marktsubjekte nicht als wesentliches Mittel einer Sozialkontrolle zu kritisieren, die den Menschen ihm zutiefst zuwiderlaufenden Interessen unterwirft, begründet den großen Nutzen des postmodernen Antifaschismus für einen Imperialismus, der die Bevölkerung der Ukraine nicht von ihren Oligarchen, sondern dem Einfluß Rußlands zu befreien sucht und sich dabei neofaschistischer Kräfte bedient, ohne der eigenen moralischen Suprematie dabei verlustig zu gehen. Solange der neoliberale Sozialdarwinismus nicht als zentrales Herrschaftsprinzip anerkannt, sondern eine nationalistische Regression zur Wurzel allen Übels erklärt wird, die gleichzeitig von der bürgerlichen, sich nicht nur im Fall der Sozialdemokraten und Grünen als antifaschistisch gerierenden Mitte aktiv induziert wird - "Du bist Deutschland", "Wir. Dienen. Deutschland" -, so lange wirkt der postmoderne Antifaschismus, wie Arnold Schölzel erklärt, auch als eine Form des "präventiven Antikommunismus" (Costanzo Preve), dem der in Europa grassierende Rechtspopulismus lediglich als Sparringspartner für künftige Auseinandersetzungen um den sozialen Antagonismus dient.

Stefan Huth stellt das Buch im jW-Zelt vor - Foto: © 2014 by Schattenblick

Buchpräsentation auf dem UZ-Pressefest in Dortmund
Foto: © 2014 by Schattenblick

Die herrschende Konsensproduktion dialektisch durchdringen - eine Zukunftsaufgabe

Das Buch "Dialektik der Konterrevolution" stellt in den Augen des jW-Chefredakteurs nicht zuletzt ein Kompendium über "linke Esoterik" dar, anders wäre die Vorstellung, "Demokratie, Selbstbestimmung und sogar Sozialismus mit Hilfe des Imperialismus und dessen geistigem und politischem Fußvolk einführen zu können", wohl kaum zu beschreiben. Für diese Entwicklungen quasi einen sechsten Sinn zu haben, habe Werner Pirker zu einem "begnadeten Ästheten für linken Kitsch, für das absolut nicht Zusammengehörige" gemacht. Das wiederum, so Schölzel, bestätige den Satz "keine gute Politik ohne gute Ästhetik". Pirker habe auch dort, wo er "einen Widersacher beim Schopf hatte, der es mehr oder minder verdient hatte, von ihm traktiert zu werden, (...) vom Ganzen der Verhältnisse" berichtet. Und das mache "nicht nur große Dichtung, sondern auch große Publizistik aus".

Stefan Huth faßte anschließend noch einmal das schon rein mengenmäßig erhebliche Ausmaß des Wirkens Werner Pirkers bei der jungen Welt zusammen und lobte "die politische und begriffliche Klarheit" seiner Texte. Da gäbe es noch viele Schätze zu heben, weshalb das vorliegende Buch sicher nicht die letzte Publikation einer Auswahl seiner Texte sei. Im Aufriß der vier Kapitel "Revolution und Konterrevolution", "Von Krieg zu Krieg", "Weltproblem Nahost" und "Die neoliberale Internationale" zeige sich bereits der größere Rahmen seines politischen Interesses. Insbesondere jetzt, da kriegerische Konflikte an mehreren globalen Brennpunkten entflammen, werde der jW-Redaktion jeden Tag schmerzlich bewußt, wie sehr Werners kritische Stimme fehle, so Huth in Würdigung seines verstorbenen Kollegen.

Zu erkennen, wie sehr dialektisches Denken als Gegenmittel zur alltäglichen Verhöhnung jedes Menschen durch die Vorwands- und Bezichtigungskonstrukte massenmedialer Indoktrination taugt, könnte als das Vermächtnis der schreiberischen Produktivität Werner Pirkers bezeichnet werden. Seine anläßlich der Vorstellung seines Buches aufgegriffene Instrumentalisierung emanzipatorischer Kritik zum Zwecke ihrer reaktionären Aufhebung kommt eine geradezu wegweisende Bedeutung zu, denkt man etwa daran, daß die sich weiter verschärfende Ausbeutung von Mensch und Natur vor dem Hintergrund der Finalität fossiler, klimatischer und anderer Ressourcen anwachsenden Legitimationsbedarf erzeugt. So ist der Mensch nicht nur der imperialistischen Feindbildproduktion öffentlicher und privatwirtschaftlicher Medien ausgesetzt, er ist auch Adressat einer PR-Industrie, der das Greenwashing des grünen Kapitalismus, der Zynismus des Social sponsoring oder die Suggestionen der ethischen Unternehmensführung eine der leichtesten Übungen sind.

Werden künftig die Bomber, die ihre tödliche Fracht über aufständischen Subjekten postkolonialer Herrschaft entladen, mit Agro-Sprit betankt, der den Menschen zuvor noch vom Teller genommen wurde, dann fördert der kleine CO2-Fußabdruck der Kriegsmaschinerie die Blutspur, die sie hinterläßt, erst recht zu Tage. Wenn israelische Soldaten sich vegan ernähren, um Tierleid zu mindern, dann leiden die von ihnen attackierten Kinder nicht weniger. Wenn ein Unternehmen für fair hergestellte Kleidung die Anhebung eines Hungerlohns für die Näherin in Bangladesch zum Verkaufsargument macht, dann ändert das nichts daran, daß sie, in jungen Jahren physisch verbraucht, jede Lebensperspektive einbüßt. Wenn die Gleichstellungsbeauftragte der Bundeswehr mehr Soldatinnen an die Front schickt, dann geht der emanzipatorische Anspruch des Feminismus im militaristischen Patriarchat einer Kriegführung auf, deren Opfern es gleichgültig ist, welchen Geschlechts die Person ist, die den Abschuß der Hellfire-Rakete aus transkontinentaler Distanz auslöst.

Die "Dialektik der Konterrevolution", wie sie Werner Pirker unter besonderer Hinsicht auf die Geschichte der Sowjetunion verstand, schreibt sich fort in einem Frieden der Paläste, den als Krieg der Hütten zu dechiffrieren durch die Mimikry herrschender Konsensproduktion unmöglich gemacht werden soll. Um zu lernen, wie dies dennoch möglich ist, hat dieser Autor Beispielhaftes geleistet.


Fußnoten:

Zitate mit Seitenangaben aus:

Werner Pirker
Dialektik der Konterrevolution
Schriften gegen Restauration und Weltordnungskriege
Promedia Verlag, Wien, 2014
224 Seiten, 17,90 Euro
ISBN 978-3-85371-378-5

Zu Werner Pirker im Schattenblick siehe auch:

REZENSION/183: Wilhelm Langthaler, Werner Pirker - Ami go home (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar183.html

INTERVIEW/160: Konsequente Sichten, ein Gespräch mit Werner Pirker (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0160.html

KULTUR/0967: Mut zum Streit - Werner Pirker bleibt unvergessen (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/sele0967.html

Zur Diskussion um den postmodernen Antifaschismus siehe auch:

BERICHT/176: Herrschaft in der Krise - Krieg der Janusköpfe (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0176.html

20. August 2014


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