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BUCHBESPRECHUNG/075: Seksik - Die besondere Gabe des Nathan Lewinski (SB)


Laurent Seksik


Die besondere Gabe des Nathan Lewinski



Die Vorstellung, hellsehen und Gedanken lesen oder gar übertragen zu können, hat schon viele Menschen umgetrieben. Sie läßt ebensoviel Raum für Projektionen wie für die tiefere Beschäftigung mit Fragen, die sich mit dem Menschen, seinen Möglichkeiten und vor allem seinen Interessen befassen. Entsprechend vielfältig ist die Zahl der zu diesem Thema erschienen Publikationen. Zugleich war und ist dies Objekt mehr oder weniger ernstzunehmender wissenschaftlicher Studien. Das Geheimste und Innerste des Menschen zu postulieren, zu ergründen und nutzbar zu machen, ist nicht zuletzt Gegenstand psychologischer und neurologischer Forschung, wo sich die Grenzen zwischen Wissenschaft empirischen Anspruchs und Spekulation bis Wunschdenken verwischen.

Auch, wenn der Titel den Eindruck erweckt, es ginge um Gedankenlesen nimmt der Autor Laurent Seksik diese Vorstellung keineswegs ernst. Sie ist vielmehr sein erster Witz und nicht die skurrilen Verwicklungen, die es mit sich bringen mag, wenn man eine solche Gabe einsetzt oder sie zu verheimlichen sucht. Die fehlen nämlich und hätten doch mit ein wenig Einfallsreichtum ein unterhaltsames Thema für einen Schelmenroman sein können, unabhängig davon, in welche Rahmenhandlung man ihn nun bettet. Leider ist der Autor des Fabulierens nicht mächtig und produziert lediglich das, was so manchem auf die Schnelle dazu in den Kopf kommen und später als zu peinlich fallengelassen würde: wirre Tagträume eines Bengels, der durch die Weltgeschichte treibt, dem bei Frauen nur Sex einfällt und der das Problem hat, ein Jude zur falschen Zeit zu sein, aber das auch nicht wirklich. Denn trotz aller Erniedrigung und Schmerzen, die er erfährt, bleibt er durch die Augen des Autors immer außen vor und steht letztlich über den Dingen. Das macht den Jungen mit seinem offen wirkenden, sich spöttelnd der Zustimmung des Lesers gewissen, altklugen Geplauder nicht anziehender.

Als Kind hatte ich immer großen Spaß daran, eine Fliege zu fangen, ihr die Flügel auszureißen und sie dann in einem Spinnennetz auszusetzen. Eine tarantelgroße Spinne, die den Ankömmling sogleich bemerkte, glitt zu ihrem Opfer. Gebannt beobachtete ich dieses unmenschliche Schauspiel. Das reinste Trauerspiel der Natur, für das ich in meiner kindlichen Grausamkeit die Verantwortung trug. Die Spinne tötete die Fliege. Jetzt hing mein eigenes Leben nur noch an einem seidenen Faden. Drei Vogelspinnen waren hinter mir her. Wien war mein Spinnennetz. Mams Glaube an eine Gerechtigkeit Gottes erwies sich als begründet. (S. 60-61)

Nathan wächst in einer kleinen polnisch-jüdischen Stadt auf. Eine besondere Beziehung verbindet ihn mit seinem Onkel mütterlicherseits, der durch seine Gabe, die Gedanken anderer lesen zu können, in dem Ort in Ungnade gefallen ist. Daß er sich täglich mit ihm trifft, muß er geheimhalten. Bald stellt sich heraus, daß der Junge die gleiche Fähigkeit besitzt, und das Schicksal nimmt seinen Lauf. Der Onkel wird aus Furcht vor seiner Hellsichtigkeit ermordet, und Nathan muß, weil ihm das gleiche blüht, seine Gabe verheimlichen. Die Eltern schicken ihn schließlich nach Wien zu Dr. Freud, in der Hoffnung, der könne ihn davon heilen. Freud jedoch träumt von einer großen Karriere mit Hilfe des Jungen, was dieser in seinen Gedanken liest und sich absetzt.

Er war nun einmal wie besessen davon: In seiner Vorstellung hatte ich in seinem Sessel Platz genommen, und er lag langgestreckt auf dem Sofa. Und ohne dass er auch nur ein Wort zu sagen brauchte, verschaffte ich ihm Einblick in seine verstrickte Gedankenwelt. Doktor Freud hatte einen ebenbürtigen Gesprächspartner gefunden. Mit meiner Hilfe würde er endlich gewissenhaft arbeiten können. Dann jagte plötzlich ein Gedanke den nächsten. In einem Amphitheater voll weißbärtiger Gelehrter ließ der Alte, als Zeremonienmeister gekleidet, einem jungen Mann wie beim feierlichen Ritterschlag applaudieren. Dieser geniale Schüler des Meisters war schon wieder ich! (S. 54-55)

Daraufhin beginnt eine lange Odyssee. Er wird gekidnappt und zur Schau gestellt. Bei einer Sondervorstellung liest er 1932 Hitlers schwärzeste Gedanken und fällt diesen - erfolglos - mit einem Taschenmesser an.

Ich sah eingeschlagene Fensterscheiben, geplünderte Häuser und brennende Synagogen. Weinende Kinder, Leichen, die aus Fenstern geworfen wurden, Bücher, die man auf der Straße verbrannte. Jubelnde Heere von Zivilisten, Sterne auf Mantelaufschlägen... Die Gesichter von Gefolterten, Menschen, die durch die Kälte gingen, Blutspuren im Schnee, Menschen, die in kleinen Häuschen lachten, frohlockende Soldaten, Gräben voller Frauen und Männer, Kinder, denen der Kopf abgeschlagen wurde. Züge. Tausende von sich in Bewegung setzenden Zügen... Hohe, Rauch spuckende Schornsteine. Nackte Leichen. Tausende von nackten Leichen, die verbrannt wurden. Ich sah, wie mein Volk umgebracht wurde. (S. 104-105)

Mit der Hilfe eines jüdischen Polizeiinspektors entkommt er der Gefangenschaft und emigriert in Begleitung einer Zionistin nach Palästina, arbeitet in einem Kibbuz, wird in den Dienst des jüdischen Geheimdienstes gezwungen, reist nach Europa zurück, um seine Eltern vor den Nazis - eigentlich wollte sich Hitler mit der Besetzung Polens an Nathan rächen - zu retten.

Das Ekelpaket bewegte sich in einem Affenzahn genau auf meine Familie zu! In den Zeitungen, die mir in die Hände fielen, rätselte man über seine genauen Motive. Warum bloß wollte er unser Land besetzen? Ein Bauernvolk in die Unterwerfung zwingen? Ich allein kannte die wahren Gründe. Es ging um persönliche Rache. Das Monster wollte sich für die Beleidigung rächen, die ihm in der Brudenbar widerfahren war. Dafür sollten ihm Mama und Papa büßen. (S. 162)

Auf dem Weg nach Hause, 1942, wird er krank und erlebt den Tod seiner Eltern aus der Ferne durch die Augen seiner Mutter mit. Er erlebt sich im Körper einer Ratte, schwebt lange zwischen Tod und Leben, wird vom Selbstmord abgehalten, landet in den Vereinigten Staaten und erzählt seine Geschichte Henry Kissinger, der ihn sogleich in seine Karriere mit einplant.

Der Autor springt zwar von einem Reizthema zum nächsten und streut bekannte Namen ein, weckt jedoch damit kein anhaltendes Interesse, weil er sich jedem in einer Oberflächlichkeit widmet, die nur zu einem 'Aha, das schon wieder!' führt. Diese Art zu schreiben mag heutigen Konsumgepflogenheiten entsprechen und einem Leser entgegenkommen, der außerstande ist, über längere Zeit einen Faden zu halten, doch verfolgt der Autor auch dies nicht konsequent genug, wenn man ständig auf Bekanntes stößt. So verwandelt er alles, was eine Aussage haben könnte, in einen allgemeinen Brei. Dieses Buch ermöglicht weder, sich dem ernsten Thema anzunähern, das auch angesprochen wird, noch ist es witzig oder unterhaltsam. Es ist einfach daneben.


Laurent Seksik
Die besondere Gabe des Nathan Lewinski
Roman
Übersetzung aus dem Französischen von Kerstin Krolak
Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2004
7,90 Euro
ISBN 3 499 23631 1