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REZENSION/024: Siegfried Lenz - Die Auflehnung (Familiendrama) (SB)


Siegfried Lenz


Die Auflehnung



Siegfried Lenz beschreibt in seinem Roman "Die Auflehnung" den Alltag und Existenzkampf der Familie Wittrop, die von der Teichwirtschaft - der Aufzucht und dem Verkauf von Speisefischen - lebt. Der Teichwirt Frank Wittrop ringt gemeinsam mit seiner gichtkranken Frau Sophie, dem 19jährigen Sohn Kai und der Tochter Ute um das Fortbestehen des schwer angeschlagenen Betriebs, dem durch Veruntreuungen eines ehemaligen Mitarbeiters in einer schweren Zeit erheblicher Schaden entstanden war.

Im Verlauf der Erzählung eskaliert der Streit mit diesem Mitarbeiter, an dem mehrere Mitglieder der Familie Wittrop aus ganz unterschiedlichen Gründen beteiligt sind und der mit dem gegenseitigen Versuch der Vernichtung der Lebensgrundlagen sowie beinahe mit einer Mordtat endet.

In einem parallel verlaufenden Handlungsstrang erhält man Einblick in das Leben von Franks Bruder Willy, der als hochbezahlter und hochgeschätzter Teekoster plötzlich mit dem Verlust seiner außerordentlichen Geschmackssensibilität konfrontiert ist. Er zieht sich an den Ort seiner Kindheit zurück, um nach dem schweren Schlag mit sich ins Reine zu kommen - aufs Land zu den Teichanlagen seines Bruders Frank. Verstrickt in seine eigenen Hoffnungen und Zweifel, wird Willy zunehmend in die Ereignisse innerhalb der Familie seines Bruders verwickelt.

Als die Fischbestände in den Teichen von Willies Bruder Frank neben den Machenschaften von dessen Erzfeind Berni auch noch durch einem Schwarm Kormorane massiv bedroht werden, gegen deren Einfall aus gesetzlichen Gründen nichts Wirksames unternommen werden darf, wird der zurückhaltende und duldsame Willy schließlich initiativ.


In seinem Roman "Die Auflehnung" beschreibt Lenz das Aufbegehren der Charaktere seines Buches gegen die Widrigkeiten ihres Alltags. Jeder kämpft dabei seinen eigenen Kampf. Auch wenn er hin und wieder von einem anderen Unterstützung erfährt - die Auflehnung ist jeweils ganz persönlicher Natur:

Willy akzeptiert den Verlust seines hochsensiblen
Geschmacksempfindens nicht.

Frank kämpft gegen die Folgen des Betrugs durch den ehemaligen engen Mitarbeiter Berni und gegen alle anderen Gefahren (Kormorane, Ratten, Krankheitsbefall), die seinen Fischen und damit seiner Existenz drohen.

Franks gichtgeplagte Frau Sophie läßt sich durch ihr Leiden nicht davon abbringen, in Haushalt und Betrieb ihre Aufgaben wahrzunehmen.

Der 19jährige Kai gibt, obwohl er seinem Vater unentbehrlich ist, seine Perspektive nicht auf, zu studieren und eines Tages mit einem Forschungsschiff die Fische der Tiefsee zu erkunden. Und Franks Tochter Ute hält entgegen aller Beeinflussungsversuche ihrer Familie an ihrem Verhältnis zu Berni fest, dem betrügerischen ehemaligen Mitarbeiter, der ihr eine gemeinsame Zukunft versprochen hat.

Bei all diesen persönlichen Formen der Auflehnung ist für Lenz die Hoffnung ein wichtiges Element. Ja allein in der Tatsache, die Hoffnung nicht aufzugeben, scheint für ihn ein Aufbegehren zu liegen:

Noch hatten sich die Hoffnungen, die er in den Bau [eines Hauses für Feriengäste, A. d. Red.] setzte, nicht erfüllt - doch seine Ausdauer und sein Trotz und der Starrsinn, die Voraussetzung aller Selbstbehauptung hier im Tal, bewogen ihn, die Hoffnung nicht aufzugeben. (S. 33)

An dieser Stelle wird besonders deutlich, daß Lenz mit "Auflehnung" im Grunde Selbstbehauptung meint. Und das Interesse an der eigenen Selbstbehauptung ist auch der Leim, der die Familie Wittrop zusammenhält. Im folgenden Beispiel erinnert Sophie ihren Sohn Kai an diese gemeinsame Basis:

Sprich nicht so von Vater. Er ist nicht bedenkenlos. Er tut nichts andres, als das zu verteidigen, wovon wir hier gelebt haben und noch leben wollen. Und er tut es mit den Mitteln, die ihm gegeben sind. (S. 296)

Daß der Zusammenhalt der Familie nicht auf einer Wertschätzung des anderen beruht, wird in vielen kleinen Gesten ihres Alltagslebens deutlich, beispielsweise in einem Gespräch Frank Wittrops mit seiner Frau Sophie:

Mehr glaubte sie nicht sagen zu müssen, und da er wußte, daß seine Mißbilligung ihr nichts bedeutete, sah er sie nur stirnrunzelnd an und wollte dann zum Schuppen hinüber. (S. 135)

Die häufige Mißachtung des anderen schließt aber nicht aus, daß sich die Familienmitglieder hin und wieder mit liebevoller Fürsorge einander zuwenden. Jeder von ihnen weiß genug darüber, wie harte Anforderungen die Selbstbehauptung mitunter stellt und bringt daher zwischenzeitlich ein entsprechendes Verständnis für den anderen auf. Aber es ist nie von Dauer.

Daß das gemeinsame Anliegen, sich selbst im Leben zu behaupten, nie wirklich ein gemeinsames Anliegen sein kann, wird besonders im Konflikt zwischen Ute und ihrem Vater offensichtlich, der sie dabei überrascht, als sie Berni - der ihr eine gemeinsame Zukunft auf der Grundlage seiner Nerzfarm versprochen hatte - Fischabfälle für seine Nerze bringen will. Denn an dieser Stelle sind die Selbstbehauptungsinteressen von Vater und Tochter direkt gegeneinander gerichtet. Jeder verteidigt sein wirtschaftliches Überleben, auch wenn das von Ute noch in der Zukunft liegt.

Ute entging die Warnung nicht, dennoch bückte sie sich plötzlich, packte mit beiden Händen den Beutel und riß ihn an sich und versuchte ihn mit ihrem Körper abzudecken, als auch ihr Vater nach dem Beutel griff, heftig und rücksichtslos. Mit einer kurzen schroffen Bewegung brachte er ihn an sich und hob zurücktretend eine Hand, so, als sei er bereit, sie zu schlagen, falls sie noch einmal nach dem Beutel greifen wollte, und obwohl Ute wußte, daß er es tun würde, wich sie keinen Schritt zurück. (S. 179)

Hier zeigt sich, wie schnell sich der Kampf um Überlebensperspektiven gegen die Menschen richten kann, die einem vermeintlich am nächsten sind. Denn die Auflehnung im Sinne der Selbstbehauptung richtet sich in letzter Konsequenz auch gegen Menschen aus der unmittelbaren Umgebung, die einem ja allein durch ihre bloße Existenz Nahrung und Lebensraum streitig machen.

Wie erbarmungslos die Selbstbehauptung des Menschen nicht nur gegenüber seinesgleichen, sondern erst recht gegenüber anderen Lebewesen ist, wird in Lenz Roman nicht nur beim produktionsgemäßen Umgang der Wittrops mit den Fischen deutlich, sondern auch in der ganz alltäglichen Abgestumpftheit und Mitleidslosigkeit, die sie gegenüber den Lebewesen in ihrer Umgebung zeigen:

Er sah auf den schnappenden Fisch in der Hand seines Vaters, sah atemlos zu, wie die Hand drückte und drückte, mit soviel Kraft, daß der Rücken platzte und das rosige Fleisch zwischen den Fingern aufschimmerte. (S. 108)
Nacheinander ließ er dann vier Eier, die er im Nest gefunden hatte, einfach auf die Erde fallen; sie zerbrachen ohne einen Laut, ihre Dotter zogen sich sämig auseinander. (S. 177)

Das Versprechen, das in dem Titel "Die Auflehnung" enthalten ist, wird in dem Roman von Lenz zunächst nicht eingelöst, denn Selbstbehauptung - sowohl im physischen als auch im psychologischen Sinne - kann eigentlich nicht als außergewöhnliche Handlungsweise betrachtet werden. Daß jeder letztendlich für sich allein kämpft, damit nur die Stärksten überleben, hat bereits Darwin zum Naturgesetz erhoben. Die von Lenz beschriebene Auflehnung ist Teil dieses großen Überlebensplans, dem sich trotz seiner Unerbittlichkeit und grausamen Konsequenzen nur sehr selten jemand widersetzt. Was Lenz als Auflehnung zu empfinden scheint, ist nichts anderes als die Beteiligung am "Kampf ums Dasein", und daher viel eher eine grundlegende Anpassungsleistung als ein Auflehnung.

Doch glücklicherweise beläßt es Lenz in seinem Roman nicht ganz bei einer bloßen Verneigung vor dem menschlichen Selbstbehauptungswillen, sondern - wenn auch ins Reich fernöstlicher Lebensphilosophie verbannt - deutet zumindest an, daß es auch Denkweisen gibt, die nicht die Verteidigung der sozialen und wirtschaftlichen Identität zur Grundlage haben. Denn er läßt Willy den tieferen Sinn der japanischen Teezeremonie folgendermaßen erläutern:

Das wäre bestimmt nichts für mich, sagte Corinna; der Tee, den man nach Regeln trinkt, kann einem doch nicht schmecken, oder? Im Gegenteil, sagte Willy, er schmeckt einem besonders gut, aus verschiedenen Gründen - vor allem aber, weil er die Trinker verbindet, weil er vergessen läßt, daß es soziale und gesellschaftliche Unterschiede gibt. Darum liegt in diesem Zeremoniell eine Verehrung des Möglichen; was das Leben anscheinend nicht zuläßt, für die Dauer des Trinkens kann man sich von allem befreien, was einen beschwert. (S. 363)

Indem Lenz schreibt "was das Leben anscheinend nicht zuläßt", relativiert er das zuvor Gesagte schnell wieder, so als hätte er diesen Verstoß gegen das Gebot der Selbstbehauptung, der in einer Aufhebung der sozialen und gesellschaftlichen Unterschiede liegt, sogleich wieder bereut.


Fazit

Man könnte nun zu dem Schluß kommen, daß Lenz seinen Roman der menschlichen Selbstbehauptung im verehrungswürdigen Gewand der Rebellion des Einzelnen gegen die Widrigkeiten des Lebens gewidmet hat. Wenn da nicht noch Willy wäre, der - beabsichtigt oder nicht - der Romanhandlung am Schluß die entscheidende Wende gibt.

Indem Willy sich rückhaltlos auf die Seite seines Bruders Frank stellt und mit einem geliehenen Gewehr die gesetzlich verbotene Jagd auf die Kormorane aufnimmt, gibt er nicht nur sein soziales Image als feinsinniger, von friedliebender Toleranz durchdrungener Teekoster auf, sondern bringt sich auch physisch in Gefahr, für sein Tun gesetzlich belangt zu werden. Indem Willy den Sorgen und Nöten seines Bruder den Vorrang gibt, übertritt er an dieser Stelle nicht nur das betreffende Gesetz zum Schutz der Kormorane, sondern er übertritt auch das Gesetz der Selbstbehauptung - weil er zumindest in gesellschaftlichem Sinne auf sie verzichtet. Ein bewunderungswürdiger Entschluß, der dem Titel des Romans seine Berechtigung wiedergibt.

Insgesamt ist "Die Auflehnung" ein lesenswertes Buch, das auf unterhaltsame Weise nachdenklich stimmt und das dem Leser viel Raum läßt, indem es ihn nicht mit allzu penetranten moralischen Wertungen und literarischen Reizstoffen überschüttet.


Siegfried Lenz
Die Auflehnung
Roman um den Existenzkampf einer Familie
Hoffmann und Campe Verlag, 1994
432 Seiten
ISBN 3-455-04252-X