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REZENSION/027: Harry Thürk - Die Stunde der toten Augen (Krieg) (SB)


Harry Thürk


Die Stunde der toten Augen



Wenn "Die Stunde der toten Augen" geschlagen hat, wird gestorben, so profan und reißerisch könnte man den Landserroman des ostdeutschen Autors Harry Thürk ankündigen, und man würde ihm durchaus gerecht. Man könnte ihn jedoch auch als anspruchsvolles Werk der Antikriegsliteratur in eine Reihe mit dem Archteyp dieses Genres, "Im Westen nichts Neues", stellen, was nicht nur angemessen wäre, sondern gleichzeitig die notwendige Relativierung dieses aus unerfindlichen Gründen fast alle diesem Genre gewährte Beachtung auf sich vereinenden Klassikers von Erich Maria Remarque betriebe. Und schließlich ist es auch eine gut erzählte Geschichte über eine Zeit, in der sich Himmel und Hölle in Aufruhr befanden und die Menschen reihenweise in dem Riß verschwanden, der sich zwischen diesen Antipoden alles Vorstellbaren aufgetan hatte.

Es ist schon erstaunlich, wie wenig bekannte Romane gegen den Krieg aus den Federn einer Nation geflossen sind, die im Mittelpunkt zweier welterschütternder Kriege dieses Jahrhunderts gestanden hat. Vielleicht muß man es aber auch als Zeichen von Qualität werten, wenn die schwarzen Perlen einer realistischen und bemühten Annäherung an sprachlose Schrecken und Grenzbereiche des Erträglichen ein Nischendasein im Literaturbetrieb fristen. Denn wenn es gelingt, die Nichtigkeit und Vergeblichkeit des Erdenwurms am Beispiel einer seiner absurdesten, wenn man die Kosten-Nutzen Rechnung menschlichen Wohlbefindens aufmacht, und gleichzeitig rationalsten, wenn man das Vergießen von Blut als wesentliches Moment alles Nährens und Lebens zugrunde legt, Tätigkeiten, der des Kriegshandwerks, darzustellen, überschreitet man schnell die Tabugrenze einer an raumgreifenden Perspektiven und tiefgründiger Sinnerfüllung interessierten Leserschaft.

Harry Thürk, der den Krieg selbst noch als junger Soldat miterlebt hat, versteht es ausgezeichnet, den handwerklichen Teil des Tötens frei vom Zwang zu moralischer Rückkopplung zu zeichnen und bietet damit auch dem an originärer Landserhistorie Interessierten guten Lesestoff. Seine Protagonisten - denn Helden sind sie bei aller soldatischen Fähigkeit zum Glück nicht - bilden den Kern einer Kompanie Fallschirmjäger, die im letzten Kriegswinter in Ostpreußen an der Grenze zu Polen mit Kommandoeinsätzen hinter den russischen Linien das aussichtlose Unterfangen verfolgen, den großen Angriff auf das Reich nicht etwa zu stoppen, sondern nur ein wenig hinauszuschieben. Das Erörtern des strategischen Zwecks dieses Hinauszögerns des Unvermeidlichen, das möglichst weite Vordringen der Amerikaner, um russischen Gebietsgewinn in Deutschland zu begrenzen, bleibt den Offizieren überlassen, die jedoch nicht an den Einsätzen hinter der Front teilnehmen und dementsprechend selten auftauchen.

Bei den Landsern geht es eher um die ganz profanen Aspekte des kriegerischen Geschäfts. Dabei stellt das lautlose Töten mit dem Messer das kunstvolle Meisterstück dieser Elitetruppe dar und wird dementsprechend detailliert geschildert. Nur die durchaus körperlichen Reaktionen der einzelnen Soldaten nach dem erfolgreichen Abstechen eines ahnungslosen Russen lassen erahnen, daß mit der Vernichtung des anderen auch das Wissen um die eigene Flüchtigkeit einhergeht. Harry Thürk verurteilt nicht den Akt des Tötens, sondern zeichnet die Soldaten als Wesen, die zu wilden Tieren mutieren können und dann Klauen und Zähne so effizient wie möglich einsetzen. Im Unterschied zum Anführer des Trupps, einem Unteroffizier mit dem stehenden Spruch "Wo ich bin, da wird gestorben", geht das Töten den einzelnen Soldaten jedoch so nahe, daß sie ernsthafte Probleme haben, in der ruhigen Zeit im Quartier nicht durchzudrehen. Ihr Lehrmeister hingegen betreibt das Abstechen und Erschießen als eine Art lustvollen Sports und wird dadurch zu einer dämonischen Gestalt, in der all das kulminiert, was die Unbarmherzigkeit des Krieges in seiner reinen Grausamkeit ausmacht.

Rückblenden auf das Vorkriegsleben eines jeden Soldaten zeigen, daß der Krieg schon in der Jugend der Landser seinen unheilvollen Schatten vorausgeworfen und sich die Schwierigkeit einer fugenlosen Akzeptanz des Tötens und Zerstörens schon in den biografischen Widrigkeiten angekündigt hat, die vor allem durch die Fremdheit des anderen Menschen transparent werden. Das Verhältnis der Soldaten untereinander ist von Distanz und vorsichtigem Belauern bestimmt, und nur das merkwürdige Treffen eines Trios, das aus einem russischen Offizier besteht, der von einer deutschen Frau versteckt wird, die sich wiederum in eine der zentralen Figuren unter den Soldaten verliebt, eröffnet die Dimension einer Verständigung über die Grenzen der Konvention und Feindschaft hinweg. Wenn das Buch eine Botschaft hat, dann die, daß der Schritt auf den andern zu, unabhängig von Nationalität und Ideologie, auf jeden Fall weiterbringt als das Bestehen auf dem Blutrausch und dem durch Zerstörung induzierten Vergessen.

Bei der Zeichnung der einzelnen Charaktere stellt der Autor seine Beobachtungsgabe unter Beweis, die die Motive hinter wohlzieselierten Umgangsformen deutlich herauszustellen weiß. So ist der junge Leutnant der Kompanie nicht einfach nachlässig, wenn er auf mustergültiges Verhalten der Truppe verzichtet und sogar mit beiden Augen wegsieht, als zwei Feldgendarmen, die sich unbeliebt gemacht haben, unter fragwürdigen Umständen in einem Minenfeld umkommen:

Das Gesicht Alfs war im Grunde ein Kindergesicht. Nur fehlte ihm die Naivität eines Kindergesichts. Alf konnte nicht verbergen, daß er ein berechnender Mensch war, es stand auf seinem Gesicht geschrieben, in seinen Augen. Es war eine Art Berechnung, wie man sie öfter antrifft: ein Mensch, der sich selbst grenzenlos offen eingesteht, daß seine Anlagen und seine erworbenen Fähigkeiten nicht ausreichen, das zu erfüllen, wofür man ihn bestimmt hat. Ein Mensch, der aus diesem Grund die Klaviatur der sanften Verbindlichkeit so lange geübt hat, bis er sie mit raffinierter Sicherheit beherrschte und mit ihrer Hilfe die Wechselfälle, die sich aus dem Mißverhältnis zwischen seinen Fähigkeiten und seinen Aufgaben ergeben, zu meistern verstand, je nach den Umständen ungestüm oder zögernd, manchmal scharf oder mit scheinbarer Nachsicht, die nichts weiter war als in Berechnung umgemünzte Unfähigkeit. Er verbreitete um sich eine Atmosphäre behaglicher Gutherzigkeit. Er verbreitete sie sehr bewußt, und gerade deshalb merkte selten jemand, daß es nur Berechnung war.

Natürlich fehlen bei aller erzählerischen Nüchternheit nicht die Momente, in denen Bilanz gezogen wird und die Reflektionen eines im Sterben liegenden Soldaten in die Sphäre einer pädagogisch anmutenden Erzählkultur abheben. Doch die dramaturgische Überhöhung wirkt wenig störend, hat man doch das Leiden und das Entsetzen der Landser auf höchst transparente Weise miterlebt und weiß die ideologisierende Note dementsprechend zu würdigen. Was in vielen Romanen wie eine humanistische Pflichtübung wirkt, fügt sich bei Harry Thürk nahtlos in die besinnlich erzählte Geschichte ein, deren Tempo lediglich bei konkreter Feindberührung rasante Züge annimmt und auch dann in Sequenzen zeitlupenartiger Nahaufnahmen verfallen kann:

Er schwieg und lauschte dem Maschinengewehrfeuer, das wieder aufgeflackert war. Er hörte Zado sagen: 'Das sind wir. Eine Generation, der sie das Rückgrat gebrochen haben. Wir haben es erst gemerkt, als wir uns aufrichten wollten. Wir können uns nicht allein aufrichten. Ich glaube, es ist nie zuvor eine Generation so zerbrochen gewesen wie wir. (...) Sie haben uns genommen, wie wir von unseren Müttern kamen, und haben uns befohlen, was wir zu tun haben und was wir denken dürfen. Sie haben uns gesagt, wer zu töten ist und auf welche Weise. Sie haben uns Orden gegeben und Marketenderschnaps. Sie haben uns in ganz Europa herumgehetzt, so lange, bis uns ganz Europa verflucht hat. Sie haben uns getötet. Lange bevor wir in diesem Loch krepieren werden, haben sie uns getötet ...'

Mit Anklagen dieser Art geht der Autor recht sparsam um, was ihnen umso mehr Gültigkeit verleiht. Der 1927 in Ostpreußen geborene Harry Thürk gehört der Generation einer Kriegsjugend an, die die ganze Wucht nationalsozialistischer Indoktrination zu spüren bekommen hat. Da die ideologische Konditionierung ansonsten ausgeblendet bleibt, merkt man diesem 1957 erstmals erschienenen DDR-Roman seine Herkunft nicht an. Dem Mitteldeutschen Verlag darf wohl zu diesem Glücksgriff gratuliert werden, denn mit der Neuauflage des Jahres 1994 wurde an eine fast vergessene Nachkriegstradition der deutschen Literatur erinnert, die zu Unrecht ein Mauerblümchendasein zwischen den gefeierten Werken so prominenter DDR-Autoren wie etwa Stephan Hermlin und Erwin Strittmatter führt, da sie zwischen Landserhefttrivialität und 08/15-Kommißromantik angesiedelt wird. Bei aller ausgiebigen künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich muß man der literarischen Reflexion des konkreten Kriegsgeschehens ansonsten wohl konstatieren, daß sie weitestgehend ausgeblieben ist.


Harry Thürk
Die Stunde der toten Augen