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REZENSION/040: Anna Wimschneider - Herbstmilch (Lebenserinnerungen) (SB)


Anna Wimschneider


Herbstmilch

Lebenserinnerungen einer Bäuerin



Wie selten eine Autorin beschreibt Anna Wimschneider in "Herbstmilch" das alltägliche Verhältnis zwischen Menschen, die Not leiden, aber einander mit unerbittlicher Egozentrik und Mißgunst das Leben noch unerträglicher zu gestalten verstehen. So werden der achtjährigen Anna nach dem frühzeitigen Tod ihrer Mutter deren gesamte Pflichten aufgebürdet und der Vater ist sich nicht zu schade, sein völlig überfordertes Kind mit Schelten und Schlägen zu "unterstützen".

Nach der Schule kam die Meieredermutter, um mir das Kochen beizubringen. In meinem Beisein sagte der Vater zu ihr, wenn sich's das Dirndl nicht merkt, haust du ihr eine runter, da merkt sie es sich am schnellsten. (S. 10)
Aber am Anfang habe ich auch viele Fehler gemacht, der Vater kam herein, schaute in den Ofen und sagte, ach Dirndl, du mußt ein größeres Feuer machen, so kannst du kein Fleisch braten. Das Wasserschiff im Ofen ist zu wenig gefüllt, wie oft muß ich dir das noch sagen, und schon gab es eine Watschn. (S. 11)
Hosen wurden jeden Tag zerrissen. Da zwang mich mein Vater, bis um zehn Uhr abends zu nähen und zu flicken, wenn alle anderen schon im Bett lagen. Auch er ging zu Bett. (S. 19)

Innerhalb der Familie hat Anna die Position einer Dienstmagd, obwohl der Vater von allen Geschwistern auf sie am meisten angewiesen ist. Annas Leistungsfähigkeit und ihr Gehorsam sind erstaunlich, und der Gedanke, daß Vater und Geschwister sich auch sehr viel kooperativer verhalten könnten, kam ihr offenbar nur selten und sehr vage in den Sinn.

Es dauerte nicht lange, da sagten die Buben, im Haus ist alles deine Arbeit, das ist Dirndlarbeit. (S. 10)
Wenn es beim beim Fleischbraten aus dem Rohr geraucht hat, konnte ich nachschauen, Bei Rohrnudeln dagegen ging das nicht, die sind dann zusammengefallen, und wenn sie auf den Tisch kamen, war wieder eine Watschn fällig. Es ging ja noch an, wenn ich sie vom Vater bekam, aber die großen Brüder gaben auch noch eine dazu. (S. 11)

Als kleines Mädchen hatte Anna angesichts der väterlichen Gewalt kaum die Möglichkeit, ihm den Gehorsam zu verweigern oder Forderungen zu stellen. Doch auch als sie schon fast erwachsen ist, sträubt sie sich nicht gegen die Anordnungen des Vaters. Seine Autorität wird niemals offen angezweifelt. Dagegen hat Anna sich schon sehr früh entschieden, ihr vermeintliches Los stumm zu ertragen.

"Als ich von zu Hause wegging, hatte mein Vater zu mir gesagt, wenn du dir von den alten Leuten alles gefallen läßt und nichts sagst, dann kommst du schon mit ihnen aus. Das habe ich meinem Vater versprochen und auch gehalten. Es war oft schwer, wenn mir die Weiber so unrecht getan haben." (S. 85)

Über ihr persönliches Verhältnis zu Gott berichtet sie nicht, aber es scheint, als wäre sie von dem Glauben erfüllt, später einmal für ihre Gefügigkeit und Leidensbereitschaft entlohnt zu werden. Denn ohne eine solche Jenseitsperspektive ist ihr Verhalten in vielen Situationen, wo sie selbst von den eigenen Geschwistern als Dienstmagd behandelt wird, kaum nachvollziehbar.

Die älteren zwei Brüder waren im Dienst. Sie brachten ganze Rucksäcke mit schmutziger und zerrissener Wäsche nach Hause und sagten zu mir, das hier hole ich mir am nächsten Sonntag, das hier während der Woche, und das hier brauche ich gleich. So arbeitete ich immer auch den ganzen Sonntag und bis um zehn Uhr abends. Ich wünschte mir, auch einmal früh zu Bett gehen zu können wie die anderen, aber da war nicht dran zu denken. Am nächsten Sonntag kam auch schon der nächste Haufen Wäsche, und wenn ich nicht alles fertig hatte, beschimpften mich die Brüder. Oft stand ich in der Ecke, und ein jeder kam her und schlug mich ins Gesicht. (S. 44)

Manchmal erweckt Anna Wimschneiders Erzählweise auch den Eindruck, daß sie im Stillen stolz auf ihre unerhörte Leidensfähigkeit ist und besonders darauf, wieviel sie sich selbst zufügen kann, ohne zusammenzubrechen. Offenbar hat sie für sich den Grundsatz übernommen, den man ihr von klein auf beigebracht hat: Der Wert einer Frau bemißt sich an ihrer Ausbeutbarkeit.

An einem Sonntag fragte mich Albert, ob ich seine Frau werden will. (...) Da war es nun nicht mehr so leicht für den Vater, denn mit mir verlor er eine Arbeitskraft, und meine Schwester konnte mich nicht so leicht ersetzen. Er wurde sehr zornig und wollte keinesfalls zustimmen. (S. 71)
Albert hat auch Schwierigkeiten gehabt, seine alten Leute auf eine Hochzeit vorzubereiten. (...) Damit das leichter ging, bin ich einmal eine Woche lang als Erntehelferin bei seinen Leuten gewesen. (...) Als Albert dann sagte, daß dieses Mädchen seine Braut sei, konnten sie, nachdem sie mich vorher so gelobt hatten, schlecht das Gegenteil sagen. (S. 72)
Es war Herbst und ich mußte inzwischen die ganze Feldarbeit machen. Es dauerte aber nicht lange, und ich wurde von den Leuten gelobt, weil auch ein Mann nicht schöner geackert hat als ich. (S. 84)

Auffällig ist auch, daß der Lebensbericht von Anna Wimschneider sich hauptsächlich auf die Jahre beschränkt, in denen sie schwer schuften konnte und mußte. Die zehn folgenden Jahre, die sie aufgrund verschiedener Leiden vorwiegend in Krankenhäusern verbracht hat, handelt sie nur ganz kurz und oberflächlich ab, obgleich sie auch dort existentielle Erfahrungen machte.

War es zuerst das Herz mit schweren Rhythmusstörungen, so kam dann eine Gallenoperation dazu, schließlich Asthma mit furchtbaren Erstickungsanfällen, so daß ich viele Stunden bewußtlos war. Ich hatte alle Todesängste schon mehrmals durchgemacht und hatte keine Angst mehr vor dem Tod, wenn nur die Angst vor dem Ersticken nicht wäre. Noch manche andere Leiden kamen dazu, und in allen Jahren bis 1980 bin ich länger im Krankenhaus gewesen als daheim. (S. 149)

Einen recht ernüchternden Einblick in die dörfliche Idylle gewährt "Herbstmilch" gerade jenen, die der guten alten Zeit nachtrauern, als alles noch familiärer und nachbarschaftlicher zuging.

Die Ärzte sagten immer, wir müßten das Vieh abgeben, das Stallklima sei die Ursache meiner Krankheit. So gingen auch die letzten Kühe fort aus dem Stall, und dann war es ganz still dort. Ich mußte mir die Milch nun bei einem der anderen drei Höfe holen. Bei meiner nächsten Nachbarin, einer noch jungen Frau, bin ich aber bös abgeblitzt. Wir haben einen Hofraum miteinander, und es war nie etwas zwischen uns, im Gegenteil, ich habe ihr viele Blumen gegeben oder andere Gefälligkeiten erwiesen, wie das bei Nachbarinnen üblich ist. Da sagte die glattweg, nein, von mir nicht, hättest du dir doch deine Kühe behalten. Da mußte ich zum nächsten Nachbarn gehen, der gab mir den Rat, die Milch in der Stadt zu kaufen. (S. 148)
Die Hälfte unseres Hauses, in der einmal der Kuhstall war, war abgerissen und neu als Wohnteil ausgebaut worden. Das war für die Nachbarn ein solches Ärgernis, daß sie nicht mehr am Haus vorbeigingen, sondern einen Bogen drum machten, damit sie es nicht anschauen mußten. (S. 132)

Bei der Lektüre von "Herbstmilch" kann man den Eindruck gewinnen, daß der größte Teil des Leids, das Anna Wimschneider widerfahren ist, von Menschenhand stammt und nicht durch die Härten der Natur verursacht wurde. Und das Leid ließe sich mindern, wenn die Menschen nicht solche Freude daran hätten, sich gegenseitig zu quälen und zu plagen. Doch Anna Wimschneider erweckt in ihrem Buch den Eindruck, als könne es überhaupt nicht anders sein. Kein Wunder, daß in ihrer Umgebung das Wort "Kommunist" ein übles Schimpfwort ist, enthält dieser Begriff doch zumindest die Idee, statt mißgünstig den eigenen ärmlichen Besitz zu verteidigen, die Härten des Daseins gemeinsam anzupacken.

Bei uns gab es nur wenige Hitler-Anhänger, denn die Bauern hielten nicht viel von ihm. Erst nach dem Reichstagsbrand, da waren viele froh, daß er uns vor den Kommunisten gerettet hat. Zu sagen, du bist ein Kommunist, war eine der schwersten Beleidigungen und ist es heute noch. (S. 77)

Für Weltverbesserung hat Anna Wimschneider wohl ohnehin nicht die Zeit und nicht die Kraft gehabt, und ihr einziger Wunsch seit ihrer Kindheit war, einmal richtig ausschlafen zu können. Im Alter geht ihr dieser Wunsch schließlich in Erfüllung. Aber daß sie mit diesem kargen Lohn doch nicht ganz zufrieden ist, bringt sie wenigstens in ihrem Schlußsatz zum Ausdruck:

Wenn ich noch einmal zur Welt käme, eine Bäuerin würde ich nicht mehr werden. (S. 152)

(Anmerkung zum Titel: Herbstmilch nennt man saure Milch, zu der man fast jeden Tag wieder gestockte Milch hinzuschüttet. Aus Herbstmilch bereitete Anna Wimschneider mit Mehl, Wasser und saurem Rahm sogenannte Herbstmilchsuppe zu.)


Anna Wimschneider
Herbstmilch
Lebenserinnerungen einer Bäuerin
Piper, München 1984
ISBN 3-492-02888-8