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REZENSION/098: Guy de Maupassant - Mon oncle Jules et autres contes (SB)


Guy de Maupassant


Mon oncle Jules et autres contes



Die vorliegende Reclam-Ausgabe enthält fünf kleine Novellen, die das Thema Kindheit oder Kindheitserlebnisse sowie ihre Auswirkungen auf das spätere Leben zum Inhalt haben.

"Mon oncle Jules", die titelgebende Geschichte, wird von einem jungen Mann im Rückblick erzählt, um einem Freund seine Freigebigkeit einem alten Bettler gegenüber zu erklären.

Un vieux pauvre, à barbe blanche, nous demanda l'aumône. Mon camarade Joseph Davranche lui donna cent sous. Je fus surpris. Il me dit:

Ce misérable m'a rappelé une histoire que je vais te dire et dont le souvenir me poursuit sans cesse. La voici. (S. 3)

Bei einem Familienausflug hatte man in einem abgehärmten Matrosen und Austernverkäufer den in Amerika geglaubten, angeblich reichgewordenen Onkel erkannt und sich fluchtartig entfernt, nachdem man ihn durch den Sohn hatte entlohnen lassen. Dieser hatte sich aus Mitleid zu dem alten Mann hingezogen gefühlt und ihm ein reichliches Trinkgeld überlassen. "Garçon, un bock! ..." dreht sich um einen jungen Mann aus gutem Hause, der, an der bürgerlichen Scheinmoral seiner Eltern gescheitert, zum Gewohnheitstrinker geworden ist. "Un parricide" handelt von einem unehelichen Sohn, der seine inzwischen verheirateten Eltern umbringt, weil sie, obwohl er Diskretion verspricht, sich ihm nicht als solche zu erkennen geben wollen. "Aux champs" ist die Geschichte bettelarmer Bauern, die sich weigern, einer reichen Familie ihren jüngsten Sohn zu verkaufen. Herangewachsen macht dieser ihnen Vorwürfe, als er sieht, wie sehr der Nachbarsohn von dem Geschäft profitiert hat, und verläßt sie. Die letzte Geschichte "Le Papa de Simon" handelt vom kleinen Simon, unehelich geboren, der sich einen Papa verschafft.

Maupassants Sicht der Welt ist oft pessimistisch, sein Gespür für die Verletzlichkeit der kindlich-jugendlichen Psyche wird den Leser überraschen und beeindrucken. (aus dem Umschlagtext)

Man könnte auch vermuten, daß Maupassant sich von seinem Kindheits- und Jugenderleben so wenig entfernt hat, daß er den Zugang, der in diesen Novellen deutlich wird, nie suchen mußte. Auch ihm war es nicht möglich, das Leben des wohlanständigen, bürgerlichen Familienvaters zu führen.

Maupassants Novellen sind kleine Geschichten, die Themen behandeln, die uns heute selbstverständlich erscheinen mögen und aus dem Grunde zunächst höchstens Unterhaltungswert zu haben scheinen. Zu der Zeit, als sie entstanden, waren sie jedoch in ihrer Themenwahl, in ihrer Ausführung und ihren Implikationen eine Neuerung. Sie bedeuteten eine Hinwendung zu alltäglichen Geschehnissen und zu Menschen, die zuvor in der Literatur als wenig wichtig erkannt wurden: Bauern, Handwerker, Seeleute, Arbeitslose und Vagabunden, Prostituierte... Ihnen gegenüber stehen häufig die mit kritischem, satirischem Blick charakterisierten Vertreter der mittleren und höheren Stände. Maupassant war zu seiner Zeit beim Lesepublikum zwar sehr beliebt, galt jedoch als sittlich und religiös anstößig. Als beispielhaft gilt seine erste Novelle, mit der er erfolgreich hervorgetreten ist, "Un boule de suif", in der eine Prostituierte auf einer Reise zum Opfer ihrer Wohlanständigkeit heuchelnden Mitreisenden wird.

Kritisch betrachtet erweisen sich die Fragen, die Maupassant häufig in seinen Novellen anspricht, als hochaktuell. Denn schon längst haben wir wieder den Stand erreicht, in dem ein Arbeitsloser ein Schmarotzer, der Besitzlose zu verachten und das eigene Wohl von Rechts wegen wichtiger als das des anderen ist. Der Unterhaltungswert ist nicht zu bestreiten, dient jedoch auch als geeignetes Vehikel, sich mit gesellschaftlichen Fragen zu befassen, die angeblich längst überwunden waren.

Maupassant macht es dem Leser nicht schwer. Er nimmt nicht den Standpunkt des urteilenden Beobachters ein, sondern stellt das Geschehen auf eine Weise dar, die Beweggründe und Lebenssituationen seiner Figuren deutlich macht. So weckt er Interesse und macht es leicht, der Handlung zu folgen. Maupassant erzählt nachvollziehbar, seine Sprache ist einfach zu verstehen. Er bedient sich zwar eines gewählten Stils, bemüht sich jedoch gleichzeitig um eine nüchterne Deutlichkeit. Diese ist dem Anliegen geschuldet, ein genaues Abbild der Realität zu vermitteln. Sie ist auch ein Zeichen dafür, wieviel Wert der Schriftsteller darauf gelegt hat, sich seiner Umwelt zuzuwenden, genau hinzusehen und zuzuhören. Er selbst schreibt dazu:

Le romancier, [...] qui prétend nous donner une image exacte de la vie, doit éviter avec soin tout enchaînement d'événements qui paraîtrait exceptionnel. Son but n'est point de nous raconter une histoire, de nous amuser ou de nous attendrir, mais de nous forcer à penser, à comprendre le sens profond et caché des événements. (Préface à "Pierre et Jean"; septembre 1887)

(zitiert nach Guy de Maupassant: Le Vagabond/Coco" - Textes et dossier, Philipp Reclam jun. Stuttgart, 2004, S. 53)

Und das erreicht er zweifellos; man kommt ins Nachdenken.

In der einschlägigen Literatur (siehe oben) wird Maupassant in der Regel eine pessimistische Lebenseinstellung bescheinigt, was nahelegt, daß er die Verhältnisse zwar als inakzeptabel, jedoch auch als unveränderlich betrachtete. Dennoch liegt die Frage nahe, welchen Sinn er in seinem schriftstellerischen Wirken sah, wenn nicht den, etwas an den Zuständen zu ändern. Das möglichst genaue Abbild der Wirklichkeit, das dadurch erreicht werden soll, daß das Allgemeingültige des Einzelfalles hervorgehoben wird, gibt dem Leser die Chance, sich mit den Inhalten zu identifizieren. Auch, wenn Maupassant das Leben in seiner grausamen Härte und ohne Illusionen zu schildern scheint, schimmert doch immer die andere Möglichkeit, die nach wie vor denkbar ist, hervor. Wo die Unmenschlichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse erscheint, kontrastiert sie gegen die Idee von einer besseren Welt. Die Hoffnung kann man immer auf zwei Arten verlieren: Aufgeben oder vom Hoffen zur Tat gelangen.

Wer sich mit diesen Fragen in ähnlichem Rahmen etwas eingehender beschäftigen möchte, dem sei die Reclam-Ausgabe "Guy de Maupassant: Le Vagabond/Coco - Textes et dossier" wärmstens empfohlen, die neben den beiden Novellen von Maupassant sowie umfassenden Hinweisen zu seinem Schreibstil auch Texte zum gesellschaftlichen Umgang mit Armut bietet.

Natürlich gilt es auch nicht zu vergessen, daß Maupassant, welche Leidenschaft ihn auch zum Schreiben trieb und welche Gründe ihn letztlich zu seinen Novellen im einzelnen bewegt haben, von dem, was er schrieb, lebte. D.h., daß er sich in einem gewissem Rahmen nach seinen Lesern zu richten hatte. Was nicht gefällt, was nicht bewegt, was nicht als sinnvoll erachtet wird, wird nicht gekauft. Maupassant empfiehlt sich neben seinem Eintreten für die kleinen Leute als gebildeter Literat. Die literarische Hinwendung zu jenen, die von den gesellschaftlichen Ausbeutungsverhältnissen nicht profitieren, erweist sich als zweischneidig, wenn Randständigkeit und Not als "literaturfähig" gelten.

Naturalismus

[...]

Der N. als literarische Theorie und Praxis war eine ästhetische und moralische Provokation, den zeitgenössischen Naturwissenschaften ebenso verpflichtet wie einem sozialkritischen Anspruch. Ins Zentrum der Darstellung rückte daher nicht lediglich - wie im Realismus - das Alltägliche, sondern das Pathologische des Alltags, das Niedrige, Häßliche, Triebhafte. Zuvor ausgegrenzte Themen und Milieus, z.B. das Industrieproletariat oder die Prostitution, wurden literaturfähig.

(Aus: Harenberg Lexikon der Weltliteratur, 1994, Stichwort "Naturalismus" - eine literarische Richtung, später Epoche, der Maupassant sich, allerdings nur vorübergehend, zugehörig fühlte.)

Die Reclam-Ausgabe enthält neben den fünf Novellen Maupassants Arbeitsanleitungen für den Unterricht, die sich zunächst auf den Text beziehen, jedoch auch das Studium der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Situation seiner Zeit und den Rückschluß auf die Texte empfehlen. Das Nachwort besteht aus einem kurzen Lebenslauf Maupassants und einer inhaltlichen Ausleuchtung der Novellen.


Guy de Maupassant
Mon oncle Jules et autres contes
herausgegeben von Irmgard Rauthe-Welsch
Philipp Reclam jun. Stuttgart 2006
Reclams Universal-Bibliothek - Fremdsprachentexte Französisch
104 Seiten, 3,00 Euro
ISBN 13: 978-3-15-019711-0
ISBN 10: 3-15-019711-2