Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → ROMANE

REZENSION/131: P.M. - Manetti lesen oder Vom guten Leben (SB)


P.M.




Manetti lesen

oder

Vom guten Leben

In gewisser Weise findet sich der Rezensent in dem Dilemma eines Manetti-Lesers wieder, der sich mit der Wißbegier des Noch-Nicht-Manetti-Lesers konfrontiert sieht: "Wenn du ihn gelesen hättest, würdest du das nicht fragen." Das jedenfalls bekommt der Erzähler allenthalben zu hören, als er herausfinden will, was die Lektüre so einzigartig macht. Den Inhalt dieses Buches kurz und bündig, summarisch oder gar vom Ende her auf eine blutleere Kategorie oder Formel einzudampfen, hieße, dem künftigen Leser einen Bärendienst zu erweisen. Zum ersten handelt es sich um einen Roman, der Schritt für Schritt erschlossen werden will und keine vermeintlichen Abkürzungen verträgt. Wer die Windungen und Wendungen, zahllosen Begegnungen und Wortwechsel, allgegenwärtigen Anspielungen und Rückbezüge mitvollzieht, bekommt ganz beiläufig und doch unvermeidlich Gelegenheit, auszurufen: Das kenne ich doch, dort bin auch gewesen, diese Debatten habe ich selbst geführt! Mithin bliebe die Substanz dieser Exkursion in eine gemeinsame Vergangenheit und deren frappierenden Konsequenzen für die Gestaltung der Zukunft mehr oder minder unzugänglich, beraubte man sich der Frische, sie aus der Perspektive des Erzählers auszukosten. Davon ganz abgesehen ist dieser Roman so reich an Pointen, daß schlichtweg um den vollen Lesegenuß käme, wer vorab ungeduldig wissen wollte, worauf das alles hinausläuft.

Andererseits gilt es natürlich, dem verständlichen Wunsch des Manetti-Interessierten Rechnung zu tragen, wenigstens in Gestalt anregender Andeutungen und richtungsweisender Signale Auskunft zu geben, was ihn erwartet. Ohne zuviel zu verraten kann man auf jeden Fall versichern, daß man dieses Buch ungern aus der Hand legt, da man schlichtweg wissen möchte, wie es weitergeht. Es handelt sich um eine Reise, sowohl im wörtlichen wie übertragenen Sinn:

Ich hätte gleich damit beginnen sollen, Manetti zu lesen. Er stand zu Hause auf dem Büchergestell bereit. Ich hätte mir viel Ärger und Unruhe ersparen können. Doch ich war noch nicht ganz so weit. Manetti sollte man angeblich an einem Stück lesen, das würde einige Wochen dauern. Am besten mietete man eine Wohnung in einem Seitental im Tessin und machte nichts anderes, als Manetti zu lesen, unterbrochen von Mahlzeiten und etwas Schlaf.
(S.18)

Statt Manetti einfach zu lesen, geht der Erzähler daran, zunächst Erkundigungen einzuziehen. Er spricht mit dem Lektor und Erstleser, macht dann anhand publizierter Interviews andere Leser ausfindig und gerät schnurstracks in ein Labyrinth mysteriöser Begebenheiten: Wie es scheint, sind immer mehr Manetti-Leser wie vom Erdboden verschluckt. Dabei haben sie ihren Weggang mit unbekanntem Ziel so gründlich getarnt, daß selbst ihre engsten Angehörigen im Dunkeln tappen. Gemeinsam mit alten Freunden und neuen Bekannten verfolgt der Erzähler diese und jene Spur, reist aus der Schweiz in die Toscana, die Provence, nach Mecklenburg und Paris und macht schließlich sogar eine geheimnisvolle Schiffspassage. Teils scheinen sich die Anhaltspunkte zu verwirren, dann wieder findet die wechselnde Reisegesellschaft Hinweise und Hilfen, als begebe sie sich auf eine Schnitzeljagd. So werden Theorien gewälzt und verworfen, Mitwisser einbezogen und Außenstehende vertröstet, polizeiliche Verfolger abgeschüttelt und wiedergetroffen - kurz an Spannung fehlt es nicht im mindesten.

Nun ist es wohl an der Zeit, einige Worte über den Erzähler zu verlieren. Dieser nennt sich zumeist Paul Meier, was uns natürlich zu dem Autor des Buches führt. Der 1947 geborene P.M. lebt und arbeitet in Zürich. Sein Pseudonym geht auf seinen ersten Roman Weltgeist Superstar (1980) zurück und bezieht sich auf die damals häufigsten Initialen im Telefonbuch (Peter/Paul Meier/Müller). Wer sich für gesellschaftliche Alternativentwürfe interessiert, kennt P.M. sicher aus dessen Romanen, Spielen oder Sachbüchern. Da er sich seit jeher urbanistischen Themen widmet und in Zürich bei der Gründung von alternativen Wohngenossenschaften aktiv mitgewirkt hat, geht man nicht fehl in der Annahme, daß auch "Manetti lesen oder Vom guten Leben" einer solchen Thematik gewidmet ist. Dieser erweist sich P.M. aufs engste verpflichtet, doch nimmt er sich als Ich-Erzähler in Gestalt der Romanfigur Paul Meier alle Freiheit, reale und fiktive Personen und Begebenheiten rasant zu durchmischen.

Herausgekommen ist dabei ein außerordentlich leichtfüßiger, amüsanter, nicht selten boshaft persiflierender Umgang mit den schwergängigen Niederungen ins Establishment rückgeführter Veränderungsambitionen und karrieristisch verwerteter Alternativentwürfe. Auf Schritt und Tritt findet man Bezüge zur neueren Schweizer Literatur - Frisch, Dürrenmatt, Bichsel, Loetscher, Muschg - aber auch Robert Walser, Michel Houellebecq, Ian Morris, Roger Penrose, Stéphane Hessel und das Unsichtbare Komitee (Der kommende Aufstand) fehlen nicht. Ebensowenig Querverweise auf Malerei und bildende Kunst, Ausstellungen und Galerien, wenn sich KünstlerInnen, KuratorInnen, SammlerInnen und KunsthändlerInnnen ein Stelldichein geben. Manettis Text könne man ohne intimste Kenntnisse der Zürcher Szene kaum verstehen, heißt es an einer Stelle. Dasselbe gilt in gewissem Umfang natürlich auch für den auswärtigen Leser des vorliegenden Buches, der indessen für all das, was ihm mangels Kenntnis der dortigen Szene entgangen sein mag, doch entschädigt wird: Auch wenn man die beteiligten Personen und ihre vertrackten Beziehungen womöglich nicht persönlich kennt, findet man sie doch dank des bisweilen lakonischen, dann wieder ironischen und nicht selten scharfzüngigen literarischen Federstrichs leichterdings auch anderswo wieder.

Der fiktive Autor Roberto Manetti, an dessen Hinterlassenschaft der Roman aufgezäumt ist, repräsentiert als Kunstgriff einen Beobachter jener vergangenen Jahrzehnte, in denen das ambitionierte Vorhaben gesellschaftlicher Veränderung gescheitert ist. Zehn Jahre nach Manettis Tod sind seine Notizbücher in einer Faksimile-Ausgabe herausgekommen, zwölf aufwendig editierte Bände von insgesamt 2.400 Seiten. Die Notizbücher decken eine Periode von 1975 bis 1999 ab und präsentieren Texte, die leicht und spontan wirken, sich bei genauerer Analyse jedoch als raffiniert durchkomponiert herausstellen. Wer Manetti lese, heißt es da, lese ihn mit Bestimmtheit zweimal. Das erste Mal aus Neugier, das zweite Mal aus Verwunderung, daß es solche Texte überhaupt geben kann. Ihre Wirkung ist enorm, lösen sie doch ein Manetti-Fieber aus:

Man kann es sich praktisch nicht mehr leisten, Roberto Manetti nicht gelesen zu haben, alle reden von ihm, er ist überall latent präsent, er hat die Szene (welche auch immer das ist) vollständig durchseucht. Manetti lesen heißt immer Manetti kaufen. (Auch das erklärt die hohe Auflage.) Man kann ihn nicht ausleihen, er wird quasi zu einem Teil der Intimsphäre wie die Zahnbürste, er wird persönlich. Roberto Manetti scheint zu jeder Leserin, zu jedem Leser direkt zu sprechen. Was umso paradoxer ist, als er nie für ein mögliches Publikum geschrieben hat und schon eine Weile tot ist. Der Ort, von dem aus er zu uns spricht, ist schon ein anderer.
(S. 8)

Roberto Manetti, der offenbar nie prominent aufgetreten ist, aber bei zahllosen einprägsamen Ereignissen jener Zürcher Tage wie Demonstrationen, Besetzungen und Tribunalen zugegen gewesen sein muß, nimmt für den Erzähler fast leibhaftig Gestalt an: "Ich habe ihn gekannt, aber wahrscheinlich nie direkt mit ihm geredet." Manetti hat eine Familiengeschichte, die mit Hilfe des Lektors in aufschlußreichen Details rekonstruiert werden kann, ohne freilich das Wesentliche preiszugeben. So gibt es beispielsweise Lücken in den Aufzeichnungen, die darauf schließen lassen, daß sich Manetti zeitweise im Ausland aufgehalten hat - wo und wozu genau will Paul Meier herausfinden, als er sich anschickt, dieses Geheimnis zu entschlüsseln.

Am Ziel seiner von kriminalistischem Spürsinn, spontaner Intuition, vermeintlich zufälligen Entscheidungen, mühsam erschlossenen Hinweisen und nicht zuletzt einer undurchschaubaren Führung von unbekannter Seite getragenen Suche angelangt, eröffnet sich für den Erzähler der große Bogen eines Vorhabens, das ihm in euphorischen Höhenflügen und tragischem Scheitern nur allzu vertraut ist:

Paul gehört zu jener Generation, die sich mit großem Schwung, mit großen Hoffnungen und mit wissenschaftlichem Ernst vorgenommen hatte, die Welt zu verändern. Wie wir alle wissen: Es ist ihnen nicht gelungen. Sie haben alles Mögliche probiert: Arbeiteragitation, Volksinitiativen, Parteien, Hausbesetzungen, Genossenschaften, kulturelle Aktionen. Die Enttäuschungen waren groß, Niederlage folgte auf Niederlage, der Lauf der Dinge ließ sich nicht bezwingen. Das alte, böse kapitalistische Land, wie die Schweiz es ist, wollte sich einfach nicht bewegen. Zum Schaden kam der Spott: Man nannte sie ewige Weltverbesserer, Kindsköpfe, Naivlinge, Träumer, Utopisten. Doch ihr gabt nicht auf, ihr habt immer weitergemacht, immer wieder neue Ideen und Projekte lanciert.
(S. 244)

Was aber folgt daraus? Daß der Roman in sentimentaler Rückschau, Resignation und endgültiger Flucht in die Pfründe einträglicher Laufbahnen enden könnte, ist ebensowenig zu befürchten wie ein moralinsaures Zaumzeug politisch korrekter Anpassungsleistung. Er liefert durchaus eine Antwort auf brennende Fragen der Zeit, die nicht zu verraten Rezensentenpflicht ist. Dessen Aufgabe ist es freilich auch, dem Eindruck nachzugehen, es schwimme mehr als ein Haar in der Suppe des Entwurfs einer neuen Lebensweise in Gestalt eingebetteter Subsistenzgesellschaften in lokalen, offenen Gemeinschaften, die überdies weltweit vernetzt sind. Das gute Leben und Luxus für alle, wollte man es auf eine Faustformel bringen, zeichnet sich doch durch bezeichnende Auslassungen und verschleierte Widerspruchslagen aus.

So scharf beobachtend und unterhaltsam der Autor der längst selbst zur besseren Gesellschaft geronnenen Generation der ehemaligen "Weltverbesserer" den Spiegel vorhält, so sehr beschränkt er sich in seiner Romanhandlung auf einen vermeintlichen Ausbruch mit den Mitteln etablierter und saturierter Kreise. Wenn verantwortungsbewußte Investitionen, intelligente technische Verfahren und nachhaltige soziale Organisationsformen ins Spiel kommen, geschieht dies zwar auf dem höchsten Level diesbezüglicher Konzepte und Umsetzungen. Was man jedoch vermißt, ist nicht zuletzt ein Bezug zu den Kämpfen der Gegenwart und den Basisaktivisten einer jungen Generation, die mit Frische und Entschiedenheit Auseinandersetzungen führen, die keines Abgesangs auf preisgegebene Positionen der Vergangenheit bedürfen. Die damit angedeutete Kontroverse aufzugreifen und weiterzuführen, könnte ein fruchtbarer Umgang mit diesem Roman sein, der dem Genuß des Lesevergnügens und seiner hoffnungsvollen Botschaft jene Prise unverträglicher Streitbarkeit hinzufügt, die auch nur zu ahnen die Suppe nicht zwangsläufig versalzen muß.

27. August 2012


P.M.
Manetti lesen
oder
Vom guten Leben
Edition Nautilus, Hamburg 2012
288 Seiten, 19,90 Euro
ISBN 978-3-89401-761-3