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REZENSION/141: Chris Howard - Der eiserne Wald, Teil 1 (Dark fiction) (SB)


Chris Howard


Der eiserne Wald



In seinem ersten Trilogie-Band, "Der eiserne Wald", entwirft Chris Howard eine beklemmend realistische Zukunft, die düsterer nicht sein kann. Es ist die kompromißlose Fortsetzung einer Entwicklung, die schon lange begonnen hat: die Umweltfolgen auf eine katastrophenbedingte Große Dunkelheit und Kälte, die Folgen von Genmanipulation, die Folgen des Weltmarktmonopols auf Nahrungsmittel...

Der 17-jährige Baummeister Banyan lebt auf der inzwischen unwirtlich gewordenen, ausgetrockneten, gefahrvollen Erde. Die 20 Jahre dauernde Große Dunkelheit hat Pflanzen und Tiere stark reduziert und den gesamten Planeten den Auswirkungen extremer Klimaverhältnisse ausgesetzt. Von den alten Städten, Steel Cities, sind nur noch Betonruinen, Bunker, verdreckte Stahlkuppeln und haufenweise Müll übrig. Der nun riesengroß scheinende Mond hat sich der Erde genähert, so daß tsunamiartige Wellen auf den Ozeanen Alltag geworden sind. Der Sauerstoff ist knapp, überall zerfressen von Stürmen aufgewirbelte Staubwolken die Lungen, Heuschrecken sind zu einer unausweichlich tödlichen Gefahr für alle Lebewesen geworden.

Die Menschen stehen sich fremd und feindlich gegenüber und die nunmehr unversöhnliche Trennung in Arm und Reich hat Gewalt zum Alltag gemacht. Das Überleben ist abhängig von der Beschaffung des einzigen Nahrungsmittels auf der Erde, das so genmanipuliert werden konnte, daß es resistent gegen Heuschrecken und Krankheiten, Trockenheit und Stürme in Großwuchs auf riesigen, unüberschaubaren Plantagen wächst: Genmais, der als "Superfood" in unterschiedlichen Qualitäten von der mächtigen Firma "GenTech" angebaut und verbreitet wird, die mit korrupten Methoden ihre Alleinherrschaft über das Saatgut sichert und den gesamten Weltmarkt beherrscht. Eine Packung Mais enthält alles, was der Körper braucht und hat verschiedene Geschmacksrichtungen.

Banyan schafft es nur knapp, als sogenannter "Baummeister" von den Aufträgen der Reichen zu überleben. In kunstvollen Eisennachbildungen einzelner Bäume aus den überwältigend großen Schrotthalden in den Städten errichtet er für sie ganze Wälder, teils beleuchtet, um die Erinnerung an die Schönheit dieser Orte aufrechtzuerhalten. Seine außergewöhnliche Kunstfertigkeit ist von seinem Vater gefördert worden, der ihn vor einem Jahr angesichts einer gefahrvollen Situation mit dem alten Wagen samt Werkzeug zurückgelassen hat und nicht mehr auffindbar ist. An seine Mutter kann Banyan sich nicht erinnern. Es heißt, sie sei verhungert. Sein Wissen über Bäume hat er von den Abbildungen aus dem Buch, aus dem sein Vater ihm Geschichten aus der alten Welt vorgelesen hat. Die Sehnsucht nach einem Leben mit den letzten wirklichen Bäumen auf Erden, die es laut einem Gerücht in "Zion" oder dem "Gelobten Land" geben soll, ist so groß, daß Banyan sich auf den Weg dorthin machen will, zumal er anläßlich eines Fotos ahnt, daß dieses Land etwas mit der Suche nach seinem Vater zu tun hat.

Ausgangspunkt der Handlung ist ein neuer Auftrag zur Errichtung eines Waldes. Der reiche und herrische Auftraggeber Frost ist umgeben von einigen der Menschen, die außer Banyan zu den Hauptpersonen des ersten Bandes gehören, ausgeprägte Charaktere wie der Rasta Crow, der Bodyguard von Frost, sein nerviger, junger, aber schlauer Sohn Sal, ein ängstliches, einsames Kind mit ganz eigenen Schwierigkeiten, das lungenkranke Mädchen Zee, die Tochter seiner Frau, und nicht zuletzt Hina, die außergewöhnliche, duldsame und schweigsame Ehefrau von Frost, auf deren Bauch der Weg, beziehungsweise die Koordinaten, zu den letzten Bäumen auf Erden verzeichnet ist. Mit ihnen zusammen, ohne Frost, macht Banyan sich auf den Weg dorthin, denn alle haben ihre eigenen Gründe, "Zion" zu finden. Ein abenteuerliches und atemberaubend spannendes Roadmovie beginnt, das geprägt ist von der Konfrontation mit den brutalen Herrschern dieser Welt, den Agenten von GenTech, von der Begegnung mit Wilderern und mit Piraten, die vom Sklavenhandel leben, und nicht zuletzt mit der fast unbewohnbar gewordenen Natur. Und da ist noch Alpha, eine Punk-Rock-Piratin, in die sich Banyan verliebt ... Schließlich, im gelobten Land, muß Banyan mit schockierenden Erkenntnissen über seine Familie und seine Vergangenheit fertigwerden. Ihm wird klar, wie weit Menschen bereit sind zu gehen, um die letzten Bäume zu erhalten und zu vervielfältigen.

Die Präsentation dieses Romans ist besonders für Jugendliche attraktiv. Das Lebensgefühl von Banyan gehört zum Erwachsenwerden. Er lebt ein Nomadenleben, hat keine Eltern, keine gesellschaftliche Verankerung. Er ist ein Künstler und muß überleben. Aber das reicht ihm nicht. Entschlossen, aber etwas blauäugig, begibt er sich immer mehr in Schwierigkeiten. Banyan gibt nicht auf, trotz eines scheinbar aussichtslosen Kampfes gegen diejenigen, die Einfluß und Mittel besitzen, ist einfallsreich und hält auch in gefahrvollsten Situationen zu seinen Begleitern. Die Menschen sind ihm das wichtigste. Die Freunde halten zusammen, auch wenn Banyan jedem von ihnen anfangs mit Mißtrauen gegenübertritt und die Entscheidung füreinander dann von jedem einzeln getroffen und bewiesen wird. Sie setzen sich für einen Traum ein, wobei sie erkennen müssen, daß das "Paradies", das bessere Leben, nicht irgendwo vorhanden ist, sondern erst geschaffen werden muß.

Chris Howard lebt heute in Denver, wuchs aber in England nicht weit von London auf. Zunächst schrieb er Songs, dann kürzere Geschichten, studierte Umweltmanagement und Waldökologie, arbeitete für einen Nationalpark und verbrachte acht Jahre damit, Sporttouren für Jugendliche durch die Wildnis der USA, Kanada, Mexiko und Hawaii zu leiten.

Ich war wohl selbst lange Zeit heimatlos. Als Jugendlicher wollte ich mehr als alles andere in die Welt reisen und die englische Kleinstadt, in der ich aufgewachsen war, hinter mir lassen. Ich las Kerouac und alle anderen Beat-Autoren und mich begeisterte die Idee, auf der Straße zu sein, mich selbst zu verlieren oder vielleicht auch zu finden. Lange Zeit hatte ich, gleich wo oder mit wem ich zusammen war, das Gefühl, ziellos zu treiben. [1]

Zur Zeit schreibt er an den nächsten Bänden dieser Trilogie: "Schreiben liebe ich mehr als alles andere, das ich je getan habe; allerdings kommt Lesen gleich an nächster Stelle."

In einem Interview zu "Rootless" (deutscher Titel "Der eiserne Wald") verrät er, wie er auf die Idee zu diesem Zyklus kam. Für den Leser ist dies ein aufschlußreiches Hintergrundwissen, kommt einem doch zunächst die Erfindung, Bäume aus Schrott zu bauen, etwas befremdlich vor. Tatsächlich stecken dahinter fundierte, naturwissenschaftliche Kenntnisse und eine engagierte Stellungnahme zur Zerstörung unseres Planeten. Bäume, so meint er, stehen für die Umwelt und den Lebenszyklus und sind besonders geeignet für diesen Roman, das Verlorengegangene zu symbolisieren: Die Erde trocknet aus, es gibt kein Papier, keine Bücher, keine Früchte, kaum noch Schatten und keine Heizenergie mehr. Die Menschen haben das Lesen verlernt.

Gab es einen bestimmten Moment der Inspiration, der Sie dazu veranlaßt hat, Ihre postapokalyptische Welt zu schaffen?
Oh ja! Ich war in den Bergen hier in Colorado, umgeben von lauter Bäumen, die dem Bergkiefernkäfer zum Opfer gefallen waren. Das sind Insekten, die in den Wäldern unseres Staates schwere Verwüstungen anrichten. Ich starrte auf diese ganzen toten Bäume und dachte: "Was wäre, wenn... im Zuge einer Katastrophe eine Heuschreckenplage alles vernichten würde, das wächst?" Sofort stellte ich mir vor, daß gentechisch veränderter Mais das einzige wäre, das überleben würde, und ich hatte das Bild von einem jungen Mann vor Augen, der auf den staubigen Ebenen Bäume aus Schrott errichtete. [...]
Und wenn als Folge der Lektüre dieses Buches Bäume gepflanzt werden, macht mich das sehr, sehr glücklich! [1]

Am Ende des Romans bleiben eine Menge Fragen unbeantwortet. Wie geht es weiter, um die letzten Bäume zu retten? Welche Möglichkeiten entwickelt Chris Howard für ein Überleben von Banyan und seinen Freunden in diesen nachgerade menschenfeindlichen Verhältnissen? Haben sie eine Zukunft? Das Buch regt an, selbst Fragen zu stellen und den Blick auf die eigene unmittelbare Umgebung zu richten, in der sich bereits Entwicklungen ankündigen, die in ähnlich katastrophale Verhältnisse münden könnten. Wer kann nach der Lektüre noch an einem Maisfeld vorbeigehen, ohne an bösartige Zuspitzungen der Nahrungsmittelindustrie zu denken oder den sonntäglichen Waldspaziergang als selbstverständlich hinnehmen? In diesem Sinne kann der Roman wachmachen. Und was kann ein größeres Lesevergnügen bereiten, als sich nicht von Versprechungen und Verharmlosungen täuschen zu lassen?

Anmerkung:
[1] Interview and Giveaway, Chris Howard, Author of Rootless, Posted on October 21, 2012 by Kaila
http://www.stumptownbookblog.com/2012/10/interview-and-giveaway-chris-howard-author-of-rootless/

16. September 2013


Chris Howard
Der eiserne Wald
Amerikanische Originalausgabe 2012
"Rootless" by Scholastic Press, New York
Deutsche Erstausgabe September 2013
Aus dem Amerikanischen von Charlotte Lungstraß
Knaur Taschenbuchverlag, München 2013
367 Seiten
Euro 9,99 (D) / 10,30 (A)
ISBN 978-3-426-51289-0