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REZENSION/158: Helmut Barthel - Ein Tag wie morgen (Erzählungen) (SB)


Helmut Barthel


"Ein Tag wie morgen"

Kleine Geschichten



Einige Wochen später - Donald hatte den Vorfall jenes Abends längst vergessen - bekam er einen gewaltigen Schreck, als er zum Dienstbeginn den Kontrollraum betrat. Intuitiv überschaute er in wenigen Sekunden alle Instrumente. Dabei sah er, daß der Geigerzähler reagierte. "Habt ihr schon Alarmstufe 2 gegeben?" Er sprach wie ein Automat und registrierte verwundert die verächtliche Reaktion seiner Kollegen. Sie hielten es für nötig, ihn darüber aufzuklären, daß der Werkdirektor schon den ganzen Tag davon wisse und mit dem technischen Mitarbeiterstab beschlossen hätte, überhaupt nichts zu unternehmen. ("Der GAU", Seite 18-19) 

Zum Teil bereits in den 70er Jahren entstanden, entführen diese Geschichten aus dem Bereich der Social- und Science-Fiction, der Phantastik und der politischen Satire trittsicher mit unabweislicher Präzision in die Wirklichkeit menschlichen Handelns. Von einem Abenteuer in den nächsten Zweifel gestürzt, wirft man bei der Lektüre einen hoffnungsfreien Blick auf die eigene Lebensrealität und ihre Konsequenzen. Unerwartet beginnen und enden die Geschichten, im Raum dazwischen verschwindet der Leser zeitweilig so gebannt in ihrer Welt, daß er für Momente die sichere Position des Zuschauenden verliert und sich ähnlich betroffen fühlt wie die jeweiligen Protagonisten. Auf Erkenntnis folgt neue Ungewißheit, Wissen stürzt in tiefe Verwirrung - der Weg führt auf unbekanntes Terrain. Nicht alles ist so, wie es auf Anhieb scheint, könnte man noch hinzufügen, bleibt jedoch mitten in diesem Gedanken stecken, weil der Gehalt dieser auf ungewöhnliche Weise entrollten Erzählungen unerträglich den verharmlosenden Schleier von den alltäglichen Begebenheiten nimmt.

Obgleich Fiktion, ist hier nichts erfunden: Oder muß man sich noch die Frage stellen, wie eine Welt entstehen konnte, in der Menschen voneinander räumlich isoliert, in eine bequeme Halterung gebettet vor einer Schalttafel schweben, die per Tastendruck Myriaden Möglichkeiten des Spiels und der Kontaktaufnahme über Gedankenassoziationen und Sinneseindrücke ermöglicht? In der sich roboterbetreut die Notwendigkeit körperlicher Beweglichkeit so sehr erübrigt, daß sie zu anstrengend wird und dem einzelnen kaum noch in den Sinn kommt? In dieser auf sensorische Reize abgestimmten, deprivierenden Welt macht sich Fokus auf die Reise in ein so furchterregendes wie unabsehbares Abenteuer: den Weg zum anderen Menschen.

Wie weit entfernt ist eine auf wissenschaftliche Rationalität und Menschenwürde gegründete Gesellschaft, in der der Fortschritt randständig gewordenen Menschen, die dem Bildungs- und Logikideal der modernen Zeit nicht entsprechen, den mit glückseliger Entschlossenheit selbstgewählten Tod "ermöglicht"? Oder der GAU in einem Atomkraftwerk der besonderen Art - der eingehegten Bombe -, der als so unmöglich gilt, daß man sich unter Umgehung des Erfinders dieser Form von Energiegewinnung die geplante Ernstfallsicherung spart? Die Geschichte wurde 1972 geschrieben, ist man heute schlauer?

Medizinischer Fortschritt verhindert in der allzu realitätsnahen Satire, daß die "Solidargemeinschaft" Schaden erleidet; ein Asylbewerber nimmt die westlichen Werte zu ernst, die seinem Heimatland fehlen, und endet abgelehnt als "Neidprediger"; der Tatbestand der Verweigerungsdelinquenz in Sachen Terrorabwehrbewußtsein dient der Beseitigung der letzten Aufrechten; ein Chemiekonzern kondoliert zu Todesfällen und bedauert, zu Wiedergutmachungsleistungen noch nicht verpflichtet gewesen zu sein; eine IGITT-Metall führt sich selbst ad absurdum...

"Gleiches Licht für alle" ist Science-Fiction und Parabel zugleich, in der auf eine ganz eigene Weise ein Versuch, die Menschheit (vor sich selbst) zu retten, beschrieben wird, der so kurzgeschlossen wie erhellend - oder vielleicht besser: erfinsternd - scheitert.

Zunehmend rätselhafter und zwingend verläuft die Begegnung des mit seinem Leben unzufriedenen, gelangweilten Malergesellen Christian mit dem Unerklärlichen. Er manövriert sich trotz aller Warnungen eines geheimnisvollen Fremden in eine Lage, aus der er, gleich, was er, verhaftet in seinen Vorstellungen, unternimmt, nicht mehr zurückkehren kann. Um hier auf der Spur zu bleiben, muß man schon genauer lesen und versteht möglicherweise die Parallele.

Als Christian den Schrank betrat, sah er den langen Gang. Dicht nebeneinander waren an beiden Seiten des Ganges Türen zu sehen. Ralph, der einige Schritte vorausgegangen war, drehte sich um und sagte bedeutungsvoll: "Hinter jeder Tür ist jemand steckengeblieben." Angestrengt überlegte Chris. Was hatte das schon wieder zu bedeuten? Dann überwältigte Christian die Erkenntnis. ("Langeweile", Seite 114) 

Ein Schlafanzug unter dem Baum der Erkenntnis kann gewiß nichts Gutes bedeuten. Die Ereignisse im Garten Eden rund um Sündenfall und Vertreibung aus dem Paradies beleuchten neu erzählt den Anteil eines Priesters am Verlust der Unschuld des Menschen und dem Einzug von Trennung und Inbesitznahme. Beschämt und in tiefe Gewißheiten gestürzt, quittiert er den Dienst.

Warum ist Boddhidarma nach China gekommen? Diese alles entscheidende Frage wird in der gleichnamigen Parabel grundgeklärt. Ein buddhistischer Meister geht nach seinem Tod auf eine erkenntnisreiche Reise. Nein, es ist nicht boshaft, sondern einfach im tiefsten Sinne zugewandt, wenn der Autor den Erhabenen als einen Menschen beschreibt, der mit rauschhaften, ekstatischen Schwüngen seinen Verbleib im Inneren eines Radgeflechtes lebendiger Bänder sichern muß, die die herrlichsten Formen und Zeichen bilden und den Betrachter in immer tiefere Geheimnisse einweihen. Und wenn das traurige Auge des Reisenden auf eine braune, düstere Ebene gelenkt wird, auf der die Heiligen, Yogis und Asketen in charakteristischer Pose verharren. Nun, das ist glücklicherweise nicht das Ende der Erzählung...

Keinesfalls wurde zuviel verraten, denn die Geschichten sind in Verlauf, Erzählweise und inhaltlichen Wendungen so ideenreich und überraschend, daß sich weder Absehbarkeit einstellt noch der Leser sich an gewohnter Stelle wiederfindet. Wenn es denn Sinn macht, sich in ein Buch zu vertiefen, dann hier.

10. Juli 2017


Helmut Barthel
"Ein Tag wie morgen"
Kleine Geschichten
MA-Verlag, Stelle-Wittenwurth 2017
Paperback
172 Seiten
9,00 Euro
ISBN 978-3-925718-37-3


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