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REZENSION/159: William Morris - Kunde von Nirgendwo (Utopie) (SB)


William Morris


Kunde von Nirgendwo



Seit August 2016 erscheinen im Nautilus-Verlag die "Utopien für Hand und Kopf", eine neue bibliophile Reihe: klassische und aktuelle Werke, illustriert, im Großformat. Utopische Gesellschaftsentwürfe, kritische sowie visionäre Ansätze sollen hier ihren Platz haben. In zweifacher Hinsicht kann man ein Zukunftsprojekt erwarten: zum einen das gedruckte Buch, zum anderen das Erkunden von Alternativen in einer herausfordernden Zeit. Die sich mit der Verlagsankündigung andeutende Vermeidung einer genaueren Definition des Begriffs Utopie, und damit der Verzicht auf eine eindeutige Positionierung, irritiert nur dann, wenn man nicht damit rechnet, daß es sich hier um ein am aktuellen Trend orientiertes Verkaufskonzept handelt. Sollte das Projekt tatsächlich einen anderen Hintergrund haben, könnte es Gefahr laufen, die eigentliche Zielgruppe vor den Kopf zu stoßen, während man damit beschäftigt ist, sich über Werbesprüche zwischen allen Stühlen zu halten, um eine möglichst breite Kundschaft heranzuziehen. [1] Eine Verfahrensweise, die man den Autoren der Reihe eigentlich nicht unterstellen möchte.


William Morris, der Autor des ersten Bandes, war umtriebig und streitbar in jeder Hinsicht. Als er sich als Romantiker zum Sozialismus bekannte, war er bereits ein hoch anerkannter Dichter und Literat, abgebrochener Theologe, studierter Architekt, Kunsthandwerker und -theoretiker, Mitinhaber eines englandweit bekannten, führenden Unternehmens für Innenraumgestaltung usw. Seine "Kunde von Nirgendwo" erschien zunächst als Fortsetzungsroman 1890 im Commonweal, dem offiziellen Organ der Socialist League.

Nach erhitztem Streit bei einem Treffen der letzteren darüber, wie eine zukünftige, sozialistische Gesellschaft nach der Revolution aussehen sollte, und der Heimfahrt in der von ihm nur gelittenen Subway, findet sich das alter Ego des Autors am nächsten Morgen überraschend im 21. Jahrhundert wieder. Sein nächtlicher Traum führt ihn in eine von Regierung und Eigentum befreite Zukunft, in der jungbleibende, fröhliche Menschen ihrem Ur-Bedürfnis nach sinnvoller und künstlerisch schöner Arbeit nachgehen, sich und die anderen mit allem Lebensnotwendigen versorgen und darin ihre Selbstverwirklichung finden. Die Zwangsanstalt Schule ist unbekannt, gelernt wird nach eigenem Antrieb und vom Leben mit den anderen.

In Morris' Nirgendwo ist die häßliche Kettenbrücke an der Themse einer Brücke gewichen, wie er sie selbst wohl gern gebaut hätte, der Lärm und die rauchspeienden Schornsteine sowie die Rußschicht von den Gebäuden sind verschwunden, die Luft ist klar. Mit einem "einheimischen" Führer unternimmt er eine Reise mit der Kutsche und auf der in ihren natürlichen Zustand zurückversetzten Themse. Die Städte sind zurückgebaut, man zieht das Leben mit und auf dem Land vor. Die Eisenbahn ist verschwunden, Maschinen spielen eine untergeordnete Rolle, mit der Hand zu verrichtende Arbeiten werden hoch begehrt und nach Absprache ehrlich geteilt. Man geht freundschaftlich miteinander um, lebt ein Gemeinwesen und Arbeitszusammenhänge, die auf Absprachen beruhen. Not auf der einen und Habgier auf der anderen Seite sind gänzlich unbekannt. Die Frage nach Lohn und Gegenleistung stößt auf allgemeines Befremden, so komplett fehlen die Denkvoraussetzungen dafür.

Er nickte, drehte den Kahn mit einem scharfen Ruderstoß, und im Nu befanden wir uns wieder an der Bootlände. Er sprang hinaus, ich folgte ihm, und es wunderte mich keineswegs, als er stehen blieb, wie um das unvermeidliche Nachspiel zu erwarten, mit welchem jeder einem Mitbürger geleistete Dienst abzuschließen pflegt. Ich steckte auch sofort die Hand in meine Westentasche und fragte: »Wie viel?«, obwohl ich mich des unbehaglichen Gefühls nicht erwehren konnte, dass ich mein Geld vielleicht einem Gentleman anbot.
Mit erstaunter Miene fragte er zurück: »Wie viel? Ich verstehe nicht recht. Meinen Sie vielleicht die Flut? Sie muss bald um sein.« (S. 22) 

Da er sich als Besucher aus einem fernen Land vorstellt, beantwortet man ihm gern seine zahlreichen Fragen und übergeht freundlich seine Fehler. Der Kunstgriff des Autors, den "Gast" mit einem großväterlichen Historiker zusammenzubringen, ermöglicht es, eine Verständnisbrücke zwischen der Vergangenheit und der Zeit, in die er gefallen ist, zu schlagen und sich, ebenso wie die ideale Zukunft, auszumalen, welche blutigen Kämpfe und Einsichten nötig waren, um diese durchzusetzen. Hier diskutiert Morris sein Verständnis des viktorianischen Staates und seiner Profiteure - das Klassensystem, das aus seiner Sicht für niemanden ein erfolgreiches war - und wie in seiner Zukunft kontroverse Fragen behandelt werden: letztlich durch den guten Willen und eine Mehrheitsabstimmung aller direkt Betroffenen.

Auch wenn viele Frauen sich heute vielleicht dagegen zur Wehr setzen würden, als rundum erfüllte und glückliche Betreuerin des Hauswesens zu existieren, kann man nicht genug anerkennen, daß in Morris' Vision selbstverständlich ist, was bis heute nicht erreicht wurde: die vollkommene Gleichstellung der Haus-, respektive reproduktiven Arbeit mit der beruflichen. Und wenn man es genau nimmt, ist sogar diese Trennung aufgehoben. Der Wert der Arbeit liegt nicht in dem dafür erzielten Lohn, sondern in der eigenen Zufriedenheit und der Bedeutung für das Gemeinwesen. Problematisch wird es dort, wo Morris von einer Natur des Menschen oder natürlichen Anlagen ausgeht, mit denen vielleicht nicht jeder gern verwechselt werden möchte, also in diesem Falle einer bestimmten, im Urgrund aller Urgründe angelegten Weiblichkeit, um die Mann und Frau nicht herumkommen.

»Sehr schön«, sagte ich, »wie verhält sich's aber mit der Frauenfrage? Im Gästehaus bemerkte ich, dass die Frauen den Männern aufwarten. Schmeckt das nicht etwas nach Reaktion, he?«
»So?«, fragte der Alte entgegen. »Sie glauben am Ende, das Haushalten sei eine unwichtige Beschäftigung, die keine Achtung verdient, he? Das war ja wohl die Meinung der 'vorgeschrittenen' Frauen des neunzehnten Jahrhunderts und ihrer männlichen Helfershelfer. (S. 89) 

Natürlich wissen wir nun, wie es im 21. Jahrhundert aussieht und manche der Vorstellungen Morris' wirken anachronistisch, zumal er eigentlich, von seinem Jahrhundert ausgehend, in die Vergangenheit greift und einer eher ländlichen statt industriegeprägten Lebensweise den Vorzug gibt. Als Zeitdokument gelesen, offenbart das Buch noch einmal mehr als die Absichten des Autors, weil es authentische Hinweise auf Denken, Leben und Sehnsüchte jener Jahre liefert und gleichzeitig das Stadium einer Entwicklung beleuchtet, die auch heute noch voranschreitet:

Wenn der zivilisierte Weltmarkt ein Land begehrte, welches sich noch nicht in seinen Fängen befand, dann wurde irgendein offensichtlicher Vorwand gefunden - die Zerschlagung einer Sklaverei, die anders und nicht so grausam wie die des Kommerzes ist; die Verbreitung einer Religion, an die ihre Befürworter gar nicht mehr glauben; die 'Befreiung' eines Schurken oder gemeingefährlichen Verrückten, dessen Verbrechen ihn unter den Einheimischen dieser 'barbarischen Länder' in Schwierigkeiten gebracht haben - kurz, alles, womit man einem Land schaden kann. Dann fand sich ein dreister, gewissenloser, dummer Abenteurer (was in den Tagen des Wettkampfes nicht schwer war), und er wurde bestochen, einen 'Markt zu schaffen', indem er die traditionelle Gesellschaft des verurteilten Landes zerschlug, indem er alle Muße und alles Vergnügen, das er dort fand, zerstörte. Er zwang den Einheimischen Waren auf, die sie nicht wollten, und nahm ihnen im 'Austausch', wie diese Form der Ausbeutung genannt wurde, ihre Naturprodukte und 'schuf' dadurch 'neue Bedürfnisse', und um diese zu befriedigen (was bedeutet, um die Erlaubnis ihrer neuen Herrscher zu bekommen, leben zu dürfen), mussten sich diese glücklosen und hilflosen Menschen der hoffnungslosen Plackerei der Sklaverei verkaufen, um etwas zu haben, mit dem sie sich die Nichtigkeiten der Zivilisation erkaufen konnten. (S. 134-135) 

Morris, der das Glück hatte, sich in einem Kreis von Freunden und Gleichgesinnten weiterzuentwickeln, hat unter anderem aus seiner eigenen Freude an Architektur, Kunst und Handwerk, der Beschäftigung mit Legenden, dem Verfassen von Gedichten und fantastischen Erzählungen ein Gerechtigkeitsgespür entwickelt, das eine Unterscheidung von Menschen nach Klasse oder sonstigem gesellschaftlichen Stand nicht mehr zuließ. Es ist der Zwang des Eigentums, der für ihn das Grundübel darstellt, das alle anderen Probleme nach sich zieht. Schaffe das Privateigentum ab und damit die Tatsache, daß Menschen etwas genommen und vorenthalten wird, dann wird sich ein anderer Mensch entwickeln, ist seine These. Hier liegt für Morris der Schlüssel zur Vertreibung von Elend und Not aus der Welt. In seiner Vision ist dieses Problem gelöst. Dennoch wird, genau gelesen, aus dem Idyll eine recht kontroverse Angelegenheit. Nur fast hat man die Neigung - um ein Beispiel zu nennen -, dem Autor zu verzeihen, daß weidende Schafe bei ihm lediglich als romantischer Anblick vorkommen und der schlachtende Arm und die ganze damit einhergehende Auseinandersetzung fehlen. In diesem Buch ißt man gern, gut und sorglos - schon die biblische Paradies-Vorstellung geht da wesentlich weiter.

Es wird nicht nur einmal den Moment für den alles andere als konfliktscheuen Sozialisten Morris gegeben haben, an dem er nicht weiterwußte. Aus einem solchen heraus ist die "Kunde von Nirgendwo" entstanden. Hier erschreibt er sich die Welt, wie er ganz persönlich sie gerne hätte, und ist lange nicht der einzige - auch viele Abenteuerromane leben davon. Verallgemeinerbar und praktikabel sind diese Vorstellungen damit nicht. Es geht um einen Traum, wie er selbst einräumt, und ein Gedankenspiel zugleich, also die Möglichkeit, ohne Wahrheitsanspruch Fragen und Konzeptionen zu durchdenken, zu durchträumen. Zu wenig allerdings unternimmt er den Versuch, sich Menschen anzunähern, die aus ihrer Lebensmisere einen ganz anderen Ansatz entwickeln würden: ein Leben ganz ohne Arbeit vielleicht, eine vollautomatisierte Gesellschaft oder den Wunsch, die Zivilisation ganz zurückzulassen.

Dieses Buch ist kein Fahrplan für ein besseres Leben, es ist ein Traum, aus dem der Autor wieder in seine häßliche, notgetriebene Gegenwart erwacht. Dem Leser bleibt es überlassen, ob er sich angesichts einer Zukunft, vor der man vielleicht lieber Reißaus nehmen möchte, in eine Utopie vertieft oder einen anderen Kurs vorzieht.


Zur graphischen Ausführung vielleicht doch auch noch ein Wort: Dem Autor William Morris, der selbst mit einigen Gleichgesinnten nicht zuletzt auch in Fragen von Buchdruck und -gestaltung unterwegs war, hätte der Ausgangspunkt des Projektes, gemeinsam mit einer Gruppe von Kunststudenten eine Entwicklung und ein schönes Endprodukt anzustreben, gewiß gefallen. Und hier endet auch das Lob, denn leider paßt die Gestaltung insgesamt nicht zum Buch, sie zeugt nicht einmal von einem Bemühen, es dem Leser inhaltlich nahezubringen.

Der jeweilige Einband - ein für jedes Buch erkennbarer Grundton, kombiniert mit gestreuten Linien, Mustern oder wahlweise Schnörkeln - erinnert an farbenfrohes Geschenkpapier. Auf die Reihe gesehen entspricht das dem breiten Nenner, unter dem sie zusammengefaßt wurde. Schlägt man den jeweiligen Band auf, geht es ähnlich indifferent weiter: verschnittene Schwarz-weiß-Fotographien, Fragmente kombiniert mit Strichen, Mustern und angedeuteter Skizzierung. Den Text bereichert das graphisch-unbeholfene Stückwerk nicht. Das ganze wirkt kontraproduktiv und läuft Gefahr, sich über jene Künstler lustig zu machen, die diese Mittel als ernsthaftes Kunstelement im Sinne einer Aussage eingesetzt haben. Längst kann man diese Verfahrensweise nicht mehr als Protest gegen gesellschaftliche Mißstände und überkommene Vorgaben begreifen. Dem Leser wird es auf den Teller geworfen und er hat nur die Möglichkeit, es wieder auszukotzen. Natürlich dürfen das Studenten, die sich ausprobieren - vom Verlag hätte man das nicht erwartet.

Katharina Picandet, die verantwortliche Lektorin, im Deutschlandfunk zu dieser Frage:

Na ja, also, die sind natürlich auch nicht völlig unprofessionell. Und eine Gestalterin hat das dann zu ihrer Diplomarbeit gemacht, Nora Prinz, die das jetzt auch gestaltet. Da ist natürlich eine Professionalität da. Aber man kann es schon ... Also, die Illustrationen in den ersten beiden Büchern sind zum Beispiel absolut in Gemeinschaftsarbeit entstanden, also, es gibt nicht einen Illustrator oder eine Illustratorin. Und ich weiß jetzt nicht, ob man das dem Endobjekt so ansehen kann, aber sie sind halt so entstanden, in freiem Zuruf und freiem Austoben. [2] 


[1] Aus der Verlagsankündigung: "Verlockung, Verführung, Veränderung erfolgen durch die Form. Die Gestaltung der Reihe und der einzelnen Titel spiegeln die Freude am Denken und die Lust am Schenken: für LOHAS und Hedonisten, Genießer mit Gewissen, Salonanarchisten, Tempelhofgärtner, Zucotti-Touristen und coole Patentanten. Guerillamarketing für utopische Ideen, eine Samenbombe für einen utopischen Dschungel!"

[2] Lesart, Deutschlandradio Kultur, 24.12.2016
http://www.deutschlandradiokultur.de/edition-nautilus-je-schlimmer-die-realitaet-desto.1270.de.html?dram:article_id=374986



23. August 2017


William Morris
Kunde von Nirgendwo
mit einem Vorwort von Marcel Seehuber
Edition Nautilus, Hamburg 2016
Großformat, 288 Seiten, illustriert, 28,- Euro
ISBN 978-3-96054-020-5


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